New York, Dezember, 1936
Die Wochen vergingen, der kalte Ostwind wurde immer eisiger. In den Läden stand Weihnachtsdekoration, die Stadt sah geschmückt wunderschön aus, überall funkelten weihnachtliche Lichter.
Richard saß nach wie vor abends bis tief in die Nacht über seinen Papieren, wollte Luise aber nicht daran teilhaben lassen, schlief morgens immer lange und verließ kaum die Wohnung. Auf ihre wiederholte Nachfrage, wo er sich beworben habe, hier gebe es doch auch Universitäten, wurde er jedes Mal unwirsch. »Wie soll ich mich denn da bewerben, wenn ich dieses amerikanische Englisch nicht richtig verstehe und nicht gut genug spreche?«
»Aber genau deshalb musst du doch unter Menschen. Wie willst du denn sonst die Sprache lernen?«
Ihr selbst taten die regelmäßigen Ausflüge zur Bakery oder in den Supermarket sehr gut. Jedes Mal lernte sie ein neues Wort. Lieber wäre sie mit Richard hinausgegangen, um die Stadt kennenzulernen, aber der war entweder zu müde oder erklärte, etwas Wichtiges lesen zu müssen. Er müsse auf dem neuesten Stand der Wissenschaften bleiben und die politischen Geschehnisse in Deutschland verfolgen.
Auch Luise tat das. Sie brachte aus der Bakery immer eine amerikanische Zeitung vom Vortag mit. Die freundliche Verkäuferin schenkte sie ihr. Außerdem hatte sie ein englisches Buch in einem Antiquariat erworben. Von Jane Austen, »Pride and Prejudice«. Es war sehr günstig gewesen. Sie las immer wieder darin, um die Sprache besser zu lernen, aber auch, weil es sie faszinierte. Das Lesen gestaltete sich sehr mühsam, aber die letzten zwei Monate hatte sie schon Fortschritte gemacht. Dennoch wurde ihr immer klarer, dass sie ihr gemeinsames Leben in die Hand nehmen musste, um hier nicht unterzugehen. Dass sie sich schleunigst einen Job suchen musste, um die Miete und ihre Lebensmittel zu bezahlen. Lange würden ihre Ersparnisse nicht mehr reichen. Und an das Geld für das Restaurant würde sie auf keinen Fall gehen. Niemals.
Von Elly hatte sie noch nichts gehört. So oft dachte sie an ihre Freundin, hoffte so sehr, dass sie sich in dieser Fremde allein zurechtfand.
Eines Tages hatte Luise Schal und Mantel angezogen und sich zu einer jüdischen Gemeinde in Manhattan durchgefragt. Von einer netten Frau dort hatte sie erfahren, dass seit der großen Auswandererwelle im Jahr 1880 inzwischen um die 1,5 Millionen Juden nach New York gekommen seien. »So viele?«, hatte Luise verblüfft erwidert.
Die Frau kannte keine Elly. Es wäre ja auch großer Zufall gewesen. Aber sie beruhigte Luise und bekräftigte, dass Elly doch sicher von sich hören lassen werde, wenn sie ihre Adresse habe. Traurig war Luise zurückgegangen. Hatte sie diese Freundin jetzt auch noch verloren? Ihr blieb nur zu hoffen, dass Elly sich endlich bei ihr meldete. Der kalte Wind zog ihr ins Genick.
Umso glücklicher war sie, als Elly eine Woche vor Weihnachten völlig unerwartet vor ihrer Tür stand. Sie sah blass aus, trug einen dicken Schal und eine Wollmütze, sie zitterte vor Kälte.
»Luise! Endlich!« Sie fielen einander in die Arme.
»Elly! Wie schön, dich endlich zu sehen! Wie geht es dir?« Erst jetzt bemerkte sie, dass George hinter Elly stand. Ihr Magen kribbelte sofort.
»Gut geht es mir«, flüsterte Elly an ihrer Schulter. Aber es klang nicht ganz aufrichtig. Luise löste sich von ihrer Freundin, sah sie kurz besorgt an, doch jetzt war keine Zeit, nachzufragen. Sie begrüßte George mit einer spontanen Umarmung. Wie gut er roch. Nach Leder und Vanille. »Wie schön, dass ihr beide da seid! Kommt doch rein.«
»Gerne«, antwortete er lächelnd, musterte sie neugierig. »Du siehst gut aus. New York scheint dir zu bekommen.«
»Danke. Dafür bekommt es Richard aber nicht«, rutschte ihr heraus.
Sie standen jetzt im Flur. Richard schlief noch wie jeden Tag um diese Uhrzeit.
»Wirklich?«, fragte George besorgt und fügte leiser hinzu: »Ist er immer noch so in sich zurückgezogen? In Berlin war er ganz anders. Ich dachte, das gibt sich, wenn du da bist.«
»Leider nicht. Ja, in Berlin war er anders. Hier schläft er immer bis mittags«, gab Luise zu. »Ich wecke ihn gleich. Kommt doch schon mal mit ins Wohnzimmer.« Sie führte die beiden in ihre bescheidene Stube. »Wollt ihr einen Kaffee oder Tee?«
Elly sah sich schüchtern um. »Gerne einen Kaffee, wenn du hast.«
»Für mich nichts.« George nahm auf dem Sofa Platz, nachdem Luise ihn darum gebeten hatte.
Sie setzte rasch Wasser auf und ging dann zu Richard ins Schlafzimmer. »Richard, wach auf, wir haben Besuch«, sagte sie sanft. »Elly und George sind da.«
»George?«
»Und Elly.«
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, hättest du ihnen nicht sagen können, sie sollen später wiederkommen? Oder noch besser in einem Café warten?«
»Es ist schon spät«, erwiderte sie ungehalten. »Stehst du auf?« Es klang nicht wie eine Frage. Eher wie ein mütterlicher Befehl, das merkte sie selbst. Dann ging sie wieder hinaus zu den anderen.
»Und wie ist es dir ergangen, Elly?«, erkundigte sie sich.
»Wirklich gut!« Ihre Freundin lächelte. »Die Gemeinde kümmert sich ganz wundervoll um mich. Ich bin bei einer sehr freundlichen jüdischen Familie untergebracht, wo ich mich wohlfühle.«
»Wie schön.« Luise wurde das Gefühl nicht los, dass es Elly nicht ganz so gut ging, wie sie behauptete.
»Ich wollte dich schon längst besuchen, Luise, aber ich hatte den Zettel mit der Adresse verloren und war schon ganz verzweifelt. Dann ist mir aber zum Glück eingefallen, dass ich ja Georges Telefonnummer habe, und er hat mich hierhergeführt. Vielen Dank noch mal«, sagte sie zu ihm.
»Kein Problem.« George wandte sich an Luise, die dabei war, den Kaffee aufzugießen. »Was ist mit Richard?«
»Nichts. Ich meine, ich weiß es nicht. Ich glaube, er vermisst die Heimat. Aber tun wir das nicht alle?«
In diesem Augenblick kam Richard herein. Müde, abgeschlagen.
»Guten Tag«, gab er sich bemüht charmant, reichte Elly die Hand, klopfte George kurz auf die Schulter.
»Ich habe gerade viel zu tun«, erklärte er. »Habe heute Nacht lange über Ideen gebrütet, was man gegen die Nazis schreiben kann. Sodass es wirklich etwas bewirkt.«
»Sehr gut«, fand George. »Heißt das, ich kann dich heute überreden, mit mir zu lunchen?«
»Nein«, erwiderte Richard sofort. »Ich muss erst meine Gedanken abschließen.«
»Mhmh. Und wo planst du, deine Schriften zu veröffentlichen?«, erkundigte sich George.
Richard zögerte, runzelte die Stirn, überlegte, setzte sich auf einen freien Küchenstuhl. »Das weiß ich doch nicht«, entfuhr es ihm sichtlich genervt. »Ich kenne mich ja hier nicht aus. Verstehe so gut wie nichts, wie soll man sich denn da entfalten können?«
Luise und George warfen sich einen kurzen Blick zu. Elly starrte auf die Tischoberfläche. Auch sie sah plötzlich bedrückt aus. Eine unangenehme Stille lag im Raum.
Luise nahm die Kanne, goss Elly, Richard und sich Kaffee ein. »Du möchtest wirklich keinen?«, erkundigte sie sich bei George.
»Doch, einen echten deutschen Kaffee darf ich mir nicht entgehen lassen. Danke, Luise.«
»Ich vermisse meine Heimat auch«, brach es aus Elly heraus.
»Das kann ich mir gut vorstellen«, entgegnete George.
»Das heißt nicht, dass ich nicht froh bin, in Sicherheit zu sein. Ich bin dankbar.«
»Ich weiß.« Luise legte die Hand auf ihre. »Es ist für uns alle nicht leicht.« Sie setzte sich zu der Runde, und alle tranken schweigend ihren Kaffee. Durch die Fenster drang dumpf der Lärm der Großstadt. »Aber wir kriegen das hin«, erklärte Luise nach einer Pause fest. »New York ist eine spannende Stadt. Unser Viertel kenne ich schon ganz gut. Vor dem Einkaufen erkunde ich oft neue Straßen, aber ich gehe nie zu weit weg von der Wohnung.«
»Wieso nicht?«, fragte George.
»Richard hat mir eingeschärft, dass ich das alleine als Frau nicht tun soll, das sei zu gefährlich.«
»Ist es ja auch«, bestätigte Richard. »Überall lungern diese dunklen Gestalten herum. Ich habe gehört, wenn man in eine falsche Straße abbiegt, kann man sofort gelyncht werden.«
»Sofort gelyncht nun auch wieder nicht, aber es gibt Straßen, die man meiden sollte«, verbesserte George. »Wie überall auf der Welt.«
»In Berlin war das früher nicht so«, entgegnete Richard.
»Jedenfalls bin ich sehr dankbar, hier sein zu dürfen«, beeilte sich Luise zu sagen. »Und in Berlin ist es jetzt ja leider auch überhaupt nicht mehr sicher. Was meint ihr, wie lange sich Hitler noch an der Macht hält?«
Sie sah, wie sich George und Richard jetzt anblickten. Sie glaubten nicht daran, dass es bald vorbei sei. Luise, wenn sie ehrlich war, auch nicht. Was musste geschehen, um diesen Irren aufzuhalten? Zu viele hatte er schon mit seiner Propaganda indoktriniert. Gut, dass Richard weitere Schriften plante. Sich nicht aufhalten ließ. Sie würde sich auch nicht aufhalten lassen. Bisher hatte er sie nicht an seinen Gedanken teilhaben lassen, ganz anders als in Berlin. Wahrscheinlich musste sie ihm einfach Zeit geben. Sie hatte bereits angefangen, hin und wieder vor dem Schlafengehen nicht nur ihre Gedanken und Erlebnisse in ihr Notizbuch zu schreiben, sondern auch selbst Texte für Flugblätter zu verfassen. Aber bisher hatte Richard keinen ihrer Texte lesen wollen. Und sie wusste auch nicht, wie sie ihre Flugblätter nach Deutschland bringen sollte.
George nahm einen letzten Schluck Kaffee und räusperte sich. »Richard, sobald du Texte fertig hast, melde dich, dann finde ich Wege, sie zu verbreiten. Ich hatte die letzten Monate sehr viel zu tun, sonst hätte ich mich schon gemeldet.«
Richard nickte. »Ich muss noch an den Texten feilen. Die Worte, sie fließen im Moment noch nicht.«
»Das tun sie bald wieder«, sagte Luise sofort. Sie ertrug es nicht, ihren sonst so vor Inspiration sprudelnden Richard hier mit hängenden Schultern und blassen Wangen sitzen zu sehen. Ähnlich saß Elly jetzt da. Ihre Freude vorhin war offenbar wirklich nur gespielt gewesen.
George warf Luise einen aufmunternden Blick zu. »Was macht ihr Weihnachten und Silvester?«
Sie sah Richard an, der schüttelte schnell den Kopf. Sie hatten schon darüber gesprochen, er wollte mit ihr allein zu Hause feiern. Auf keinen Fall unter Menschen gehen. Sie hatten sich deswegen gestritten.
»Nichts«, sagte Richard jetzt rasch. »Wir zwei wollen alleine sein. Weihnachten und Silvester.«
Luise biss sich auf die Unterlippe. So gerne hätte sie mit George und Elly gefeiert. Sie setzte an, etwas zu sagen, aber da erwiderte George schon: »Na dann, ich feiere mit meiner Großmutter.«
Luise wandte sich an Elly. »Hast du an Weihnachten etwas geplant?« Sie hoffte, sie würde verneinen, dann würde sie ihre Freundin einfach einladen.
Doch Elly nickte. »Chanukka fällt genau auf Weihnachten dieses Jahr. Wir feiern in der jüdischen Gemeinde.«
»Wie schön.« Luise freute sich für sie, aber die Aussicht, nur zu zweit zu feiern, gefiel ihr nach wie vor gar nicht.
»Ich passe immer auf den Hund meiner Gastfamilie auf«, fuhr Elly fort. »Es ist ein Schoßhund, ein Zwergpudel, er ist sehr niedlich.«
»Ach, das ist ja nett.« Luise lächelte sie aufmunternd an.
»Ich bekomme sogar ein kleines Taschengeld«, erklärte ihre Freundin zufrieden.
Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter, bis George und Elly sich bald darauf verabschiedeten, und George versprach, im neuen Jahr wieder vorbeizukommen. Elly gab ihr die Adresse der jüdischen Familie, und sie versprachen einander, sich bald wiederzusehen.
Luise begleitete die beiden zur Tür, verabschiedete Elly mit einer Umarmung, umarmte auch George. Wie groß und stattlich er sich anfühlte.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, lehnte sie sich einen Moment dagegen. Früher war Richard geselliger gewesen, so wie sie. Traurig sah sie vor sich hin. Der dunkle, enge Flur gab ihr erst recht das Gefühl, jemand schnüre ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich einsam, und das erste Mal in ihrem Leben freute sie sich nicht auf Weihnachten und Silvester.