New York, 1936
Endlich Amerika. Die Fähre von Ellis Island legte am Festland an. Ein frischer Herbstwind wehte, es duftete nach Laub, nach Blättern, die im Wind tanzten, nach Freiheit, Luise konnte diesen neuen Geruch nicht anders beschreiben. Sie fühlte sich übermütig. Mit ihrem Gepäck liefen sie über den Steg und betraten zum ersten Mal den Boden von New York. Was für ein Gefühl. Erleichterung, Anspannung, Neugierde auf alles, was jetzt kommen würde.
Luise und Elly blickten staunend nach oben, in den Himmel, in den die hohen Häuser ragten. Luise wurde angerempelt, eine Frau entschuldigte sich, eilte freudig zu einem Mann und schloss ihn in ihre Arme.
Erst jetzt ließ Luise ihren Blick über die Menschen schweifen. Und plötzlich entdeckte sie Richard. Das konnte doch nicht sein! Woher wusste er, dass sie heute ankamen? Neben ihm stand ein großer blonder Mann – George. Beide sahen sich suchend in der Menschenmenge der Ankommenden um.
»Richard!«, schrie sie aufgeregt, winkte, hüpfte hoch, um auf sich aufmerksam zu machen. »Elly, da ist Richard! Ich glaub es nicht, woher weiß er denn, dass wir jetzt ankommen?«
»Welcher ist es? Der große Attraktive?«
»Nein, der andere.«
»Ah, sieht auch sehr gut aus«, beeilte sich Elly zu sagen.
Luise nahm ihre Koffer hoch, eilte, so gut es damit und in dieser Menschenmenge ging, auf Richard zu, stellte die beiden Koffer ab und fiel ihm, ehe er sie erblickte, um den Hals.
»Luise!«, rief er freudig aus, drückte sie an sich, und sie roch seinen vertrauten Duft.
Zu Hause, durchfuhr es sie. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr losgelassen. Und er sie offenbar auch nicht. Aber dann besann er sich, löste sich von ihr und lächelte sie an. »Gut, dass ich auf George gehört habe.«
Sie sah ihn fragend an. Ihr Blick wanderte zu seinem Freund. Der lächelte warm und sympathisch.
»Hallo, ich bin George.« Er sprach Deutsch mit einem angenehmen amerikanischen Akzent.
»Ich bin Luise.«
»Dachte ich mir irgendwie.«
Sie lachte. Elly trat neben sie. »Und das ist Elly. Wir haben uns vor der Ausreise in Hamburg kennengelernt und uns angefreundet.«
»Hallo, Elly«, sagte George und lächelte auch sie an.
Richard räusperte sich. »Von wem wirst du abgeholt, Elly?«
Luise biss sich auf die Unterlippe. Wie unsensibel von ihm.
»Von niemandem«, antwortete Elly traurig.
»Wollen wir vielleicht erst mal alle zusammen einen Kaffee trinken gehen?«, schlug George in die darauffolgende Stille hinein vor.
Elly sah Luise fragend an, und die nickte sofort. »Das ist eine großartige Idee. Aber woher wusstet ihr, dass wir heute ankommen? Hat mein Brief dich noch erreicht, Richard? Ich konnte dir leider nicht telegrafieren.«
»Ja, gestern habe ich den Brief erhalten. So ganz genau wusste ich natürlich nicht, wann ihr ankommt. Wir dachten uns, dass es länger dauert auf Ellis Island. George meinte, die Fähren legen jeden Tag um diese Uhrzeit an, ich soll einfach immer herkommen. Und heute hatte er auch Zeit.«
Luise lächelte George dankend an.
»Wie war es in Berlin? Hast du alles auflösen können?«, erkundigte sich Richard. »Das Leben in New York ist teurer, als ich dachte. Hat das mit der Vollmacht mit meiner Bank geklappt?«
Luise sah ihn überrumpelt an. Sollte sie ihm hier am Pier alles über sein Bankkonto erzählen?
George schien ihre Gedanken zu erraten. »Lass die Damen doch erst mal ankommen. Es war sicher eine anstrengende und aufregende Reise.«
»Das war es«, bestätigte sie.
Richard zuckte mit den Schultern. »Ja, gut«, lenkte er ein, aber er wirkte etwas verschnupft.
George erzählte ihnen von einem guten Café, das ganz in der Nähe lag. »Der Kaffee in Deutschland oder Italien schmeckt besser, aber die Amerikaner werden es schon noch lernen mit der Zeit.«
»Hoffentlich, ich liebe guten Kaffee«, erwiderte Luise lächelnd.
»Ich auch«, pflichtete George ihr bei, und einen Moment lang sahen sie sich in die Augen.
»Komm, Luise«, hörte sie Richards Stimme.
»Gebt uns euer Gepäck.« George nahm Luises beide Koffer, ehe sie ablehnen konnte. Dabei berührten sich kurz ihre Hände. Da er jetzt ihr Gepäck trug, auch den Koffer von Richard, nahm Richard die Reisetasche von Elly.
Die Frauen folgten den Männern, besser gesagt, auch Richard folgte George. Der schien zu wissen, wo es langging, führte sie zielsicher durch die für Luise so fremden Straßen.
Das Café befand sich in einem alten Gebäude, ein leuchtendes Schild besagte, Manhattans Café and Restaurant. Durch eine dunkle Holztür mit Scheibenglas traten sie ein, es roch nach Frittierfett und Ketchup. Kaum hatten sie sich an einen der kleinen Holztische gesetzt, brachte ihnen eine kaugummikauende Bedienung mit Schürze die Karte und fragte etwas in unverständlichem Englisch.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Luise von Richard wissen.
Aber der zuckte nur mit den Schultern. »Sie reden hier so schnodderig, als ob sie gar nicht wollten, dass man sie versteht.«
»Unsinn«, widersprach George. »Das ist der amerikanische Akzent. Britisches Englisch ist etwas ganz anderes, aber das wusstet ihr ja sicherlich.«
Luise nickte schnell. Der Englischkurs, den sie vor ihrer Abreise besucht hatte, würde ihr hier offenbar nur bedingt weiterhelfen. Ihre Lehrerin war aus London gewesen.
»Ihr werdet euch schnell daran gewöhnen«, meinte George. »Wenn ihr es wollt.«
»Natürlich wollen wir das«, erwiderte Luise. »Nicht wahr, Elly?«
Ihre Freundin war die ganze Zeit sehr still gewesen. Sie nickte rasch. »Es ist alles so anders als zu Hause«, murmelte sie.
»Sei froh.« Luise stupste sie aufmunternd an.
»Wo wirst du eigentlich wohnen, Elly?«, erkundigte Richard sich plötzlich.
»Ich habe eine Adresse von einer jüdischen Gemeinde. Ich hoffe, dass man mir dort weiterhelfen kann«.
»Wenn nicht, versuche ich etwas zu arrangieren«, bot George an.
»Wirklich?«, entfuhr es Luise. »Das wäre so nett von dir.«
»Das ist ja wohl selbstverständlich.«
»Sonst kann Elly ja auch erst mal bei uns wohnen, nicht wahr, Richard?«, schlug sie vor. »Oder ist das in deinen Augen erst recht unschicklich?«
Er zögerte. »Ich habe jetzt eine kleine Wohnung für uns beide. Sie ist auf keinen Fall für drei geeignet. Ich habe sie selbst organisiert. Ohne Georges Hilfe«, setzte er stolz hinzu. »Ein ehemaliger Professor von mir hat sie mir vermittelt. Sie ist gerade so bezahlbar.«
»Wundervoll.« Luise lächelte ihn an. »Aber, Elly, wenn das bei der jüdischen Gemeinde nicht klappt und George nichts findet, kommst du zu uns, einverstanden? Auch wenn die Wohnung klein ist, ein Sofa gibt es bestimmt.«
»Gerne.« Elly lächelte dankbar.
»Wie wäre es, wenn wir jetzt Hamburger für alle bestellen?«, fragte George. »Ein echtes amerikanisches Willkommensessen. Ich lade euch ein.«
»Hamburger«, wiederholte Luise und lachte, »ein deutsches Wort. Und das an meinem ersten Tag in Amerika.«
»Yes!« Er grinste.
Und so aßen Luise und Elly ihren ersten echten American Burger, der nach Zwiebeln, Ketchup und Fleisch roch, und erzählten von der Überfahrt, von der aufregenden Zeit auf Ellis Island. Von der jüdischen Familie, die zurückgeschickt wurde.
»Und dann habe ich den Angestellten gefragt, ob er denn kein Herz hat«, erzählte Luise, »und hab da drauf gepocht.« Sie legte ihre Hand aufs Herz.
»Wow.« George sah sie gespannt an. »Hat es geholfen?«
»Leider nicht. Er hat mich dann ›unverschämt‹ genannt und mir gesagt, ich solle ruhig sein. Um ein Haar hätte er mich auch zurückgeschickt.«
Richard nahm unter dem Tisch ihre Hand und drückte sie sanft.
»Du bist wirklich was Besonderes«, stellte George beeindruckt fest.
»Sonst wäre ich nicht hier.«
»Das gefällt mir«, sagte er und blickte ihr in die Augen.
»George, musst du nicht zur Arbeit?«, mischte sich Richard ein.
»Oh yes, schon so spät.« Er setzte sich als Anwalt für benachteiligte Menschen ein, wie Luise erfahren hatte. Aus seiner Hemdtasche zog er eine Visitenkarte hervor und reichte sie Elly. Dann verabschiedete er sich von Richard und Luise. »Glückwunsch zu deiner Braut, mein Freund. Pass gut auf sie auf«, sagte er und klopfte Richard auf den Rücken.
»Danke. Mach ich.«
»Du findest den Weg von hier zu eurer Wohnung?«
Richard zögerte einen Moment. »Zur Canal Street, sicher, kein Problem«, antwortete er dann.
George nickte zufrieden, legte beim Aufstehen seine Hand auf Luises Rücken. »Bis bald, Luise. Ich freue mich, dass ihr jetzt hier seid. In Sicherheit.«
Sie dankte ihm, spürte, nachdem er gegangen war, immer noch die Wärme seiner Hand auf ihrem Rücken und ein wohliges Gefühl im Bauch.
*
Richard fand den Weg nicht. Er stellte zwar immer wieder seinen Koffer ab und sah auf einen Stadtplan, führte Luise aber ständig in die falsche Richtung. Die Geräusche der Stadt surrten in ihren Ohren. Was für ein Lärm! Autohupen, Verkehr, schreiende Händler. Hier schienen alle in Eile zu sein. Nur sie standen den Leuten immer wieder im Weg. Luise blickte staunend die Hochhäuser empor. So groß hatte sie sich diese nicht vorgestellt. Und es schien kompliziert zu sein, sich in dieser Stadt zurechtzufinden. Sie hatten Elly als Erstes zur Subway, der New Yorker U-Bahn, gebracht. Sie wollte ihnen keine weiteren Umstände machen und bestand darauf, alleine zur jüdischen Gemeinde zu fahren. »Ich komme bald bei euch vorbei, Luise. Versprochen. Danke noch mal für die Adresse und alles Gute.«
»Danke, dir auch. Und wehe, du kommst nicht.« Richard besaß keinen Telefonanschluss. Das war zu teuer. Sich zu treffen war die einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten.
Jetzt gingen Richard und Luise mit ihren Koffern an einem Hot-Dog-Stand vorbei. Ein dicker, glatzköpfiger Mann holte mit einer Zange ein labberiges Würstchen aus einem silbernen Warmhaltebehälter. Der Geruch von Würstchenwasser stieg Luise in die Nase.
»Wir sind wieder in die falsche Richtung gelaufen«, hörte sie Richard neben sich. Er klang gestresst, stellte den Koffer ein weiteres Mal ab, sah auf den Plan und drehte ihn.
»Gib mal her.« Sie nahm ihm den Stadtplan aus der Hand und studierte aufmerksam die Karte. »Das ist wie ein Gittersystem.«
»Ein Gittersystem?«
»Ja, alle Straßen, also die Streets, verlaufen waagerecht von Ost nach West und alle Avenues senkrecht vom Norden in den Süden.«
»Wie hast du das denn so schnell gesehen?«, wunderte er sich. »Aber es kann stimmen. George hatte so etwas erwähnt …«
»Ist ja kein Problem. Zeig mir doch mal, wo die Wohnung liegt.« Sie hielt ihm die Karte hin. Er deutete auf einen Punkt darauf, und Luise übernahm es, den Weg dorthin zu finden. Richard trug jetzt nicht nur seinen, sondern auch ihren Koffer und folgte ihr wortlos. Es ging durch mehrere Straßen, zweimal kamen sie an Obdachlosen vorbei. Der eine sah recht jung aus, hatte aber eine Wunde am Bein, und seine Kleidung war zerschlissen. Luise tat er sofort leid. Auch hier gab es Elend, natürlich.
Endlich kamen sie an dem Haus an, in dem Richard eine Wohnung angemietet hatte. Neugierig schaute sie nach oben. Es war zwar nicht so hoch wie viele andere Gebäude, sah aber ähnlich aus. Ein grauer mehrstöckiger Bau, mit Feuerleitern und kleinen Fenstern. Insgesamt wirkte es eher nüchtern und kühl.
Bevor sie jedoch durch die Eingangstür traten, zögerte Richard. »Luise, wenn dich jemand fragt, bist du meine Schwester, in Ordnung? Wir sind noch nicht verheiratet, das ist auch in Amerika ein Problem.«
»Probleme sind dafür da, gelöst zu werden. Dann heiraten wir eben morgen«, schlug sie übermütig vor.
»Wenn immer alles so einfach wäre. Hier ist nichts einfach.«
»Dann sagen wir eben, ich bin deine Frau, wenn einer im Hausflur fragen sollte. Es ist keine wirkliche Lüge, denn im Geiste bin ich das doch, oder nicht?«
Er blickte unwohl drein, nickte kaum merklich, stellte die Koffer kurz ab und schloss die Tür auf. Dann nahm er das Gepäck wieder und ging durch den dunklen Eingangsbereich und das steile Treppenhaus nach oben. An der Wand befanden sich einige Macken, vermutlich von Umzügen anderer Mieter.
Richard atmete schwer.
»Soll ich meinen Koffer wieder tragen?«, erkundigte sich Luise.
»Nein, nein, es geht schon.« Er hielt kurz inne, um zu verschnaufen. »Die Wohnung ist nicht riesig, aber du kannst dir nicht vorstellen, was eine Wohnung in Manhattan kostet«, erklärte er. »Die davor war noch teurer.«
»Wir brauchen ja nicht viel Platz«, beruhigte sie ihn.
»Genau, so viele Bücher wie zu Hause besitze ich ja noch nicht. Aber immerhin haben wir einen Kühlschrank, wie viele Amerikaner. Das ist hier so üblich.«
»Oh, das ist ja fortschrittlich.« Er ging weiter vor.
Sie kamen im dritten Stock an, in dem sich drei Wohnungstüren befanden. Richard ging zu der rechten Tür, die einen beigefarbenen Anstrich besaß, stellte die Koffer wieder ab und schloss auf. Sie traten in einen kleinen, dunklen Flur. Sofort schlug Luise ein muffiger Geruch entgegen, als hätte Richard seit Tagen nicht gelüftet. Er parkte das Gepäck im Flur, führte Luise herum.
Die Wohnung war wirklich nicht groß. Sie bestand aus einem winzigen Schlafzimmer, in dem nur eine Matratze mit einer zerwühlten Bettdecke auf dem Boden lag. Durch das Schlafzimmerfenster entdeckte Luise eine Leuchtreklame am Gebäude gegenüber. Weiter ging es zu einem Wohnraum, in dem sich eine Kochecke befand. Richard hatte überall Papiere und Bücher verteilt, gebrauchte Kaffeetassen standen auf einigen seiner Manuskripte, in der Spüle der Kochecke stapelten sich Geschirr und ein Topf. Sie verkniff sich, etwas zu sagen.
»Ich muss mal, wo ist denn das Bad?«, fragte sie stattdessen.
»Das Bad ist direkt neben der Wohnungstür.«
Sie musste es übersehen haben. Gespannt ging sie zurück in den Flur, öffnete die kleine, unscheinbare Tür und starrte entsetzt auf das verdreckte WC, das offenbar schon von den Vormietern nie richtig gereinigt worden war. Hier sollte sie wohnen? Sie kämpfte dagegen an, in Tränen auszubrechen. Das waren bestimmt nur die Nerven nach der langen Reise. Sie bemühte sich, möglichst wenig anzufassen, erleichterte sich und ging zurück in den Wohnraum.
»Schatz, ich muss noch arbeiten. Du kannst ja schon mal etwas sauber machen, damit du dich wohlfühlst«, meinte Richard leichthin, als sie eintrat.
Fassungslos sah sie ihn an. »Hast du etwa auf mich gewartet, damit ich das alles putze und aufräume?«
Richard zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Na ja, du bist doch eh bald meine Frau, und ich bin sehr beschäftigt.«
»Was?« Sie schluckte. Ein Kloß saß ihr im Hals. Dass er Arbeit hat, klingt ja schon mal gut, versuchte sie sich selbst zurückzuhalten. »Trotzdem. Ein bisschen schöner hättest du es ja machen können zu meinem Empfang.«
»Mein Gott, Luise, du bist doch keine Prinzessin, oder?«
»Nein. Ich bin mir nicht zu schade, mir die Hände schmutzig zu machen. Aber nicht einmal ein Blümchen … Du weißt doch, wie sehr ich Blumen liebe. Eine einzige hätte mir gereicht. Freust du dich überhaupt, dass ich da bin?«
Er sah sie wütend an. »So langsam nicht mehr«, entfuhr es ihm. »Kaum bist du hier, machst du alles madig. Wie schwer es war, diese Wohnung zu bekommen, honorierst du überhaupt nicht.«
»Doch. Aber du hast selbst gesagt, dass du sie ganz einfach über Kontakte bekommen hast. Du musst doch selber sehen, dass wir hier nicht lange bleiben können. Denk an deine schöne große, sonnige Wohnung mit den Stuckdecken in Berlin.«
»Ich denke jeden Tag daran«, erwiderte er bitter.
»Was für eine Arbeit hast du denn eigentlich? Ist sie gut bezahlt?« Noch immer riss sie sich sehr zusammen, wollte die Stimmung nicht verderben. Dabei war sie so wütend auf ihn, dass es in ihrem Magen zog.
»Bezahlt? Nein. Wie denn auch? Ich bin ja noch nicht lange hier und spreche kein Amerikanisch.«
Irritiert sah Luise ihn an. »Du bist seit Wochen hier. Und Englisch hast du doch zu Hause gelernt.«
»Luise! Bist du hergekommen, um mir Vorwürfe zu machen? Du hast ja keine Ahnung, wie es ist in dieser Fremde. Wenn Worte plötzlich nichts mehr sind. Deutsche Worte. Wenn dir die Ohren sausen bei einer fremden Sprache. Und das einem Wortliebhaber wie mir. Dieses amerikanische Englisch verstehe ich nicht, und deshalb kann ich es auch nicht lernen.«
»Das musst du aber. Sonst wirst du hier nie ankommen. Das haben sie mir vor meiner Ausreise gesagt. Und so schwer kann es ja nicht sein. Du bist so ein kluger Kopf. Wenn man etwas will, dann schafft man es auch.«
»Mir reicht es langsam. Ich will mich in Ruhe meinen Studien und Manuskripten widmen. Und dem politischen Widerstand gegen Hitler von der Fremde aus. Das hat für mich jetzt Priorität!«
»Das sollst du ja auch. Ich will das doch genauso. Aber wie werden wir die Miete bezahlen und unseren Lebensunterhalt bestreiten?«
»Erst mal von unserem Ersparten. Du hast doch Geld für das Restaurant, das können wir nehmen. Das mit dem eigenen Restaurant ist doch nur ein lächerlicher Traum.«
Luise wurde schwarz vor Augen. »Ein lächerlicher Traum?«, japste sie. »So siehst du das also. Hättest du mir das nicht vor meiner Abreise sagen können?« Ihre Stimme überschlug sich.
Jetzt merkte Richard offenbar, dass er es übertrieben hatte. Er trat zu ihr und schlang seine Arme um ihre Hüften. Luise wehrte ihn ab, aber sein Griff war kraftvoller, als seine schmächtige Gestalt vermuten ließ.
»Luise, jetzt beruhige dich bitte. Du bist entzückend, wie ein aufgescheuchtes Fohlen. Ich habe es nicht so gemeint.«
Immer noch zappelte sie in seinen Armen. »Ach ja, wie hast du es denn dann gemeint?«
»Wir müssen jetzt erst mal leben, überleben in diesem Land. Hast du die Obdachlosen gesehen? Das geht hier ganz schnell. Es schaffen nicht alle Emigranten. Und dann, irgendwann, wenn wir angekommen sind, dann können wir anfangen zu träumen. Verstehst du? Bitte, sei wieder lieb, ich habe mich doch so sehr nach dir gesehnt. Du riechst so gut.« Er beugte sich zu ihr, sie roch seinen vertrauten Atem, sein herbes Aftershave, spürte seine Lippen auf ihren. Ihr Unmut schwand. Wie sehr hatte sie Richard vermisst! Sie gab sich seinem Kuss, seinen Berührungen hin.
Wie so oft, wenn sie sich gestritten hatten, rissen sie sich die Kleider vom Leib, schliefen miteinander. Voller Leidenschaft, voller Ekstase, mehr noch als sonst. Und weil sie sich schon so lange nicht mehr gespürt hatten, schafften sie es nicht ins Schlafzimmer, liebten sich auf dem Boden, auf einem alten Teppich, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber jetzt in ihrer Lust war Luise das egal. Richard drang in sie ein, und Liebe und Sehnsucht durchströmten sie. Er war ihr erster Mann gewesen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es mit einem anderen besser sein könnte. Und als sie das dachte, als er sich stöhnend über ihr bewegte und ihre Lust immer größer wurde, musste sie plötzlich an George denken, an seine blonden Haare, sein Gesicht, seine großen, warmen Hände auf ihrem Rücken.
*
Am nächsten Morgen stand sie angezogen am Fenster und sah auf die hohen Gebäude gegenüber. Wolkenkratzer. Ein lustiges Wort. Sie kratzten tatsächlich an den Wolken. So richtig hatte sie nicht daran geglaubt, aber die Wirklichkeit hatte sie eines Besseren belehrt. Alle Häuser ihrer Straße waren so hoch, dass man nur ein kleines Stück Himmel von ihrer Wohnung aus sehen konnte. Einen grauen wolkigen Himmel. Es war Herbst, aber sie entdeckte weit und breit keinen Baum, keine Blätter, die auf dem Boden lagen. Sie wirbelte heruntergefallene Blätter mit den Füßen so gerne auf beim Gehen. Luise blickte nach unten auf die Straße. Dort wuselten hektisch zahllose Passanten umher, eilten geschäftig aneinander vorbei.
Richard schlief noch. Dabei war es schon später Vormittag. Sie war früh neben ihm aufgewacht, hatte ihn im Schlaf beobachtet, diesen Mann, den sie so sehr bewunderte seit ihrem ersten Tag an der Uni. Zunächst als seine Studentin, dann, was sie sich nie hätte erträumen können, so bald schon als seine Geliebte, Partnerin, Verlobte. Seine Wortkunst, sein philosophisches Wissen beeindruckten sie. Dass er ohne sie nach New York gereist war und sie mit all der Organisation in Berlin zurückgelassen hatte, wollte sie ihm verzeihen. Schließlich war sein Leben in Gefahr gewesen, mehr noch als ihres.
Luise holte einen Putzlappen und einen Eimer mit Wasser, wischte das dreckige Fenster, ein Schiebefenster. So vieles war anders. Der Herd, der das Bedienteil hinten und nicht vorne an der Front hatte, das Wasser aus dem Wasserhahn roch streng nach Chlor. Sie war schon den ganzen Morgen dabei, alles aufzuräumen, sauber zu machen. Sie hielt inne und dachte an den seltsamen Tag gestern. Ihr Wiedersehen hatte sie sich so anders vorgestellt. Aber immerhin hatte er sie vom Pier abgeholt. Dank George, dachte sie sofort. Richard selbst wäre nicht darauf gekommen, herauszufinden, wann die Fähre von Ellis Island täglich anlegte.
George. Er wirkte so viel offener und tatkräftiger als Richard. Luise atmete tief durch. Sie wollte jetzt nicht an George denken. Er war der Freund ihres zukünftigen Ehemannes, mehr nicht. Entschlossen warf sie den Putzlappen in den kleinen Eimer. Wasser spritzte auf. Sie sah erneut auf die Uhr. Schon kurz nach elf. Vorhin hatte sie versucht, Richard zu wecken, aber er hatte sie nur angebrummt, ihn schlafen zu lassen, schließlich habe er bis tief in die Nacht wichtige philosophische Artikel studiert.
Sie ging zur kleinen Kochecke, die sie bereits aufgeräumt und gesäubert hatte, und stellte einen Kessel Wasser auf den Herd, um sich einen Tee zu brühen.
Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich anschließend auf einen Küchenstuhl und wartete, blies Luft in den heißen Tee und lauschte dem Ticken der Uhr. Sie selbst war gestern nach ihrem Liebesakt rasch ins Bett gegangen und hatte gar nicht mitbekommen, dass Richard noch bis tief in die Nacht fleißig gewesen war. Sie nahm einen kleinen Schluck. Jetzt war sie also in ihrem neuen Leben angekommen. Was erwartete sie? Was konnte sie von hier aus für ihre Landsleute tun? Richard hatte bestimmt schon Kontakte zu Gesinnungsgenossen im Exil geknüpft. Sie wollte ihn unterstützen, auf jeden Fall. Dass er noch keine Arbeit gefunden hatte, bereitete ihr allerdings Sorgen. Ihr Geld würde nicht lange reichen. Die Ausreise hatte viel gekostet, die Wohnung war teuer, so einfach schien es also nicht zu werden. Die Lösung lag auf der Hand: Sie musste sich selbst nach Arbeit umsehen. Sie wollte unabhängig sein, ihren Teil zu ihrem gemeinsamen Leben beitragen. Und möglichst schnell ihr kleines Restaurant eröffnen. Auch wenn Richard nicht daran glaubte, sie tat es nach wie vor.
Verstrubbelt und müde betrat Richard schließlich um Viertel vor zwölf den Wohnraum. »Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen«, erwiderte sie lächelnd. »Möchtest du einen Tee mit mir trinken und frühstücken?«
»Nein, nein.« Er ging zur Spüle, nahm sich ein Glas, füllte es mit Wasser und trank. Dann stellte er es ab, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Ich habe keinen Hunger.«
»Viel ist auch nicht da. Aber wenn du mir sagst, wo ich einkaufen kann, gehe ich gerne los.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Brauchst du nicht. Ich habe wie gesagt keinen Hunger.«
»Aber ich«, entfuhr es ihr.
Er sah auf, nickte dann. »Ach ja.«
Ohne ein weiteres Wort ging er ins Schlafzimmer zurück. Was war nur mit ihm los? In Berlin hatte er nicht so geistesabwesend gewirkt. Luise stand auf und folgte ihm.
»Ist irgendwas, Richard?«, erkundigte sie sich.
»Nein, wieso?«
»Nur so«, lenkte sie ein. »Wo finde ich denn die nächste Einkaufsmöglichkeit?«
»Ein Bäcker. Ist nicht weit.«
Er beschrieb ihr den Weg, und sie gab sich Mühe, sich alles genau zu merken. Dann ging sie in den Flur und zog ihren Mantel an, trat dann erneut ins Schlafzimmer. Er hatte sich wieder auf die Matratze gelegt und starrte an die Decke.
»Was hast du heute noch vor?«, wollte sie wissen.
Richard drehte seinen Kopf zu ihr. »Ich bin immer noch so müde. Ich habe so viel gearbeitet heute Nacht.«
»Was hast du denn gelesen?«, fragte sie nach.
»Nichts, was für dich von Belang ist.«
»Es ist nicht für unsere Sache von Belang?«, wiederholte sie ungläubig.
Er schüttelte den Kopf. »So einfach ist es nicht, von hier aus etwas zu tun.«
Enttäuscht sah sie ihn an. »Das heißt, du hast noch keine Gleichgesinnten getroffen?«
»Nein, habe ich nicht.« Mit diesen Worten drehte er ihr den Rücken zu.
So melancholisch hatte sie ihn noch nie gesehen. Fehlte ihm die Heimat so sehr? Gut, dass sie jetzt da war und sich um ihn kümmern konnte. Ein herzhaftes Frühstück, Kaffee, und die Welt würde schon besser aussehen.
Entschlossen nahm sie den Schlüssel von einem kleinen Haken im Flur, verließ die Wohnung und lief das dunkle Treppenhaus hinunter. Als sie auf den Gehweg trat, schlugen ihr sofort Gehupe und der Lärm der Großstadt entgegen. Passanten kreuzten ihren Weg, und Luise musste sich erst einmal orientieren. Zu ihrer Linken musste die Bakery sein, so hatte Richard es beschrieben. Sie ging die Straße hinunter. Falls er sich geirrt hatte, würde sie sich zur Not eben durchfragen.
Die Abgase drangen in ihre Nase. Die Luft in Berlin war deutlich besser gewesen, zumindest in ihrem Kiez. Hier sah alles so anders aus. Keine Gründerzeitbauten, keine Bäume, keine breiten Fußwege. Stattdessen nüchterne Gebäude, kein einziger Strauch, schmale Wege und breite Straßen. Anders muss nicht schlechter sein, sagte sie sich und ging weiter den beschriebenen Weg entlang. Neugierig sah sie sich dabei um und entdeckte an einer Reinigung und einem Friseurladen weitere Leuchtreklamen.
Nach wenigen Minuten fand sie die Bakery, trat ein und stellte fest, dass es weder Streuselkuchen noch typisch deutsches Brot gab, sondern ausschließlich Weißbrot und verschiedenes Gebäck mit Zuckerguss darauf.
Sie versuchte, sich in ihrem einfachen Englisch verständlich zu machen. Die korpulente schwarze Verkäuferin lachte freundlich. Luise lachte mit.
Mit Händen und Füßen schaffte sie es, der Verkäuferin mitzuteilen, dass sie nur das halbe Weißbrot wolle. Sie hatte die Preise gesehen, und solange sie keine Jobs hatten, mussten sie sparen.
»Thank you«, verabschiedete sie sich und ging gut gelaunt zur Tür.
»See you, Miss«, sagte die Verkäuferin fröhlich.
Stolz trat Luise den Rückweg an.
In der Wohnung angekommen, stellte sie fest, dass Richard schon wieder schlief. Sie bereitete ein Frühstück zu, etwas Käse und Butter waren noch im Kühlschrank. Sie brühte Kaffee auf und ging dann zu Richard, um ihn wach zu küssen. »Mein Schatz, ich habe dir Frühstück gemacht.«
Er blinzelte, schlug die Augen auf und sah sie irritiert an. »Ich habe doch keinen Hunger.«
»Immer noch nicht? Es ist schon weit nach Mittag.«
Seufzend rappelte er sich hoch. »Du gibst ja eh keine Ruhe.«
»Ich kümmere mich nur um dich.«
»Das ist gut«, erwiderte er, umschlang sie und hielt sie fest wie ein Ertrinkender.
»Schsch, was hast du denn?«, flüsterte sie.
Er lockerte seine Umarmung und stand auf. Sein kleiner Gefühlsausbruch schien ihm unangenehm zu sein. »Nichts, ich habe dich eben vermisst.«
»Jetzt bin ich ja da, jetzt wird alles gut.«