KAPITEL 16

New York, 10. November 1938

Luises Hände zitterten. Sie saß benommen mit einer Kaffeetasse in der Hand am Küchentisch und lauschte fassungslos dem Radio, das sie kürzlich gebraucht erstanden hatte. Englische Satzfetzen peitschten an ihr Ohr. »Brennende Synagogen in Deutschland«, hatte sie das richtig verstanden? Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. »Nacht des Horrors in Deutschland.« »Viele Läden von Juden sind zerstört worden.« Sie musste ins Café zur Arbeit, doch die Worte des Sprechers aus dem Radio lähmten sie. Starr vor Schock sah sie ihre Tasse an. Das konnte doch nicht sein. »Viele Brandstiftungen an jüdischen Einrichtungen am nächsten Morgen.« Ihr Mund fühlte sich taub an. Pelzig. Fast zwei Jahre waren sie nun schon hier, und die Situation in Deutschland wurde immer schrecklicher.

»Richard! Komm, schnell!«, krächzte sie. Richard schlief natürlich noch um diese Zeit. Sie stellte die Tasse ab, so schnell, dass der Kaffee überschwappte. Jetzt kam Leben in sie. Luise rannte durch den Flur ins Schlafzimmer, kniete sich vor Richard hin und rüttelte an ihm. Er grunzte, schlug die Augen auf, sein verschlafener Blick machte sie wütend.

»Wach auf! Wach endlich auf!«

»Was soll das? Wieso weckst du mich?«

»Zu Hause ist etwas Schreckliches passiert. Die Nazis haben im ganzen Land gewütet, jüdische Geschäfte zerstört, viele Juden ermordet. Komm, sie sagen es im Radio.«

Er rappelte sich verwirrt auf, sie zerrte an ihm, zog ihn mit sich in den Wohnraum. Dann setzten sie sich an den Küchentisch und lauschten, aber es kam nur noch ein abschließender, erschütternder Satz, der das Schreckliche zusammenfasste. »In ganz Deutschland wurden in dieser Nacht jüdische Gottes- und Gemeindehäuser in Brand gesetzt, wie unser Korrespondent erfahren hat, und es gibt anhaltende Gewalt und Mordkommandos gegen Juden und Jüdinnen.«

Dann Musik, als wäre nichts geschehen. Richard sah blass aus, zitterte jetzt auch. Er nahm ihre Hand, als müsste er sich festhalten, wie ein Kind, das seine Mutter brauchte.

»Das kann nicht sein«, flüsterte er. »Was machen die da in unserer Heimat?«

»Das hörst du doch!«, erwiderte sie aufgewühlt. »Maria und Jakob und die Kinder. Sie müssen da sofort raus!«

»Ja, das müssen sie. Und genau das scheint Hitler zu wollen, noch mehr Angst unter deutschen Juden verbreiten, sodass sie bald alle das Land verlassen.«

»Der ist verrückt, der ist total verrückt. Das müssen die in Deutschland doch jetzt alle begreifen.«

»Ich hoffe es«, sagte Richard. »Ich hoffe es, Luise.«

»Wir müssen mehr tun«, fuhr sie fort. »Nur Texte in amerikanischen Lokalzeitungen zu veröffentlichen reicht nicht, Richard.« Durch Astrid hatte sie den Kontakt einer Lokalredaktion erhalten, die nun regelmäßig ihre Texte abdruckte.

»Was können wir denn jetzt noch tun?«, fragte er wie gelähmt.

Entschlossen sah Luise ihn an. »Ich werde morgen früh zu George in die Kanzlei gehen. Vielleicht hat er Kontakt zu größeren Zeitungen. Ich schreibe einen Text zu den Pogromen. Zwar war ich nicht dabei, aber die Sicht einer Deutschen in Amerika ist vielleicht ein Aufhänger. Wenn du möchtest, kannst du auch etwas dazu schreiben?«

Er rappelte sich auf, nickte schwach. »Ich hoffe, ich bringe es fertig bis morgen früh.«

Luise schämte sich dafür, dass sie von Amerika aus noch nicht mehr getan hatte gegen das Naziregime. Aber die Arbeit im Café ließ sie müde und geschafft nach Hause kommen. Bis spät in die Nacht wusch sie dort die Teller, schrubbte den fettigen Herd, putzte den dreckigen Boden. Wenn sie dann erledigt nach Hause kam, wartete dort der Haushalt. Richard hielt sich nach wie vor bei diesen Tätigkeiten heraus. »Das ist Frauensache«, pflegte er zu sagen.

»Wo steht das?«, erwiderte sie dann wütend. Aber zu mehr Gegenwehr besaß sie keine Kraft. Sie wusste, wie sinnlos es war.

»Musst du nicht los?«, hörte sie Richard plötzlich neben sich sagen. Er deutete auf die Wanduhr.

»Herrgott, ja.« Rasch trank sie den letzten Schluck Kaffee, der inzwischen kalt war. Im Radio dudelte ein Song, als wäre nichts geschehen in der Welt. Die ganze Zeit dachte sie an die Juden in Deutschland. Wie traumatisierend musste das alles für sie sein. Hoffentlich schrieb ihr Maria bald wieder. Jetzt musste auch Jakob endlich einsehen, dass sie ausreisen mussten nach New York. Endlich.

Gleich morgen früh vor der Arbeit würde sie zu George in die Kanzlei gehen, ihm ihre Texte geben, vielleicht fiel ihm ja doch noch ein guter Kontakt ein. Bisher hatte er ihr nicht helfen können. Und dann wollte sie ihn um ein Affidavit für Maria, Jakob und die Kinder bitten. Er hätte es schon längst ausgestellt, aber bisher hatte Marias Mann ja an eine Besserung der Lage geglaubt. So viele hatten das. Bis gestern Nacht.

*

George saß über einer Akte, als Luise am nächsten Morgen von einer jungen hübschen Sekretärin in sein Büro geführt wurde. Beeindruckt schaute sie sich um. Sein Büro wirkte edel, der Schreibtisch und die Möbel waren in dunklem Holz gehalten. Durch ein Fenster blickte man auf mehrere hohe Gebäude. Sein Büro roch nach Kastanie und Aftershave. Er trug einen Anzug, der ihm fantastisch stand. Als sie eintrat, sah er überrascht und erfreut auf. »Luise.« Dann wurde seine Miene ernster. »Ist etwas geschehen? Ist was mit Richard?« Er stand auf, dankte seiner Sekretärin, kam Luise entgegen und mit ihm sein unverkennbarer Duft.

»Nein, nein, ihm geht es gut. Ich bin wegen der schrecklichen Nachrichten aus Deutschland hier.«

Er nickte sofort. »Man kann es kaum glauben. So viele Tote.«

Sie reichte ihm die Mappe, in die sie ihren Text gelegt hatte. Richard war mit seinem nicht fertig geworden. »Hier ist ein Text von mir, zum neuesten Geschehen, aus Sicht einer Deutschen im Exil. Bitte, überlege noch mal, ob du nicht doch jemanden kennst, der bei einer größeren Zeitung arbeitet.«

Nachdenklich nahm er die Mappe entgegen, legte sie auf seinen Schreibtisch, drehte sich wieder zu ihr. »Spontan fällt mir leider niemand ein, aber vielleicht kann ich einen Kontakt über einen Klienten herstellen.«

»Das wäre wunderbar.« Aufgewühlt strich sie sich eine Haarsträhne zurück.

»Deine Finger zittern ja.« Er nahm ihre Hände in seine. Ein Schritt noch, und sie läge in seinen Armen.

»Ich mache mir jetzt noch mehr Sorgen um Maria und ihre Familie.«

Er nickte bedauernd. »Das verstehe ich.«

»Ich habe ihr gestern einen Brief geschrieben«, sprudelte sie los, die Wärme seiner Hände tat so gut. »Aber es dauert ja, bis der ankommt. Falls er ankommt. George, jetzt wollen sie sicher ausreisen. Kannst du ihnen bitte ein Affidavit ausstellen und für ihr Einkommen hier bürgen? Du als Amerikaner? Ich weiß, es ist sehr viel verlangt, aber ich verspreche, ich gebe etwas von meinem Verdienst dazu, wenn sie es nicht selbst schaffen, rasch auf die Beine zu kommen. Aber das werden sie, es sind fleißige, kluge Leute –«

»Luise«, unterbrach er sie sanft, hielt immer noch ihre Hände, strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Natürlich helfe ich ihnen, das habe ich dir doch schon lange zugesagt.«

Erleichtert schluchzte sie auf. Er zog sie an seine Brust, versuchte, sie zu beruhigen. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Sein Geruch. Ihre Gedanken schwirrten. Wanderten zu Richard, und sofort sah sie sein Gesicht vor sich, die Angst in seinen Augen. Abrupt löste sie sich von George, trat einen Schritt zurück. »Ich danke dir, ich danke dir so sehr.« Wir dürfen das nicht, sagten ihre Augen, und er verstand.

Er nickte. »Ich werde das Affidavit sofort ausstellen und alles, was nötig ist. Dann schicken wir es ihnen. Die Adresse hast du mir ja bereits gegeben.«

»Ich danke dir, ich kann mich nur wiederholen.«

»Ich wünschte, ich könnte mehr tun«, erklärte er, dann deutete er auf ihre Mappe. »Ich werde versuchen, eine größere Zeitung zu finden, die sich dafür interessiert.«

Sie sah ihn dankbar an. »Hauptsache, sie schreiben darüber, es muss ja nicht mein Text sein. Ich habe Angst, dass das Thema hier bald wieder totgeschwiegen wird.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Wer weiß. Ich muss jetzt leider zur Arbeit. Tellerwaschen ist so sinnlos.«

»Es tut mir leid, dass du das tun musst.«

»Es ist nicht für immer, sage ich mir ständig. Meinen Traum vom eigenen Restaurant habe ich stets vor Augen.«

»Du bist einzigartig, Luise.«

Ihr stockte der Atem. »Ist das nicht jeder?«, brachte sie heraus. »Ich muss mich beeilen.« Sie drehte sich um und eilte aus seinem Büro.

*

Bob’s Café war gut besucht, die Leute schaufelten Eier, Speck und Burger in sich hinein, als gäbe es überall auf der Welt genug zu essen. In der Küche dampfte und stank es. Bob hatte gerade etwas angebraten, auf Teller geschoben und ging damit in den Gastraum. Luise konnte den Geruch von Speck und altem Fett nicht mehr ertragen. Die Teller in der Küche stapelten sich. Ihre ohnehin wunden Hände schmerzten, während sie abspülte.

Die Pogrome waren schon einige Tage her, und amerikanische Zeitungen berichteten glücklicherweise landesweit auf den Titelseiten. Endlich. Auch ohne ihr Zutun, denn George hatte keinen Kontakt auftreiben können. Aber die Aufmerksamkeit war groß wie nie zuvor. Luise hob jede Zeitung auf, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Eine, die ein Gast vorhin hatte liegen lassen, hatte sie mit in die Küche genommen, sie lag neben der Spüle. Da sie nun endlich allein war, hielt sie in der Arbeit inne, trocknete sich rasch die Hände ab und schlug die Zeitung auf.

Die Nachricht vom Tod Ernst vom Raths in Paris war offenbar das Signal für diese Schreckensnacht gewesen, las sie. Die Zerstörung von jüdischen Geschäften hatte am 9. November in der Nacht begonnen. Brandstiftungen gab es am Morgen des nächsten Tages und anschließende Massenverhaftungen. Juden wurde befohlen, das Land zu verlassen, obwohl einige keine Pässe besaßen. Nur die, die ihre Ausreise schon geplant hatten, konnten Pässe vorlegen. Viele jüdische Läden waren zerstört worden. Synagogen waren in Brand gesetzt, zahlreiche Juden verhaftet oder ermordet worden. Es schien alles eine geplante Aktion gewesen zu sein.

Dolly, ihre Chefin, trat mit leeren, benutzten Tellern ein und beschwerte sich: »Was liest du Zeitung, statt zu arbeiten? Los, wofür bezahlen wir dich?«

Luise legte die Zeitung weg, drehte sich zu ihr. »Hast du überhaupt mitbekommen, was in Deutschland geschieht?«, fragte sie aufgebracht.

Aber Dolly zuckte nur mit den Schultern, stellte die Teller neben ihr ab. »Geht mich nichts an. Jeder so, wie er es verdient.«

Wütend sah sie Dolly an. »Niemand hat es verdient, misshandelt, verfolgt und getötet zu werden.«

»Ja, ja. Jetzt los, arbeite«, erwiderte die nur und ging zurück in den Gastraum.

Luise starrte ihr entsetzt nach.

Während sie weiter Teller spülte, fiel ihr Blick auf ein Beilageblatt, das aus der Lokalzeitung herausgerutscht war. Darauf stand ein Aufruf zu einer Anti-Nazi-Demonstration.

Luise war sofort hellwach. Sie wollte mit den Emigrantinnen, die sie hier kennengelernt hatte, auf die Straße gehen. Mit Elly, Astrid und den anderen. Zwar hatte sie Elly nur sehr selten gesehen, und auch zum Treffen der Exilfrauen hatte Luise es aufgrund ihres Jobs im Café nur unregelmäßig geschafft, aber jede Woche nahm sie sich vor, ihre Schicht so zu legen, dass sie die Frauen treffen konnte. Es tat ihr gut, die gemeinsamen Erfahrungen hier in der Fremde verbanden.

»Bob, ich muss heute früher los«, sagte sie am nächsten Dienstag zu ihrem Chef, der gerade die Pommes in heißes Fett tauchte.

»Geht nicht, ich brauch dich hier.«

»Ich muss aber«, entfuhr es ihr.

»What the hell?! Dienstags ist hier immer die Hölle los, das weißt du genau.«

»Hier ist immer die Hölle«, konterte sie. »Ich muss weg, ich habe einen wichtigen Termin.« Mit diesen Worten band sie die Schürze ab, wusch sich die schmerzenden Hände, schnappte sich ihre Handtasche und stürmte an ihm vorbei aus der Küche des Cafés.

»Hey, komm zurück!«, rief er ihr hinterher. »Sonst …«

»Sonst was?« Luise stand schon im Gastraum, neben Dolly, die sie ansah. Dann drehte sie sich einfach um, denn Bob schien nichts einzufallen, und ging weiter aus dem Café hinaus.

Auf der Straße atmete sie tief ein. Selbst die Autoabgase in den Straßen Manhattans rochen besser als dieser Gestank im Café. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.

Im Jack Dempsey’s angekommen, setzte sich Luise zu den Frauen, begrüßte sie aufgewühlt und zeigte ihnen kurz darauf die Beilage der Zeitung. »Es gibt eine Anti-Nazi-Demo am Times Square. New Yorker gehen gemeinsam auf die Straße. Und wir gehen mit«, erklärte sie.

Die anderen Auswanderinnen waren sofort Feuer und Flamme. Die Geschehnisse in Deutschland hatten alle zutiefst schockiert. Elly, die auch dabei war, sah blass und traurig aus. »Das machen wir«, bestätigte sie.

»Wir sind ja handwerklich geschickt, da kriegen wir ein paar Pappschilder an Holzstangen schon hin«, erklärte Ester.

Sie überlegten, was sie alles brauchten, wer welche Materialien zu Hause hatte oder besorgen könnte. Rahel fiel ein: »Bei uns im Hof liegt beim Müll immer Pappe herum, da kann ich was mitnehmen.«

»Wunderbar. Nur Holzstangen werden schwierig. Ach, es geht ja auch ein Besenstiel«, fand Luise.

Astrid, die bereits von der angekündigten Demonstration gelesen hatte, wusste von amerikanischen Freunden, die auch auf die Straße gehen wollten.

»Ich hätte das nicht gedacht, so viel Unterstützung in der Fremde«, sagte Rahel gerührt.

»Der Großteil der Bevölkerung von New York hat ein sehr großes Herz, davon bin ich überzeugt«, erwiderte Astrid. »Hier leben viele kluge, empathische Menschen.«

Luise gab ihr recht, dachte dabei an George. Er kannte so viele, die auf ihrer Seite waren, aber es gab auch die Amerikaner, die den Nationalsozialismus unterstützten.

Am übernächsten Tag hatten die Frauen die Schilder beschriftet und zusammengebastelt. »Stop Hitler, bloody pogroms, Jews & catholic«, stand auf einem, auf einem anderen: »Gentile & Jew, unite against facist menace«.

Luise schlängelte sich mit ihrem Schild zwischen den anderen Demonstranten am Times Square hindurch, bis sie das Café erreichte, vor dem sich die Frauen verabredet hatten. Astrid und die anderen warteten schon, als sie dazukam. Alle hatten ihre Schilder dabei. Rahel und Ester wirkten sichtlich überwältigt, dass so viele gekommen waren. Es mussten um die hundert sein, schwer zu schätzen. Auch andere hatten Schilder dabei, hielten sie hoch und riefen verschiedene Parolen.

Luise hatte es nicht geschafft, zu George in die Kanzlei zu gehen, um zu fragen, ob er mitlaufen wolle. Gestern und vorhin musste sie arbeiten, dazwischen hatte sie das Schild gebastelt und beschriftet.

Ihre kleine Gruppe setzte sich in Bewegung und schloss sich dem Marsch an, während sie ihre Schilder in die Luft reckten. Da spürte Luise plötzlich, wie jemand ihren Arm ergriff. Es war Elly, die außer Atem zu ihnen gestoßen war. Auch sie hatte sich ein Schild gemalt. »Zum Glück habe ich euch noch gefunden, ich musste den Hund ausführen.«

»Jetzt bist du ja da.«

Elly deutete auf ihr Schild. »Es ist nur klein, aber ich hoffe, es bewirkt Großes.«

»Das hoffen wir alle«, antwortete Luise ernst. Sie gingen weiter, die 7th Avenue entlang, und zum ersten Mal fühlte sich Luise ein wenig zugehörig. Diese Menschen fühlten mit den deutschen Juden mit, sie waren nicht nur hier, weil auch ein paar amerikanische Juden betroffen gewesen waren. Sie setzten sich gegen dieses Unrecht ein.

»Ist Richard auch hier?«, erkundigte sich Elly.

Luise schüttelte den Kopf. »Er mag keine Menschenansammlungen. Dabei ist das in Berlin nie ein Problem für ihn gewesen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass er hier ein anderer Mensch geworden ist.«

»Irgendwann wird es sicher besser«, erwiderte ihre Freundin schnell. Sie hakte sich bei Luise unter, und gemeinsam gingen sie mit den anderen weiter, riefen »Stop Hitler!« oder »Unite against fascism!« – gemeinsam gegen Faschismus.

Während sie so dahinschritten, dachte Luise kurz, etwas weiter vorne George zu sehen. Sofort schlug ihr Herz schneller. Aber dann bemerkte sie, dass es ein anderer blonder Mann war. Sie versuchte, nicht mehr an George zu denken, sondern stimmte wieder in die Rufe der Gruppe mit ein.

Irgendwann stieß auch die Presse dazu, es wurden Fotos gemacht, und sie alle hofften sehr, mit ihrer Aktion etwas bewirken zu können. Spätestens jetzt musste die Welt etwas gegen Hitler tun. Und spätestens jetzt musste Maria mit ihrer Familie fliehen und die gutgläubige Anni merken, dass ihr Siegfried sich nicht auf die Seite der Guten gestellt hatte. Hoffentlich meldeten sich die beiden bald bei ihr. Sie machte sich Sorgen. Anni konnte man so leicht verführen, aber die größte Sorge galt Maria, ihrem Mann und den Kindern.

*

In der Zeit nach der Demo schlief Luise schlecht. Immer wieder lag sie wach, dachte an das Geschehen in Deutschland. So viele Synagogen hatten gebrannt, so viele Geschäfte waren zerstört, so viele Menschen geschlagen oder ermordet worden. Hoffentlich lebte Maria noch! Wieso schrieb sie nicht endlich? Aber Luise wusste, dass die Post nach Amerika mitunter lange dauern konnte.

Neben ihr schnarchte Richard. Auch das hatte er in Berlin nicht getan. Mit offenem Mund lag er da, und sie roch seinen säuerlichen Atem. Was war nur mit diesem Mann los? Was machte der Verlust der Heimat mit ihm?

Sie setzte sich auf, ging in den Wohnbereich und bereitete sich einen Tee zu. In was für einem schrecklichen Konflikt musste Anni gerade stecken? Sie liebte ihren Siegfried schon so lange, aber nun konnte sie doch unmöglich weiter mit ihm zusammenbleiben. Denn Luise ging davon aus, dass Siegfried Hitler die Treue hielt.

Gedankenverloren schlürfte sie ihren Tee. Ihre Hände schmerzten wie immer. George hatte ihr zwar eine gute Salbe gebracht, aber selbst die half nicht. Sie hatte mehrere offene Stellen, die nicht heilen wollten. Und Richard hatte zwar vor ein paar Tagen versprochen, wenigstens den Abwasch zu Hause zu erledigen, aber offenbar hatte er das jedes Mal wieder vergessen, wenn sie sich das Spülbecken so ansah. Benutzte Tassen, Gläser und Teller stapelten sich auch heute darin.

Luise seufzte, stellte ihre Tasse zu den anderen ungewaschenen Tassen ins Spülbecken, sah einen Moment hinaus in den nächtlichen Himmel. Durch die vielen Leuchtreklamen sah man kein Sternenlicht. Traurig ging sie wieder zurück ins Bett.

Am nächsten Morgen, als sie schon auf dem Weg zur Arbeit war, begegnete sie dem Postboten. Er hatte einen Brief aus Deutschland für sie. Aufgeregt nahm sie ihn entgegen. Von Anni! Sie rannte damit schnell wieder nach oben, wollte ihn in Ruhe lesen. Zurück in der Wohnung, setzte sie sich im Mantel an den Küchentisch, riss den Brief auf und las fieberhaft.

Liebe Luise,

Ich hoffe, es geht dir gut. Hast du Nachricht von Maria? Ich habe nichts von ihr gehört, bin aber auch in der Uckermark bei meiner Tante. Siegfried passt so gut auf mich auf. Er meinte, ich soll eine Weile dort bleiben, das täte mir gut. Die Luft ist hier besser, das ist gut für mein Asthma. Es ist auch wirklich schön hier. Meine Tante hat Hühner, Kaninchen, Obstbäume, sogar ein Pferd. Ich habe angefangen zu reiten – stell dir das vor. Und ich helfe ihr, die Kaninchen zu schlachten. Das hättest du mir sicher nicht zugetraut, was? Ich mir auch nicht, aber manchmal wächst man über sich hinaus. Es ist zwar nicht schön und sehr blutig, aber wir brauchen ja das Fleisch.

Luise hielt angewidert inne. Niemals könnte sie ein niedliches Kaninchen schlachten. Sie wunderte sich, dass Anni da so abgebrüht geworden war. Früher hatte sie nicht einmal eine Fliege zerquetschen können.

Ich vermisse Siegfried sehr. Aber er hat viel zu tun und hätte in Berlin eh keine Zeit für mich, sagt er. Insofern genieße ich das Landleben, helfe meiner Tante zu kochen und zu backen. Ich hoffe, du hast das Restaurant in New York noch nicht gegründet, hier in der Uckermark oder in Berlin wäre es mir wirklich lieber. Das wollte ich dir sagen. Ich glaube ja fest daran, dass bald alles wieder gut wird. Was da alles passiert ist, ist schrecklich, die Menschen werden sich wieder besinnen. Ich glaube an das Gute, das weißt du ja. Es gibt also keinen Grund für mich, nach New York zu gehen. Und dann kommst du ja auch hoffentlich bald wieder zurück.

Es grüßt dich von Herzen

Deine Anni

Nachdenklich ließ Luise den Brief sinken und legte ihn auf den Küchentisch. Wie konnte Anni nur so gutgläubig sein? Schön wäre es. Aber nach den Pogromen konnte man doch sowieso nicht mehr auf ein gutes Ende hoffen und alles verdrängen.

Und Anni wusste auch nicht, wie es Maria ging. Ein Knoten bildete sich in Luises Magen. Maria wusste ganz sicher, dass sich ihre Freundinnen um sie sorgten. Die Post nach Amerika dauerte lange, und Maria hatte sicher nicht die Adresse von Annis Tante in der Uckermark, wusste bestimmt nicht, dass Anni dort war. Hoffentlich kam bald ein Lebenszeichen von Maria. Oder schreibt sie nicht, weil es ihr nicht gut geht?, fragte sich Luise schockiert. Die Vorstellung, dass ihrer Freundin und deren Familie etwas zugestoßen sein könnte, während sie hier mit Richard in Sicherheit war und sich über sein Schnarchen aufregte, schnürte ihr die Kehle zu.

Am nächsten Dienstag verließ Luise wieder nach einem Streit mit Bob das Café, eilte durch die Straßen Manhattans zu Jack Dempsey’s Restaurant in die 8th Avenue. Kalter Novemberregen prasselte auf sie ein, und sie wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Sie musste die anderen Frauen sehen, die genauso Angst um ihre Liebsten zu Hause hatten wie sie. Sie musste sich austauschen, reden, zuhören, all das, was sie mit Richard nicht konnte. Natürlich hatten ihn die Pogrome zutiefst schockiert. Aber statt ihn wachzurütteln, ließ es ihn sogar noch mehr verzweifeln. »Es hat doch alles keinen Sinn, dagegen kommen wir nicht mehr an«, hatte er gesagt. Aber bei Luise hatte es genau das Gegenteil bewirkt. Sie musste noch viel mehr tun.

Astrid, Rahel und zwei andere Frauen saßen in ihrem Stammcafé bei einem Tee und unterhielten sich über ihre Bekannten und Familienangehörigen in Deutschland, als Luise dazukam.

»Ich habe von meiner Freundin Maria und ihrer Familie auch nichts gehört«, verkündete sie und setzte sich. Die anderen Frauen hörten ihr aufmerksam zu, während sie über ihre Sorgen sprach. Es tat so gut, ihre Angst kundtun zu können, verstanden zu werden.

»Vielleicht kann man ja über das Deutsche Rote Kreuz Informationen über unsere Verwandten bekommen?«, überlegte Astrid laut. Aber darauf wusste keine der Frauen eine Antwort.

»Würdest du dich dort mal erkundigen, Astrid?«, fragte Ester hoffnungsvoll. »Vielleicht bringt es nicht viel, und wir wissen hinterher immer noch so viel wie vorher, aber einen Versuch ist es wert.«

»Das mache ich gerne«, erwiderte Astrid. »Die Rechte und die Würde der Menschen wurden in der Pogromnacht mit Füßen getreten«, fuhr sie fort. »Ich habe gelesen, dass viele nur schweigend und gleichgültig hingenommen haben, was geschehen ist. Unter den Gaffern wurde sogar gejubelt und gejohlt.«

»Das habe ich auch gehört«, pflichtete Rahel ihr bei und fügte bitter an: »Wir Juden wurden in dieser Nacht im Stich gelassen und zur Ermordung freigegeben.«