New York, Washington Heights, 2023
Ein paar Tage nach ihrem Mittagessen mit Hendrik saß June an ihrem Laptop in Luises gemütlicher Wohnküche, einen duftenden Kaffee neben sich. Sosehr sie auch versuchte, sich zu konzentrieren, ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Nachmittag mit Hendrik im Central Park. Er hatte plötzlich unglücklich ausgesehen. Hendrik hatte eine Nachricht auf sein Handy bekommen, und seine Gesichtszüge hatten sich versteift. »Ich muss gehen«, hatte er gesagt. Ein kleiner Vogel in einem Busch neben ihnen zwitscherte aufgeregt. June hatte es nicht gewagt nachzufragen. Es ging sie nichts an. Der Nachmittag im Central Park war wunderbar gewesen. Das, was er ihr von ihrer Großmutter erzählen konnte, brachte ihr diese wieder so nahe. So nahe, dass es wieder so wehtat, sie verloren zu haben, für immer. Aber die Erinnerung sollte bleiben.
June nahm erneut einen Schluck Kaffee, betrachtete die geöffnete Seite auf ihrem Laptopbildschirm. Der Rechercheleitfaden auf der Stolperstein-Homepage. Er hatte sich als wahrer Glücksfall entpuppt. Es gab eine ausführliche Liste, die benannte, wo man welche Informationen herausbekommen konnte. Sie hatte schon online recherchiert, aber es dauerte alles lange, und ihre Augen brannten.
Hendrik hatte bei der Verabschiedung im Central Park erneut angeboten, ihr bei der Suche zu helfen, hatte sie am nächsten Tag über Maria und Anni ausgefragt, und sie hatten die Recherche in den Archiven ein wenig aufgeteilt. Inzwischen hatte er beim Arolsen Archiv und beim Bundesarchiv einen schriftlichen Suchantrag gestellt, wie er ihr schrieb, sie füllte gerade das Formular des Landesarchivs Berlin aus, um Auskunft aus der Berliner Einwohnermeldekartei zu erhalten. Ab 1875 konnte man dort nach dem Namen der entsprechenden Personen suchen. Es würde dreißig Euro im Erfolgsfall kosten, zehn, wenn nichts gefunden wurde, sie hoffte auf dreißig. Zu Maria und Jakob müsste es ja wenigstens eine Heiratsurkunde geben. Und vielleicht auch eine Sterbeurkunde. Letzteres hoffte June natürlich nicht. Allerdings konnten Ehefrauen in der Regel nur über die Daten des Ehemannes gefunden werden, daher suchte sie nach Jakob. Das war wohl der damaligen Zeit geschuldet. Gut, dass sie in einer moderneren lebte.
Sie faltete das Antragsformular zusammen, das sie in Bills ehemaligem Büro, ihrem Zimmer, ausgedruckt hatte, steckte es in einen Briefumschlag, den sie im Schreibtisch gefunden hatte. Jetzt musste sie ihn nur noch zur Post bringen, und dann hieß es warten. Sie hatte ihre Adresse in Berlin angegeben und Anton vorhin schon gebeten, den Briefkasten regelmäßig zu leeren.
»Deshalb rufst du mich an?«, hatte er gefragt und gehustet.
»Ja, es ist wichtig für mich. Landesarchiv Berlin, sobald Post von dort kommt, ruf mich bitte sofort an.«
Er hatte erneut gehustet. »Na dann, mach ich. Aber dir ist schon klar, dass das Wochen dauern kann? Du kennst doch die Ämter in Berlin.«
»Ich weiß. Ich recherchiere ja solange weiter. Aber es könnte ein wichtiger Hinweis sein.«
»Du kommst aber nicht erst in ein paar Wochen wieder, oder?«, hatte er nachgefragt. »Du fehlst mir.«
Das wäre die Stelle gewesen, an der sie hätte antworten sollen: »Du mir auch.« Aber fehlte er ihr wirklich? Sie dachte an Hendrik, der ihr in seiner freien Zeit so viel half.
»Ich fehle dir vor allem, weil sich die Wäsche nicht alleine wäscht, oder?«, erwiderte sie.
Daraufhin hatte Anton ertappt gelacht, und sie hatte das Telefonat schnell beendet. Sie hatte Wichtigeres zu tun, wollte sich jetzt nicht mit ihm befassen. Die Recherche ließ sie nicht los. Maria, was ist mit dir geschehen?, dachte June.
Nach dem Telefonat mit Anton hatte sie in der Zeitschrift aktuell eine Suchanzeige nach Maria, Jakob und den Kindern aufgegeben, sie war bei ihrer Recherche darauf gestoßen, dass das in dieser Zeitschrift möglich war.
So viele schreckliche Schicksale, so viele Deportationen, so viel Grauen in Konzentrationslagern, Tod. Auf der Stolperstein-Seite hatte sie sogar eine Auflistung der Berliner Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, gefunden. So viele hatten mitgemacht, so viele waren ungeschoren davongekommen. June beschloss, wenn sie mehr über Maria und ihre Familie wusste, je einen Stolperstein in Berlin für sie setzen zu lassen. Denn auch für Überlebende konnte man Stolpersteine beauftragen, für jedes Familienmitglied.
Ihr Handy piepte, riss sie aus ihren Gedanken. Eine Nachricht von Hendrik.
Erschüttert ließ June das Handy sinken. Viele Juden waren zunächst nach Theresienstadt und von dort in andere Vernichtungslager deportiert worden. Sie wäre jetzt gerne bei Hendrik, denn sie ahnte, wie er sich fühlte. Bei all ihrer Recherche war ihr das Herz schwer geworden. Wie hatten so viele bei diesem Wahnsinn mitmachen können? Wie konnten Menschen anderen Menschen Derartiges antun? Aber hätte June sich an ihrer Stelle damals gegen das System zur Wehr gesetzt? Auch wenn das ihren eigenen Tod hätte bedeuten können?
June vermochte es nicht mit Sicherheit zu beantworten. Sie recherchierte weiter, fand im Netz frei zugänglich eine Täterliste von Auschwitz. Würde sie dort vielleicht einen Hinweis auf Annis Mann Siegfried entdecken? Der war ja offenbar Nazi gewesen. Sie überflog die Liste. 9686 SS-Männer waren für das KZ Auschwitz verzeichnet. Da es viel Personalwechsel gab, waren wohl meist zwischen 3000 und 4000 SS-Leute im Einsatz. Sie las die Namen, Rudolf Höß, Lagerkommandant Auschwitz, Arthur Liebehenschel, Lagerkommandant KZ Auschwitz I, und so weiter.
Ein Schauer überlief sie. Was, wenn jemand dort einen Angehörigen fand? Als Enkel von Höß zum Beispiel? Wie ging man damit um? Sie war froh, dass ihre Großmutter aufbegehrt hatte. Aber irgendeine Schuld schien ja auch Luise auf sich geladen zu haben. Auf der Liste standen mehrere Siegfrieds, aber ohne den Nachnamen von Annis Freund, den sie noch nicht gefunden hatte, konnte sie nicht erkennen, ob er dabei war oder nicht. June beschloss, sich erst mal auf Maria zu konzentrieren, um sich nicht zu verzetteln. Sie fokussierte ihre Suche auf jüdische Buchhandlungen in dieser Zeit und fand heraus, dass Jakobs Buchhandlung 1938 noch eingetragen war. Nach den Novemberpogromen 1938 eröffnete der Jüdische Kulturbund Anfang Januar seine ersten Filialen aus umgewandelten, ehemals privaten jüdischen Buchhandlungen in Berlin. Jakob Kirschbaum und seine Buchhandlung waren dabei! Maria und er waren also nicht einmal nach den Novemberpogromen ausgewandert, aber wenigstens bis 1938 zum Glück auch nicht deportiert oder ermordet worden.