KAPITEL 18

New York, Manhattan, 2023

June ging die 23rd Street entlang, zu der Kanzlei, in der Walter arbeitete, zog ihren Schal enger, es war frisch. Heute Nacht, als sie weiter im Notizbuch ihrer Großmutter gelesen hatte, war ihr ein Gedanke gekommen. Ein unwahrscheinlicher Gedanke, aber sie wollte allem nachgehen. War es möglich, dass Walters Kanzlei in demselben Gebäude lag, in dem George damals gearbeitet hatte? Dem Haus, in dem Luise für eine kurze Zeit am Empfang gearbeitet hatte? War aus Luise und George ein Liebespaar geworden, und Walter war womöglich irgendwie mit ihr verwandt? June wusste selbst, dass es unwahrscheinlich war, aber vielleicht war es das, was ihre Großmutter ihr verschwiegen hatte?

Gleich heute Morgen hatte sie Walter eine Nachricht geschrieben und um ein spontanes Lunch-Date heute gebeten. Er hatte sofort zugesagt. Bei der Gelegenheit wollte sie ihn auch noch etwas anderes fragen.

June kam an dem Bürogebäude an, betrachtete es. Das Haus sah alt aus, als ob es Ende der Dreißigerjahre schon hier gestanden haben konnte.

Sie wollte Walter gleich darauf ansprechen, schrieb ihm wie verabredet eine Nachricht.

Bin unten, kommen Sie?

Offenbar wollte er vermeiden, dass alle in der Kanzlei mitbekamen, dass er mit seiner Mandantin erneut essen ging. Sie verstand das, dachte unwillkürlich an George und Luise damals und musste lächeln.

Während sie an der Hausecke wartete, eilten Leute in Anzug oder Kostüm an ihr vorbei, vermutlich alle auf dem Weg zum schnellen Businesslunch. Sie kannte das von ihrem Praktikum, das sie nach der Schule noch in New York gemacht hatte. Nicht einmal in der Mittagspause konnte man entspannen, musste mit den Chefs und Kollegen essen gehen und auf jedes Wort und jeden Kommentar achten. Sie hatte das als sehr anstrengend empfunden. In Deutschland war das zwar oft auch so, aber die Leute waren weniger gestresst, freundschaftlicher, kollegialer, zumindest die meisten.

Walter trat wenige Minuten später aus der Haustür des Bürogebäudes, entdeckte sie, kam auf sie zu. Er trug einen edlen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte. »Hallo, schön, Sie zu sehen.«

»Hallo. Finde ich auch.« Sie lächelten sich an.

»Viel Zeit habe ich leider nicht so spontan«, entschuldigte er sich. »Das Restaurant Ihrer Großmutter wäre jetzt ehrlich gesagt zu weit.«

»Kein Problem, wir können gern etwas in der Nähe nehmen. Vielen Dank, dass Sie so spontan zugesagt haben. Haben Sie einen Vorschlag?«

Walter kannte ein kleines Lokal, unweit des Broadways.

Es war ein gemütlicher Laden mit einer Brokattapete im Gastraum, dunkelbraunen Tischen und Stühlen, auf dem Tresen stand eine alte Kasse. Nichts Modernes, Hippes. Vier der sechs Tische waren besetzt.

»Mein Vater ist hier gerne hingegangen, und ich mag es auch. Vor allem das Essen. Einfach, aber gut. Die Kollegen sind zum Glück nicht so oft hier.« Er lächelte. Eine nette ältere Bedienung kam herüber, führte sie zu einem der freien Tische und nahm ihre Bestellung auf. Walter empfahl Fischsuppe, dazu Baguette. Sie entschieden sich beide dafür, auch für eine Flasche Wasser.

Nachdem die Bedienung gegangen war, stützte Walter seine Ellenbogen auf den Tisch, faltete seine Hände ineinander, sah June an. »Wie kann ich Ihnen helfen? Wie weit sind Sie mit Ihren Recherchen zu Maria gekommen?«

»Zunächst einmal kam mir ein Gedanke. Hat Ihre Kanzlei etwas mit der zu tun, in der George arbeitete? Sprich, sind Sie irgendwie verwandt mit George Clay?«

Walter schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Okay, war nur so ein Gedanke.«

Sie erzählte ihm, in welchen Archiven sie bereits zu Marias Verbleib recherchiert hatte, was sie über die Buchhandlung der Kirschbaums und die Familie herausgefunden hatte. »Alles endet nach wie vor 1939. Danach sind sie wie vom Erdboden verschluckt. Nach Amerika konnten sie wohl nicht mehr. Aber zum Glück habe ich sie auch auf keinen Listen der Nazis gefunden, die Listen, die sie in den KZs geführt haben. Allerdings konnte ich in der kurzen Zeit natürlich nicht alles durchforsten, wer weiß.« June seufzte. Es schien eine Lebensaufgabe zu werden. Was hatte sich ihre Großmutter nur dabei gedacht?

Walter überlegte. »Haben Sie es schon mit den diversen Genealogie-Seiten im Internet versucht? Ich kenne einige Hobbyforscher, die da ihren virtuellen Stammbaum angelegt haben. Man findet sogar Fotos und oft Verwandte.«

»Ja, ich habe mich auf zwei Seiten bereits umgesehen, aber der Name Jakob Kirschbaum ist sehr häufig, und ich habe nur sein Geburtsdatum durch die Eintragung seiner Buchhandlung damals, nicht die Namen seiner Eltern oder Ähnliches. Es kam nicht heraus, was aus ihnen geworden ist. Mehr über ihre Vorfahren muss ich ja nicht wissen. Für meinen Fall bringt es, glaube ich, nicht viel. Und es ist teuer.«

»Das stimmt, es kostet natürlich einiges, und ich habe gehört, man verliert sich schnell im Dickicht – einige locken wohl mit Dokumenten bis ins Mittelalter, mit Bildern von Ritterrüstungen oder von Henkern.«

June musste lachen. »Ja, so ist es.« Seufzend fügte sie hinzu: »Wenigstens ein paar Angaben zu ihren Freundinnen hätte meine Großmutter für mich notieren können. Ich recherchiere weiter in seriösen Archiven. Aber das kann natürlich Jahre dauern.«

»Was machen wir denn da?«, überlegte Walter laut.

»Sie müssen nichts machen, für Sie ist es ein normaler Fall, aber für mich ändert sich gerade mein ganzes Leben, habe ich das Gefühl.« Es brach aus ihr heraus, entsprach aber der Wahrheit. Die Bedienung brachte die Getränke, das Baguette und eine Küchenhilfe die dampfende Suppe. Kleine Fisch- und Gemüsestücke schwammen darin. Es duftete köstlich.

Walter sah June intensiv an, als sie wieder allein waren, schüttelte den Kopf. »Nein, es ist kein normaler Fall.«

Wie meinte er das? Kein normaler Fall. Was sah er sie so eindringlich an? Mochte er sie?

»Was meinen Sie damit?«, fragte June geradeheraus.

»Es ist kein normaler Fall, weil sowohl Ihre Großmutter als auch Sie ganz besondere Menschen sind.«

Verdutzt sah sie ihn an, bedankte sich für seine Worte, löffelte verlegen ihre Suppe. Er mochte sie also wirklich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Walter aß nun auch. Er war sehr sympathisch, aber er bewegte nichts in ihr, zumindest noch nicht. Nicht so wie Hendrik, dachte sie unwillkürlich. Bei ihm hatte ein Blick gereicht.

Hendrik schrieb ihr regelmäßig Nachrichten, auch heute Morgen, informierte sie, welches Archiv er durchforstet hatte. Bisher ohne Erfolg. Auch über seine Familie recherchierte er dort jeweils, über den Verbleib seiner jüdischen Vorfahren, hatte aber bisher nichts weiter über sie herausgefunden. Dass er sich so viel Zeit nahm, auch nach Maria zu suchen, war so unglaublich nett von ihm. Dennoch, sie kannte ihn kaum. Walter auch nicht.

Die betretene Stille zwischen ihnen dauerte immer länger an. Nur das Klappern der Suppenlöffel war zu hören, Stimmen der anderen Gäste im Hintergrund. Und was war mit Anton? Er kam in ihrem Leben gerade so gar nicht vor, hatte sich selbst in den Hintergrund katapultiert.

Sie hielt inne, sah Walter an. »Um ehrlich zu sein, habe ich Angst, Großmutters Bitte nicht gerecht zu werden. Ich meine, um das Vermögen wäre es natürlich schade, aber ich lebe auch gut ohne. Viel schlimmer wäre es, versagt zu haben.«

Er schüttelte den Kopf. »Das werden Sie nicht. Sie werden Marias und Annis Geschichte herausfinden. Und die Ihrer Großmutter. Ihre Großmutter hat es Ihnen zugetraut, und ich tue das auch, nachdem ich Sie ein wenig kennenlernen durfte.«

June lächelte. Er hatte recht. Angst lähmte nur, brachte sie nicht weiter. Sie musste an sich selbst glauben. Andere taten das.

Wieder sah er sie so nachdenklich an. »Wollen wir uns nicht duzen, wenn wir Deutsch sprechen?«, schlug er vor. Er konnte ein wenig Deutsch, hatte ein Jahr in München studiert.

»Gern.« Es stimmte also. Er mochte sie, mehr als nur eine Klientin. Sie beschloss, sich jetzt nicht weiter mit der Frage zu beschäftigen, welcher Mann sie mochte und wen sie selbst. Sie musste ihren Kopf frei machen für die Recherche.

*

New York, 18. Februar 1939

Luise wollte sich jetzt nur noch auf politische Aktionen konzentrieren, so hatte sie es gestern in ihr Notizbuch geschrieben. All ihre Sehnsucht nach George brachte sie nur um den Verstand und führte zu nichts außer zu Leid für alle Beteiligten. Er hatte sie mit seiner Aussage, keine Ehefrau zu suchen, verletzt. Die vergangenen Tage hatten sie sich nicht mehr gesehen. Aber vorhin hatte er unerwartet vor der Tür gestanden und saß jetzt an ihrem Küchentisch. Er hatte vorgegeben, Richard besuchen zu wollen. Der war aber bei einem Englischkurs, endlich.

Sie stand am Herd, goss frisch aufgebrühten Kaffee in zwei Tassen. Der Kaffeeduft erfüllte den Raum. Georges Anwesenheit verursachte dennoch ein Kribbeln in ihrem Nacken. Sie nahm die gefüllten Tassen, drehte sich damit um und stellte sie auf den Küchentisch. Dann setzte sie sich zu ihm. Sah seinen sehnsüchtigen Blick. Doch sie wich ihm aus, nahm ihre Tasse und trank vorsichtig. Der Kaffee war heiß. Ihr wurde heiß. Ihre Gedanken schwirrten.

George räusperte sich. »Ich bin auch hergekommen, weil ich mich nach einer Arbeit für dich umgehört habe, Luise. Oder hast du schon etwas gefunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

»Die Nachfrage nach Hausangestellten ist wohl gestiegen, habe ich gehört. Viele Amerikaner, auch Schwarze, die bisher Housekeeper waren, arbeiten jetzt in der Rüstungsindustrie. Deshalb wurden in Haushalten Jobs frei. Ich weiß, es wäre auch wieder viel für deine Hände, aber besser, als in Bobs Café die Teller zu spülen, ist es allemal.«

Sie sah auf ihre Hände. Sie waren schon viel weniger rot und die Wunden weitestgehend geheilt.

»Würdest du das wollen? Dann kann ich dir eine Adresse nennen, wo du Aushänge findest.«

Luise nickte sofort. »Doch, natürlich. Ich danke dir.«

George erklärte ihr, wo es die Job-Ausschreibungen gab, in der Nähe des Broadway. Er wusste es von einer Bekannten.

Sie stellte ihre Tasse ab, sah ihn an. »Hast du von der geplanten Versammlung morgen im Madison Square Garden gehört? Astrid hat es mir erzählt, am Garden wird dafür geworben.«

Er nickte missmutig.

Das Café, in dem sich ihre Frauengruppe öfter traf, lag unweit der riesigen Veranstaltungshalle. Normalerweise fanden dort Sportveranstaltungen und Konzerte statt, das wusste Luise. Aufgewühlt fuhr sie fort: »Amerikanische Nazis treffen sich da, George! Mehrere tausend werden erwartet.«

»Ja, leider. Das geht vom deutsch-amerikanischen Bund aus, eine der erfolgreichsten Pro-Nazi-Organisationen in den Vereinigten Staaten. Es wird eine Massenkundgebung, sie meinen, sie stehen für den ›wahren Amerikanismus‹.«

»Wir müssen etwas dagegen tun«, erwiderte sie aufgebracht. Seit sie davon gehört hatte, musste sie immer wieder daran denken.

»Ich fürchte, es ist zu spät. Es wird wirklich eine Massenveranstaltung. In den Garden passen über 18.000 Zuschauer, und ich habe gelesen, es ist so gut wie ausverkauft.«

»Oh Gott, das darf alles nicht wahr sein. So viele Nazis in Amerika. Es ist nie zu spät. Lass uns hingehen. Wir könnten wenigstens … demonstrieren, dass wir dagegen sind«, entgegnete sie aufgebracht.

Er nickte nachdenklich. »Das könnten wir.« Wieder dieser sehnsüchtige Blick.

»Vielleicht kommt Richard ja auch mit«, sagte sie schnell.

*

»Auf keinen Fall! So viele Nazis auf einem Haufen, das halte ich nicht aus.« Richard saß wenig später, nachdem George längst gegangen war, in der Küche auf einem Stuhl, rieb sich über die Schläfen. Sie hatten sich verpasst, aber dass George da gewesen war, ließ seine Eifersucht wieder aufflammen. Seine Nerven wurden zunehmend schlechter. Der Englischkurs strengte ihn zusätzlich an.

»Dann gehe ich alleine.« Sie griff nach der Kaffeetasse, aus der George getrunken hatte, stand auf, um sie zu spülen.

»Mit George?«, hakte er sofort nach.

Luise hielt inne. »Ja, oder willst du, dass ich als Frau alleine nachts zu all den Nazis gehe?«

Richard rang einen Moment mit sich. Schüttelte dann den Kopf. »Natürlich nicht. Ich möchte gar nicht, dass du da hingehst.«

»Aber ich möchte es.«

Sie schauten einander in die Augen. Richards Blick war müde, der Blick eines gebrochenen Mannes.

»Dann geh doch, Luise, es hat ja eh keinen Sinn, dir das auszureden.« Er stand auf, lief hinaus in den Flur.

Luise sah ihm nach, die Tasse von George immer noch in der Hand.

*

Am nächsten Abend hatte sich Luise zurechtgemacht und wartete, wie am Vortag verabredet, unten vor ihrer Haustür auf George.

Es vergingen keine zwei Minuten, da spürte sie eine Hand auf ihrem Rücken, atmete seinen Geruch ein, schloss für einen Moment, sodass er es nicht sehen konnte, die Augen. Sie drehte sich zu ihm. »Hallo, lass uns gehen.«

»Schön, dich zu sehen«, entgegnete er. »Richard kommt also nicht mit?«

»Nein.«

Sie schauten sich beide an, und in seinem Blick lag wieder diese Sehnsucht. Nein, sie bildete sich das nicht ein. Es konnte ein gefährlicher Abend werden.

Gemeinsam fuhren sie mit der Subway, gingen weiter zum Madison Square Garden, diesem riesigen Gebäude in der Eighth Avenue zwischen der 49th und 50th Street. Der »Garden«, wie ihn die New Yorker nannten, war wie eine große Arena gebaut, davor ein Bau mit Leuchtreklamen. Auf einem leuchtenden Schild stand über dem Eingang:

Madison SQ Garden:

To Night – Pro American Ralley

Hockey Tues Night – Rangers vs Detroit

Basketball Wed Night – Fordham vs Pittsburgh

Vor dem Garden war schon eine große Menschenmenge von bestimmt mehreren tausend Männern versammelt. Die meisten in naziähnlichen Uniformen, sodass es Luise zutiefst schauderte. Aber zum Glück waren auch Gegner der Veranstaltung gekommen, einige hundert mussten es sein, darunter auch Frauen. Ein paar riefen Parolen gegen Nazis. Luise und George stellten sich zu ihnen, dicht an dicht.

Es war bald 18 Uhr, und es fanden sich immer noch mehr Demonstranten ein, die gegen die Nazis skandierten. Auch Luise und George riefen mit: »Nazis raus, Freiheit für alle!«

Plötzlich entdeckte sie am Rand der Menschenmenge ein großes Polizeiaufgebot, die meisten zu Pferde. »Sieh mal, George.«

»Gut, dass sie da sind«, fand er.

Aber als die Polizisten sich mit den Demonstranten anlegten, wurde bitter klar: Die Polizisten waren hier, um das Recht der Nazis auf »freie Meinungsäußerung« zu verteidigen. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten.

»Ich fasse es nicht, dass sie für die Nazis sind«, entfuhr es Luise. Ein junger Mann warf eine Flasche in die Menge und sofort gab es einen lautstarken Tumult, die Polizei griff mit Knüppeln ein.

»Weg hier«, sagte George. »Lass uns aus der Schusslinie gehen, ich habe Karten, wir gehen schnell in den Garden.«

»Du hast Karten?«

Er antwortete nicht, nahm Luise am Unterarm und zog sie mit sich hinein. Sie wurde in dem Gedränge an ihn gepresst, registrierte, dass sie aber auch an Nazis in Uniformen gedrängt wurde. Sie strömten mit ihnen hinein, und Luise sah diesen Kerlen angewidert ins Gesicht. Am liebsten hätte sie die Typen angespuckt. Sie fühlte sich unwohl in dieser beklemmenden Situation, wäre am liebsten gegangen. Aber sie musste sehen, was hier geschah.

»Wusstest du, dass so viele Demonstranten kommen?«, fragte sie George außer Atem. Durch die sich vorwärtsschiebende Menge wurden sie jetzt noch dichter aneinandergedrängt. Sein Atem streifte ihr Gesicht.

Er schüttelte den Kopf. »Es gab am Morgen in den New York Daily News einen Aufruf der Socialist Workers Party, der amerikanischen Trotzkisten. Seltsamerweise hat sich sonst keine Gruppe gegen diese Versammlung gestellt, zumindest nicht öffentlich, soviel ich weiß.«

Als sie in die große Eingangshalle kamen, gingen sie an den Kartenkontrolleuren vorbei hinein, hier wurde es nicht mehr so eng. Luise sah sich staunend um – wie groß die Halle war und wie viele Menschen hier hineinpassten! Tatsächlich schien der Garden ausverkauft, es gab also fast 20.000 amerikanische Nazis, die hergekommen waren. Es waren fast nur Männer, aber dort sah sie auch eine Frau. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was, wenn es bald überall auf der Welt Nazis geben würde? Was war nur mit der Menschheit los?

Sie fanden ihre Plätze, gleich an der rechten Seite der Bühne. Von hier aus hatte man keine gute Sicht auf das Podium, vermutlich hatte George die Karten deshalb noch bekommen. Aber man konnte die Geschehnisse auf den Publikumsrängen beobachten. Zutiefst entsetzt blickte sich Luise um, es machte sie sprachlos. Die Halle war mit riesigen Fahnen geschmückt, auf denen Hakenkreuze prangten. Dazu Fahnen mit Sternen und Streifen.

Es ging los. Die Menschenmenge sang »The Star-Spangled Banner«, während alle den Hitlergruß zeigten.

»Das gibt es doch nicht«, entfuhr es Luise erschüttert. George schien genauso schockiert zu sein wie sie. Mit großen Augen hörten sie den Rednern zu, es wurde offenbar auch George Washingtons Geburtstag gefeiert, der Amerikanismus an sich. Transparente verkündeten »Wake up, America!«, sie erinnerten Luise stark an Hitlers »Deutschland, erwache!«. Hunderte uniformierte Truppen schützten die Kundgebung, die Reden bestanden aus Judenhetze und stumpfsinnigen Parolen.

Luises Fassungslosigkeit wandelte sich in Wut um.

Als erneut auf die Juden geschimpft wurde, konnte sie sich nicht mehr halten, etwas ging mit ihr durch. Ohne nachzudenken, verließ sie ihren Platz, rannte los, bahnte sich mit aller Kraft den Weg durch die Nazis, rempelte dabei Uniformierte an, wollte nur noch auf diese Bühne, um diese barbarischen Reden zu stoppen. Dabei dachte sie an Maria, Jakob und die Kinder, Tränen rannen ihr übers Gesicht, alles fühlte sich wie in einem schlechten Traum an. Ihre Füße trugen sie wie von alleine die paar Stufen hinauf auf die Bühne, zu diesem widerlichen Redner, der die Gehirne der Anwesenden vernebelte. Sie musste ihn stoppen! Unbedingt! Mehr konnte sie nicht denken. Doch plötzlich wurde sie an den Schultern gepackt, von Uniformierten unsanft auf den Boden gedrückt, beschimpft und an den Armen unter Gegröle von der Bühne heruntergeschleift. Es tat weh, sie spürte einen Schmerz an ihrem Bein und sah, dass sich ein Riss durch ihren Rock und ihre Strümpfe zog.

Suchend schaute sie sich nach George um. Erst fand sie ihn in der aufgebrachten Menge nicht, aber dann sah sie, dass er sich auch im Klammergriff der Nazis befand. Oh Gott, was hatte sie getan? Die Pferde waren mit ihr durchgegangen, wie Richard sagen würde. Offenbar hatte George ihr helfen wollen, war aber ebenfalls festgehalten worden.

Doch er sah sie nur fasziniert an, lächelte ein klein wenig. Luise lächelte zurück. Auch wenn die Veranstaltung nur für einen kurzen Moment unterbrochen worden war, hatte sie es immerhin geschafft, die Rede zu stören und vielleicht ein paar anderen Mut zu machen. Ganz offensichtlich, denn ihrem Beispiel zu stören folgten noch ein paar andere, wie sie jetzt voller Genugtuung mitbekam.

Die Männer, die sie festhielten, drückten am Arm noch mehr zu, der Knebelgriff tat weh, sie beschwerte sich, aber es half nichts, es war so laut, dass sie sie vermutlich eh nicht hörten. Die Wachen schoben George und sie nach draußen ins Foyer. Was würde jetzt mit ihnen geschehen?

Wütend verlangten die Männer ihre Ausweispapiere, aber Luise hatte keine dabei. Da sah sie, dass sie am Bein blutete.

George regte sich sofort auf, erklärte den Wachen, dass er Anwalt sei und sie diese Dame verletzt hätten. Die Wachen widersprachen, verlangten eine ordentliche Geldstrafe, die sie sofort zu begleichen hätte. Vermutlich würden sie sich das Geld in die eigene Tasche stecken.

George schaffte es, dass Luise nur eine geringe Geldstrafe bekam, zahlte sofort. Zum Glück nahmen die Wachmänner die Scheine, steckten sie schnell ein, hatten offensichtlich keine Lust, sich weiter mit ihr zu beschäftigen. Sie verwiesen die beiden des Hauses, schoben sie hinaus auf die Straße.

Luise spürte Georges Hand in ihrer. Seine warme Hand tat gut, gab ihr Halt, denn draußen tobte die Menge. Es waren inzwischen noch mehr Demonstranten geworden, die sich mit den vielen Polizisten jetzt regelrechte Straßenschlachten lieferten. Einige rangelten neben ihnen, ein Polizist vor ihnen schlug gerade mit einem Knüppel auf einen ein.

»Oh Gott, wir müssen ihm helfen«, brach es aus Luise heraus. In dem Moment ließ der Polizist von ihm ab, weil sich der Mann auf den Boden duckte, die Hände über den Kopf riss.

»Komm, es ist hier viel zu gefährlich geworden.« George legte seinen Arm um ihre Hüfte und schob sie wortlos aus der Menge.

Schwer atmend standen sie sich einige Meter weiter unter einer Straßenlaterne gegenüber, am liebsten hätte sich Luise an ihn gelehnt und geweint. Der Anblick dieser vielen Nazis, ihre Reden, das alles hatte sie zutiefst aufgewühlt. Aber sie hielt sich zurück.

»Bringst du mich bitte zur Subway?«, fragte sie ihn.

»Ich bringe dich vor die Haustür«, erklärte George, und seine Stimme erlaubte keinen Widerspruch. Sie gingen los, noch ganz gefangen von diesen Bildern.

»Wenigstens gab es einige, die protestiert haben«, sagte er betreten, während sie am Empire State Building vorbeikamen. Luise betrachtete das höchste Gebäude der Welt.

»Zum Glück, sonst hätte ich in diesem Land nicht mehr leben mögen.« Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass sie keine Wahl hatte, denn in ihre Heimat, nach Deutschland zurückzukehren, wo es noch viel mehr Nazis gab, war absolut keine Option. Erst wenn die Menschen zu Hause wieder zur Vernunft gekommen sind, schwor sie sich, erst dann werde ich für immer zurückkehren.