KAPITEL 11

New York, Washington Heights, 2023

June wurde von der sanften klassischen Melodie ihres Handyweckers geweckt. Mozart, »Eine kleine Nachtmusik«. Sie liebte Mozart. Tief und fest hatte sie geschlafen und sehr lange. Es war bereits elf Uhr, aber sie hatte den Schlaf dringend gebraucht.

June räkelte sich, sah sich im Gästezimmer ihrer Großmutter um. Dieses Haus verströmte ein wohliges Gefühl, gab Geborgenheit, ließ sie besser schlafen als in Berlin die letzten Wochen vor ihrem Abflug. So viele schlaflose Nächte, diese Unruhe, die vielen Gedanken über ihren Job, Anton, ihr Leben. Sie setzte sich auf. Sie wollte mehr wissen über ihre Großmutter, nicht nur wegen des Erbes.

Das Treffen mit Hendrik war in eineinhalb Stunden. Vielleicht konnte er ihr mehr erzählen. Dieser sympathisch wirkende Kerl. Er war genau ihr Typ. Groß, blond, sportlich und dieses nette Lächeln. Wie idiotisch. Er hatte ganz sicher kein Interesse an ihr als Frau. Sie dachte daran, dass sie sich vom Aussehen so George vorstellte. Er war auch blond, sportlich und sehr sympathisch, zumindest laut den Notizbucheinträgen ihrer Großmutter.

Sie ging lächelnd ins Bad, zog ihr Schlaf-T-Shirt aus. In New York gab es perfektere Frauen, die Hendrik sicher haben konnte, falls er noch Single war. Oder war er schwul?

Wie auch immer, sie war in festen Händen.

Sie stieg unter die Dusche, atmete den Duft der Mandel-Duschlotion ein. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, ging sie nackt ins Gästezimmer. Sie sah auf ihr Handy, ob eine Nachricht von Anton gekommen war, aber er hatte sich nicht gemeldet. Sollte sie ihn anrufen? Diese Stille zwischen ihnen gefiel ihr nicht. Und später würde sie keine Zeit zum Telefonieren haben. Nicht in Hendriks Anwesenheit.

Rasch zog sie sich an, entschied sich für ein rotes sommerliches Kleid, dazu gelbe Sandalen. Eine Kombination, die Anton nicht gefiel, ihr selbst aber, und darauf kam es an. Sie nahm ihr Handy, suchte Antons Nummer aus den Kontakten und drückte auf Anrufen. Es läutete ein paarmal, und endlich ging er ran.

»Hey, Schatz. Wie geht es dir?«, fragte er. Doch es klang wie eine Floskel, abgelenkt.

»Hey, Anton. Gut, und dir?«

»Alles gut. Hast du die anderen Erben gefunden?«

»Wie stellst du dir das vor? Das kann dauern. Erst mal konzentriere ich mich auf Großmutters Freundin Maria. Weißt du, wie schwierig es ist, etwas über den Verbleib einer jüdischen Familie im Zweiten Weltkrieg herauszufinden? Diese Anni zu finden wird, glaube ich, noch schwieriger. Sie war mit einem aus der Gestapo zusammen. Ich habe zwar ihren Nachnamen von den Briefumschlägen, aber das hat mir bisher auch nicht weitergeholfen.«

Er seufzte. »Klingt schwierig. Du kannst aber nicht ewig in New York bleiben«, entgegnete er.

»Ich weiß. Ich finde sie schon.« Sie sah hinaus in den blühenden Garten, während Anton schwieg. Im Hintergrund hörte sie das Durchlaufen der Kaffeemaschine, wartete einen Moment.

»Also, was hast du vor, um diese jüdische Familie zu finden?«, hakte er nach.

»Ich weiß von Maria, dass sie mit ihrem Ehemann, Jakob Kirschbaum, eine Buchhandlung in Berlin hatte. Ich habe gestern Nacht noch zum Buchhandel im Zweiten Weltkrieg recherchiert. Hochinteressant. Denn 1938 wurde es jüdischen Buchhändlern untersagt, ihren Laden weiterzuführen. Die Repressalien fingen natürlich schon viel früher an, aber es gab noch ein paar, die bis dahin weitermachen konnten.«

»Aha«, erwiderte er nur geistesabwesend. »Klingt gut. Dann gib Gas, um sie zu finden.« Sie hörte den Kühlschrank zuklappen. »Und dann verkauft ihr das Haus in Washington Heights, und wir haben eine gute Anzahlung für unseres.« Er hustete.

June hielt den Hörer etwas vom Ohr weg. »Hast du dich erkältet?«

»Nein, nein.«

»Kannst du mir einen Gefallen tun? Es gibt ein jüdisches Adressbuch von 1931. Das habe ich mir heruntergeladen und Jakob Kirschbaum und seine Adresse gefunden. Könntest du mal dort vorbeigehen und die Nachbarn fragen, ob sie etwas über den Verbleib der Familie wissen?«

»June, ich habe viel zu tun. Und etwas erkältet habe ich mich schon.«

»Verstehe.« Sie war auf sich allein gestellt. Ihre Suche interessierte ihn nicht.

»Was soll denn das auch bringen? Da wohnt doch kein Nachbar mehr von damals.«

»Natürlich nicht, aber vielleicht Nachfahren, die etwas darüber gehört haben.« Sie wusste selbst, dass es sehr unwahrscheinlich war.

»Kannst du nicht online recherchieren?«, fragte er nach. »Zur Not geh ich hin, aber nur, wenn du dir wirklich etwas davon versprichst.«

»Nein, nein.« Sie hatte eine Idee. Erinnerte sich an die Stolpersteine in Berlin, diese kleinen quadratischen Steine, die vor Wohnhäusern in die Gehwege eingelassen worden waren, um an Menschen zu erinnern, die dort zuletzt gelebt hatten und zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Meist standen Namen, Daten und ihr Schicksal auf einer Messingplatte eingraviert. June hatten diese Steine berührt. Es war ein Projekt eines Künstlers, um die Erinnerung wachzuhalten.

»Anton? Ich muss los. Bis dann«, sagte sie, hörte ihn »Tschüss« nuscheln, dann legte sie auf. Wann waren sie wie Bruder und Schwester geworden?

Einen Moment überlegte sie, ihn noch mal anzurufen und darauf zu bestehen, dass er an der alten Adresse der Kirschbaums nach einem Stolperstein suchte. Aber zuerst wollte sie sehen, ob sie dies nicht im Internet recherchieren konnte. So viel Zeit hatte sie noch.

Sie nahm ihren Laptop von der Kommode, ging damit in die Wohnküche und legte ihn auf den Küchentisch. Dann bereitete sie sich einen Kaffee zu, ehe sie sich aufgeregt mit der Tasse an den Tisch setzte. Der Kaffeeduft erfüllte den Raum, und sie schlürfte geistesabwesend den ersten Schluck, während sie das Internet durchforstete.

Tatsächlich entdeckte sie eine tolle Homepage. Stolpersteine-berlin.de. Dort konnte man online auf einer Karte alle Stolpersteine finden, auch deren Beschriftung und zusätzliche Informationen, sofern es welche gab. Außerdem konnte man gezielt nach Namen, Straßen und den Ortsteilen suchen. Sie gab den Namen Kirschbaum ein und die Straße, die sie durch das Adressverzeichnis herausgefunden hatte. Aber es existierte kein Stolperstein für Maria und Jakob Kirschbaum.

June nippte wieder an ihrem Kaffee, fand einen Rechercheleitfaden auf der Homepage. Bei den FAQs stand sogar: Ich möchte nach verfolgten jüdischen Menschen in Berlin suchen, wie gehe ich vor? Volltreffer.

Sie las, dass die Suche nach jüdischen Verfolgten noch die einfachste sei, da detaillierte Recherchemöglichkeiten bestünden. Die Suche nach Anni würde also wirklich schwieriger werden. Sie galt nicht als Jüdin, zumindest nicht nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935, soviel June recherchiert hatte, denn dann hätte sie mindestens drei jüdische Großeltern haben müssen.

Es war alles so kompliziert. June wollte sich jetzt erst mal auf Marias Verbleib konzentrieren. Das jüdische Adressbuch wurde auch hier als Referenz genannt. Sie freute sich, dass sie mit dieser Idee auf dem richtigen Weg gewesen war. Mehrere weitere Online-Recherchemöglichkeiten wurden aufgelistet. Das Landesarchiv Berlin, Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin, ein Arolsen Archiv, zig andere Archive. Es gab sehr viel zu tun. Und einige Hoffnungsschimmer. Nur würde das sehr viel Zeit kosten. Erst einmal musste sie los zu ihrer Verabredung mit Hendrik.

Sie fuhr den Computer herunter, trank den restlichen Kaffee aus, dann stellte sie die Tasse in die Spülmaschine und brachte den Laptop zurück ins Gästezimmer. Kurz hielt sie inne. Wie schade, dass sie das Haus bald verkaufen musste, um es mit den anderen Erben zu teilen. Aber so war es nun mal, auszahlen konnte sie diese auf keinen Fall.

Natürlich wollte sie den letzten Willen ihrer Großmutter respektieren und darüber hinaus herausfinden, warum sie nie mit ihr über ihre Vergangenheit geredet hatte. June musste zugeben, dass sie das verletzte. Luise war für sie wie eine Mutter gewesen. Sie hatten ein so herzliches, offenes Verhältnis gehabt. Zumindest hatte sie das angenommen, ehe sie erfuhr, dass ihre Großmutter eine Menge gut gehüteter Geheimnisse besaß.

Sie ging noch mal ins Bad, putzte sich die Zähne, legte Lippenstift auf und betrachtete sich im Spiegel. Ein wenig sah sie ihrer Großmutter ähnlich. Hatte sie auch ihren Mut geerbt?

Schon um die Mittagszeit war das Taste of Freedom gut besucht. June stellte sich in die kurze Warteschlange, roch das teure Parfum der Dame vor sich. Sie war merkwürdig aufgeregt.

Eine junge, attraktive Kellnerin mit tätowierten Armen begrüßte sie, und als June erklärte, ein Gast von Hendrik, dem Chefkoch, zu sein, nickte diese sofort und lächelte sie vielsagend an. Oder hatte sie sich getäuscht?

Sie wurde an den kleinen Tisch von gestern geführt, bedankte sich bei der Kellnerin und setzte sich. Hieß das, Hendrik lud öfter Frauen hierher ein? War er dieser Typ Mann? June wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Schließlich war sie mit Anton zusammen, auch wenn sie gerade ein Beziehungstief durchschritten. Sie sollte sich wohl besser jegliche Gedanken dieser Art sparen, um ihr Leben nicht noch komplizierter zu machen.

Der Duft von Vanille wehte ihr aus der Küche entgegen. Sie konzentrierte sich darauf und fragte sich, was sie wohl als Nachtisch erwartete. Die Bedienung brachte ihr das Tagesmenü, von Hand in schön geschwungener Schrift geschrieben. June las fasziniert:

Vorspeise: gesprossener Brokkoli, Freilandei & Kartoffelschaum

Hauptgang: dänischer Kabeljau, Spinat & würziger Mais

Nachspeise: Berliner Apfelkuchen mit Vanillesoße.

Und es gab Brunch nach Art des Hauses.

Als sie aufschaute, bemerkte sie, dass Hendrik neben ihr stand. Diesmal ohne Schürze, in Lederjacke. Er strahlte sie an, breitete einladend die Arme aus, als ob sie sich schon länger kannten. Verblüfft stand sie auf, umarmte ihn zur Begrüßung. Er duftete nach Leder, Basilikum und Aftershave. Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück und lächelte ihn an. Er war einen ganzen Kopf größer als sie. »Schön, dass es geklappt hat.«

»Finde ich auch.« Seine dunkle Stimme verursachte ein Kribbeln in ihrem Nacken. Was war nur los mit ihr?

Sie erinnerte sich an die Erzählung aus Luises Notizbuch. Darin hatte ihre Großmutter beschrieben, wie sie George zum ersten Mal gesehen hatte. Auch er hatte sofort etwas in ihr ausgelöst. Eigentlich war June bisher immer der Überzeugung gewesen, dass es diese Art Gefühle auf den ersten Blick nicht gab. Zumindest kannte sie es nicht. Man musste einen Menschen doch wenigstens etwas kennenlernen, um mehr für ihn zu empfinden. Aber diese Erfahrung schien sich gerade in Luft aufzulösen. Ihr Herz flatterte, sie fühlte sich wie ein Teenager.

Hendrik schob den Stuhl für sie zurecht, dann setzte er sich ihr gegenüber. »Darf ich dich einladen? Brunch oder das Mittagsmenü?«

»Der dänische Kabeljau reizt mich. Auch wenn er nicht sehr deutsch klingt«, neckte June ihn.

Er hob grinsend die Hände. »Ein wenig muss ich mich auch einbringen.«

»Dann nehme ich direkt das Mittagsmenü. Wenn ich auch den Apfelkuchen mit Vanillesoße bekomme.«

»Unbedingt.« Er lächelte, gab der Bedienung Bescheid, orderte als Abschluss zwei Cappuccino und Erdbeereis.

»Cappuccino und Erdbeereis hat Luise immer bestellt«, erklärte er und lächelte. »Seitdem haben wir es als Special auf der Karte. Die Leute lieben es.« Er sah sie dabei fasziniert an. Seine Augen leuchteten so himmelblau, dass sie kurz davor war zu fragen, ob er blaue Kontaktlinsen trug.

Sie riss sich zusammen, suchte nach Worten, doch er kam ihr zuvor.

»Was möchtest du von deiner Großmutter wissen?«

Sie erzählte ihm von Luises letztem Willen, dass sie die anderen beiden Erben ausfindig machen sollte, dass sie nach Marias Verbleib suchte.

»Oh, wow. Tut mir leid, davon weiß ich nichts. Darüber hat sie nie mit mir gesprochen.«

»Aber ihr hattet engeren Kontakt?«, hakte June nach.

Hendrik zuckte mit den Schultern. »Offenbar nicht.« Auch er wirkte etwas enttäuscht. Was hatte Luise da nur angerichtet? »Sie kam eine Zeitlang jeden Dienstagnachmittag hierher«, fuhr er fort. »Am Anfang noch mit einer anderen älteren Dame, einer gewissen Elly, die auch mal hier gearbeitet haben soll. Dann ist diese verstorben, wie Luise mir erzählt hat. Sie mochte mein Essen so sehr, meinte, ich wäre der einzige Koch, seit sie die Küche abgegeben hat, der ihre Rezepte so kocht wie sie. Nur viel exquisiter.« Er lachte. Dann wurde er ernster. »Sie meinte, ich schenke ihr ein bisschen Heimat.«

Betrübt sah June ihn an. »Sie hat bis zum Schluss Berlin als ihre Heimat angesehen, ist aber nie wieder dorthin zurückgekehrt. Zumindest, soviel ich weiß. Wie traurig.«

»So ging es vielen«, sagte er nachdenklich.

Die Bedienung servierte den ersten Gang. Es duftete köstlich. Während sie aßen, fragte June nach und erfuhr, dass Hendrik von dänischen Emigranten abstammte. »Meine Familie ist jüdisch, meine Urgroßeltern wurden wie andere dänische Juden in ein Konzentrationslager deportiert.«

»Wie furchtbar. Aber sie haben überlebt? Sonst würde es dich ja nicht geben.«

»Leider nein, haben sie nicht. Aber meine Großmutter. Sie wurde als Säugling von Mitbürgern versteckt und dann 1943 von dänischen Fischern nach Schweden gebracht, dort war sie sicher.«

June hörte ihm beeindruckt zu. »Zum Glück gab es überall so großartige, mutige Menschen.«

»Ja, das stimmt.« Wieder sah er sie intensiv an. Seine Hände lagen vor ihm auf dem Tisch. Große, schöne Hände. Nachdenklich fuhr er fort: »Ich muss gestehen, ich weiß viel zu wenig über die Geschichte meiner Familie. Nur, dass meine Großmutter in Schweden meinen dänischen Großvater, der auch gerettet wurde, kennenlernte und sie dann in die USA ausgewandert sind, weil sie in Schweden keine Heimat gefunden haben. Sie haben auch mit meiner Mutter immer dänisch gesprochen und sie mit mir. In Amerika haben sie sich leider auch nie heimisch gefühlt, wie mir meine Großmutter einmal gesagt hat. Meiner Mutter ging es ähnlich. Meine Familie hat es hier nicht so weit gebracht wie Luise. Meine Großeltern haben lebenslang in einer Fabrik gearbeitet, meine Mutter als Bedienung in einem Diner. Nicht alle schaffen es, finanziell gut Fuß zu fassen in der Fremde. Sie haben sich alle zeitlebens immer als Ausländer gefühlt. Und mir auch dieses Gefühl vermittelt. Irgendwann, als ich ein Teenager war, habe ich beschlossen, nie wie sie in Selbstmitleid zu baden, sondern mein Leben in die Hand zu nehmen, auch ohne Startkapital. Ich habe eine Ausbildung als Koch begonnen, mich hochgearbeitet und mich irgendwann von den ganz Großen unterrichten lassen. The American dream.« Er lächelte.

»Ja, man kann nicht auf das Glück warten. Man sollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das lehrt mich die Geschichte meiner Großmutter gerade.«

»Ganz genau.«

Sie sahen sich einen Moment lang in die Augen, und June fühlte ein angenehmes Ziehen in der Magengegend. Ihr Blick fiel auf seine Hände, die immer noch vor ihr lagen. So nah bei ihren. Er zog sie zurück, setzte sich auf. Sie waren inzwischen beim Berliner Apfelkuchen angekommen. »Das Essen war wirklich ein Traum.« Sie ließ den letzten Bissen in ihrem Mund zergehen.

»Freut mich. Was hast du denn vor, um diese Maria zu finden?«

»Ich werde mich in die Online-Archiv-Suche stürzen. Es gibt tolle Archive.«

»Wirklich? Interessant. Wenn du möchtest, helfe ich dir.«

»Du?« Verblüfft sah sie ihn an.

»Wie gesagt, mich interessiert die Geschichte meiner Familie schon lange, aber ich habe mir nie die Zeit dafür genommen. Ich habe jetzt ein paar Tage frei … immer mal ein paar Stunden Zeit zumindest.« Er räusperte sich. »Wenn du einverstanden bist, würde ich mich gerne anschließen und mehr über meine Vorfahren herausfinden. Aber natürlich möchte ich dir auch helfen. Deine Großmutter ist mir ziemlich ans Herz gewachsen. Sie war eine Art Ersatzgroßmutter für mich. Und du bist Luises Enkelin. Sie würde es von mir erwarten.« Auf seinen Lippen lag wieder dieses schelmische, charismatische Lächeln.

Überwältigt sah June ihn an. »Wie schön. Und natürlich darfst du dich gerne anschließen. Sehr, sehr gerne, Hendrik, vielen lieben Dank. Vielleicht magst du dir mal das Arolsen Archiv ansehen? Es ist die größte Sammlung zu NS-Opfern. Dort findet man wohl Dokumente zu Konzentrationslagern, über Zwangsarbeit und ›Displaced Persons‹.«

»Mach ich gerne.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, aßen Erdbeereis, tranken Cappuccino dazu. Als sie schließlich aufbrachen, bot Hendrik an, sie ein Stück des Weges zu begleiten.

Die Sonne schien, und als June neben diesem großen Mann durch die Straßen New Yorks ging, dachte sie unvermittelt an Luise und George. War etwas aus den beiden geworden? War George ihr Großvater? Oder Richard? Oder gab es gar einen dritten Mann? Anhand des Nachnamens Blixton, des Namens ihres letzten Ehemannes Bill, den Luise zuletzt trug, konnte man es nicht sofort erkennen. June schämte sich, nicht einmal den Vornamen ihres lange verstorbenen Großvaters zu kennen. Aber sie hatte ihn nie kennengelernt.

Hendrik setzte seine Sonnenbrille auf, der Geruch seiner Lederjacke umwehte Junes Nase. Es machte Spaß, mit ihm durch die Straßen Manhattans zu ziehen. Die Sonne schien, ihre Strahlen spiegelten sich in den Glasscheiben der Wolkenkratzer. Hendrik erzählte, dass er schon vor ein paar Jahren versucht hatte, einen Stammbaum seiner Familie zu erstellen. »Dabei bin ich darauf gestoßen, dass meine Urgroßeltern nach Theresienstadt kamen. Meine Großmutter hat mit mir nie im Detail darüber geredet. Ich schätze, es war zu schmerzlich für sie. Die Vorstellung, was ihre Eltern in einem Konzentrationslager erleiden mussten und wie sie dort ums Leben kamen.«

»Schrecklich«, gab June ihm recht.

»Einmal sagte sie nur, sie würde sich schämen, selbst zu leben, in Sicherheit gewesen zu sein, aber ihre Eltern nicht. Dieses Schuldgefühl hat sie ihr Leben lang bedrückt.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass man so denkt. Auch wenn man daran natürlich keinerlei Schuld trägt.«

»Ja, die Vorstellung, was in Theresienstadt mit ihren Lieben geschehen war, hat meine Großmutter sehr belastet. Vielleicht ist sie auch deshalb krank geworden.«

»Das tut mir leid.«

Er nickte. »Es wird Zeit, dass ich auch mehr über meine Vergangenheit herausfinde. Hast du Lust, einen Abstecher durch den Central Park zu machen? Deine Großmutter hat ihn geliebt.«

»Sehr gerne.« June lächelte ihn an.