KAPITEL 14

New York, Februar 1937

Frustriert verließ Luise das fünfte Café in Midtown Manhattan, in dem sie nach einem Job gefragt hatte. Wie Rahel gesagt hatte, gab es hier tatsächlich mehr Jobaushänge in den Ladenfenstern als in Lower Manhattan, wo Luise lebte, denn es gab auch deutlich mehr Cafés.

Aber auch dieser Chef hatte ihr sofort klargemacht, dass sie mit ihrem Englisch keine Chance hatte, im Service zu arbeiten. Zumindest hatte Luise das so verstanden. Sie musste zugeben, dass sie die Sprache wirklich noch nicht ausreichend beherrschte, wenn einer schnell und schnodderig sprach, wie es die meisten Amerikaner taten. Dabei hatten alle Cafés, in denen sie nachgefragt hatte, nach einer Aushilfe als Bedienung gesucht.

Sie fröstelte, zog ihren Schal enger, die Mütze tiefer über die Ohren. Im vorletzten Café war ihr sogar mitgeteilt worden, sie nähmen keine Emigranten. Die hagere Chefin hatte ihr direkt den Weg zur Tür gezeigt. »Keine Jobs. Nicht mal für unsere Leute. Nicht für Flüchtlinge.« Luise hatte genug verstanden, um zu kapieren, was die Chefin ihr sagen wollte.

Betreten stand sie nun auf der Straße. Passanten in Mänteln eilten an ihr vorüber, der Autolärm am Broadway dröhnte ihr in den Ohren, die Auspuffgase stanken, vorbeifahrende Autos spritzten den Schneematsch auf ihre Schuhe. Sie wich zurück, ging am Ambassador Theater vorbei. Eine ältere Frau saß neben dem Eingang auf der Straße und hatte ein Schild vor sich aufgestellt, auf dem sie um Geld oder Nahrung bat. Luise kramte ein paar Münzen hervor, gab sie der Frau und ging weiter. Sie hatte nicht gedacht, als »Flüchtling« abgewiesen zu werden. Damit war ihr neugewonnener Optimismus erschüttert worden. Sie seufzte leise. Weitermachen. Morgen war ein neuer Tag, vielleicht hatte sie dann ja Glück.

Sie ging in Richtung Subway, in die 6th Avenue, als ihr ein Zettel im Fenster eines schäbig wirkenden kleinen Cafés auffiel. Die Farbe blätterte von der rosarot gestrichenen Außenfassade, das Schild mit der Aufschrift Bob’s Café hing etwas herunter. Sie zögerte. Sollte sie es für heute ein letztes Mal versuchen?

Sie musste. Schließlich ging ihr Geld bald wirklich zur Neige, und Richard wurde von Tag zu Tag lethargischer. Ihren Vorschlag, ein politisches Buch zu schreiben, hatte er sich angehört und nur genickt. Ob er damit angefangen hatte, wusste sie nicht.

Aus Deutschland erreichten sie immer düsterere Nachrichten. Maria hatte ihr geschrieben, dass ein Angestellter aus der Buchhandlung ihres Mannes abgeholt worden war. Weil er homosexuell war. Dass sie alle schockiert waren. Ihre Kinder würden in der Schule gehänselt, weil sie jüdisch seien. Sie habe Jakob wieder gebeten, endlich auszuwandern. Aber weißt du, was er gesagt hat, Luise? Durch die Reichsfluchtsteuer, die ja noch verschärft wurde, würden wir viel zu viel Geld verlieren. Für Jakob kommt es deshalb jetzt gar nicht mehr infrage, er meint, er muss ja für uns sorgen können. Wir sitzen das aus.

Luise hatte Maria aufgewühlt geschrieben, dass ihrer aller Leben doch mehr wert sei als Geld. Und dass es hier zwar schwierig sei, aber es doch tausendmal besser sei, sich durchzukämpfen, als aufzugeben und womöglich zu sterben. Aber was soll ich tun, Luise? Ich müsste ihn mit den Kindern verlassen, aber das kann ich nicht. Zumal er ja auch recht damit hat, dass man im Ausland mit wenig Geld nur sehr schwer zurechtkommt. Du schreibst es ja selbst.

Luise hatte ihr von ihren Sprachproblemen berichtet, die die Jobsuche erschwerten. Dass sie leider erst mal Geld verdienen müsse, ehe sie ihr Restaurant eröffnen könne.

Ich verstehe das sehr gut, Luise, schrieb Maria zurück. Wer hätte gedacht, dass sich Richard so entwickelt? Anni ist ein wenig enttäuscht, dass du noch kein Restaurant eröffnet hast. Sie denkt an ihr Geld, aber ich habe ihr gesagt, die Luise, die zahlt es uns irgendwann zurück, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

Luise hatte den Brief immer wieder gelesen und ein schlechtes Gewissen verspürt, noch mehr Druck. Sie wollte ihre Freundinnen nicht enttäuschen. Das durfte sie nicht, auf keinen Fall.

Ein Mann im Anzug rempelte sie aus Versehen an und riss sie aus ihren Gedanken. »Sorry, Miss.« Und schon eilte er weiter.

Luise atmete durch und ging auf die Eingangstür des heruntergekommenen Cafés zu. Sie nahm noch einmal allen Mut zusammen.

Als sie eintrat, klingelte die Türglocke. Der Geruch von altem Fett schlug ihr entgegen. Eine rundliche Frau mit schief sitzender Haube auf dem Kopf stand hinter einer langen Theke und schenkte Cola ein, ohne aufzusehen.

Auf einer mit Kreide geschriebenen Tafel las Luise, dass es Burger, Pommes und Hot Dogs gab. Der Raum war schmal und länglich, es gab vier einfach gezimmerte Sitznischen an der Fensterfront. Zwei der Sitzpolster waren zerschlissen. Die Bedienung, eine füllige Frau mit grauen, strähnigen Haaren, hatte fertig eingeschenkt, sah jetzt auf, fummelte mit dem Finger in ihrem Mund herum. Am liebsten wäre Luise sofort wieder gegangen, aber sie hatte keine Wahl.

»Hello, my name is Luise«, begann sie wie immer. Und wie immer sah sie der Frau an, dass diese sie sofort anhand ihrer deutschen Aussprache als Immigrantin identifizierte. Entsprechend abweisend blickte sie Luise an.

»Hi! Ich bin Dolly«, erwiderte sie auf Englisch.

Tapfer fragte Luise weiter, ob der Job noch zu haben sei.

Gerade als die Frau antworten wollte, kam ein ebenso korpulenter Mann von hinten aus dem Küchenbereich. Er hatte offenbar mitgehört und fragte: »Bist du jüdisch?«

Luise schüttelte den Kopf. Was sollte diese Frage?

Dann nickte er. »Okay. Ich bin Bob.«

»Was okay?«, entfuhr es Luise wütend. »Ich meine, what?«

»Ich nehm dich«, sagte er auf Englisch. »In der Küche.«

»Nicht im Service?«, fragte sie in gebrochenem Englisch nach.

Der Mann und die Frau schüttelten unisono den Kopf.

Luise dachte nach. In der Küche, nun gut. Sie kochte gerne, und Burger waren ja nicht schwierig zuzubereiten. Hot Dogs erst recht nicht. Und sie konnte hier ihr Englisch verbessern. Learning by doing, hieß das. »Okay, thank you.«

Aber als sie hörte, wie niedrig ihr Lohn sein würde, hätte sie am liebsten wieder abgesagt. Noch dazu verkündete Bob: »Dishwasher Was nicht nach kochen klang. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie verabredeten, dass Luise am nächsten Morgen anfangen würde, erst mal auf Probe. Einen Arbeitsvertrag gab es nicht.

Richard sah sie am Abend fassungslos an. »Du willst als Tellerwäscherin arbeiten?«

»Ich will nicht, ich muss. Richard, wir brauchen das Geld.«

Er machte einen leidenden Gesichtsausdruck. »Ich bin der Mann, du musst das nicht tun. Ich verdiene bald Geld, das weißt du.«

»Ja, Richard, das weiß ich. Ich möchte aber selbständig sein, das wiederum weißt du.«

Luise hatte aufgegeben, daran zu glauben, dass er aus seinem mentalen Loch herausfinden würde. Sie hatte alles getan, wusste sich keinen Rat mehr. Und weil sie am eigenen Leib erfahren hatte, wie wichtig es war, Englisch gut zu sprechen und zu verstehen, um anständig bezahlte Arbeit zu finden, wusste sie, dass er die nächsten Monate nichts verdienen würde.

Sie waren jetzt schon sechs Monate hier, Richard sogar schon acht. Aber immer noch las er nur deutsche Worte und Texte, schrieb immer noch nicht an einem Buch oder Texte für andere Veröffentlichungen, lehnte die fremde Sprache sogar zunehmend ab. »Meine Gedanken sind frei, aber dieses fremde Sprachkorsett schnürt sie ein, Luise«, behauptete er jedes Mal.

Der Job als Tellerwäscherin war anstrengend und ermüdend. Ihre Hände wurden schon nach wenigen Tagen rau und wund. Das Spülwasser, die Chemikalien, mit denen sie die Küche schrubben musste, das alles tat ihrer Haut nicht gut. Am liebsten hätte sie alles nach drei Tagen hingeschmissen. Bob und seine Frau Dolly beobachteten sie ganz genau, und Luise biss die Zähne zusammen. Sah er ihr auf den Hintern, oder bildete sie sich das ein? Dolly wurde zumindest eifersüchtig und ließ es immer wieder an ihr aus, schickte sie herum, ließ sie den Müll leeren und den Küchenboden schrubben.

Abends im Bett weinte sich Luise manchmal in den Schlaf. Sie schaffte es auch nicht mehr, ihre Texte so zu überarbeiten, dass sie es gewagt hätte, sie George zu zeigen.

Richard, der um diese Uhrzeit immer noch am Küchentisch saß, schien ihren Gemütszustand nicht zu bemerken. Oder er verdrängte ihn wie so vieles, seit sie hier waren.

Als Luise eines Abends abgekämpft und mit wunden Händen nach Hause kam und überraschend George am Tisch neben Richard entdeckte, wäre sie ihm am liebsten weinend um den Hals gefallen. Sie riss sich zusammen und begrüßte ihn herzlich. »George, wie schön.«

»Luise. Ich war schon ein paarmal hier, aber du warst immer arbeiten.«

»Wirklich? Richard hat gar nicht erzählt, dass du hier warst.«

Ihr Verlobter zuckte nur kurz mit den Schultern. Hatte er absichtlich nichts gesagt? Spürte er bereits, wie sehr sie sich zu George hingezogen fühlte?

»Aber jetzt bist du ja da. Du siehst gut aus, aber erschöpft«, meinte George freundlich.

»Das bin ich.« Sie ließ sich auf einen freien Küchenstuhl sinken, hielt ihre roten rissigen Hände hoch.

»Oh nein!«, entfuhr es George. Er nahm sofort ihre Hände in seine, umschloss sie, wie um sie zu beschützen. Richards Miene verfinsterte sich.

Schnell entzog sie ihm ihre Hände. »Ich bin es einfach nicht gewohnt, aber Bob, mein Chef, meinte, ich stelle mich gut an.«

»Hast du denn eine Salbe?«, fragte George besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. Zwar war sie in einem Drugstore gewesen, aber die Salben kamen ihr alle so teuer vor, und sie musste sparen.

»Ich besorge dir eine«, versprach George.

»Was gibt es heute zum Abendessen?«, schaltete sich Richard ein, den ihre Hände nicht sonderlich zu interessieren schienen. Seit sie im Café arbeitete, brachte sie immer ein paar Reste mit. Sie selbst konnte das Essen nicht mehr sehen, aber Richard schien diesbezüglich genügsam.

»Wie immer. Burger, Hot Dogs, lappige Pommes frites.« Sie wandte sich an George und scherzte: »Die Pommes frites kommen mir bald zu den Ohren raus.«

George runzelte die Stirn. »Klingt auch nicht sonderlich gesund, jeden Tag.«

»Ja, das stimmt. Ich vermisse einen guten deutschen Gemüseeintopf. Aber ich bin abends so müde, dass ich nicht auch noch ewig in der Küche stehen will. Und das Essen aus dem Café wird sonst weggeworfen.«

»Verstehe. Dann bist du sicher noch nicht zur Überarbeitung deiner Texte gekommen, richtig?«

Luise nickte betreten.

»Das ist doch kein Problem. Magst du sie mir so geben?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Okay. Dann gedulde ich mich.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.

»Aber ich«, klinkte Richard sich überraschend ein. »Ich bin fast fertig mit einem Text. Na ja, ein wenig dauert es noch.«

George und Luise sahen einander an. Fast musste sie lachen. Sein Verständnis, auch ohne Worte, tat so gut.

»Alles klar, Richard, sag einfach Bescheid, wenn du so weit bist«, erwiderte George freundlich.

Richard nickte ernst, stand auf und ging ins Bad.

»Schön, dass du da bist, George«, sagte sie leise.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Finde ich auch.«

»Möchtest du etwas trinken? Und einen Burger?«, fügte sie neckend hinzu.

»Danke, aber ich habe gerade gegessen«, entgegnete er amüsiert. »Und ich habe einen guten kalifornischen Wein mitgebracht, einen Rotwein aus dem Nappa Valley.« Er deutete auf die Anrichte. Luise erblickte die Flasche erst jetzt.

»Oh, ich danke dir.« Schon lange hatten sie sich keinen Wein mehr gegönnt. Sie stand auf und holte drei Gläser aus dem Küchenschrank. George erhob sich ebenfalls und trat neben sie an die Anrichte. Er nahm den Wein und den Korkenzieher aus Luises Hand, war ihr nun so nah, dass ihre Finger sich berührten. Wie gerne hätte sie sich einfach an ihn gelehnt. Aber da hörte sie ein Geräusch von der Tür und drehte sich rasch um. Richard stand auf der Schwelle und beobachtete sie. Sofort tat er ihr unendlich leid, sie schämte sich zutiefst.

»Richard, sieh nur, so einen guten Wein hatten wir ewig nicht mehr. Der wird dir sicher schmecken!«, rief sie betont fröhlich. Sie sah seinen Blick, erkannte nicht nur Eifersucht, sondern auch Angst darin. Nackte, pure Angst, sie zu verlieren. Und ihr wurde klar, dass sie ihm das nicht antun durfte, auf keinen Fall. Dass er sie hier brauchte, dass sie sich George aus dem Kopf schlagen musste, sofort. Oder konnte Glück entstehen, wenn auf der anderen Seite Unglück stand?