New York, 2023
Miriam Teitelbaum, die Besitzerin der Old German Bakery, musste Ende sechzig sein, trug kurze, dunkel gefärbte Haare, einen teuer aussehenden Hosenanzug und lebte in einer Penthouse-Wohnung mit Dachgarten. Und sie war die Tochter von Ester, Luises damaliger Freundin. Mrs. Teitelbaum hielt in ihrer Erzählung über Luise und George inne. Sie hatte sich sofort Zeit für June und Hendrik genommen, sie bei sich zu Hause empfangen. Nun tranken sie Darjeeling-Tee auf ihrer Dachterrasse, und die Dame erzählte ihnen alles, was sie durch ihre Mutter Ester über Luise wusste.
»Ihre Großmutter war eine sehr engagierte, mutige Frau«, fuhr Miriam fort. »Ihre Texte wurden wirklich in einem kleinen Radiosender verlesen. Und sie machten im Radio Werbung für den Window-Shop. Danach lief er noch besser.«
»Wie großartig«, entfuhr es June. »Fällt Ihnen noch etwas zu meiner Großmutter ein?«
»Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen leider nicht berichten. Sie hat wohl öfter meiner Mutter ihr Herz ausgeschüttet, auch wegen ihrer Gefühle zu George, wie zerrissen sie beide waren.«
»Wissen Sie, wie es mit den beiden weiterging? Haben sie geheiratet?«
»Das weiß ich leider nicht. Tut mir leid.«
»Sie haben mir meine Großmutter noch ein kleines Stück nähergebracht, ich danke Ihnen.«
Miriam Teitelbaum verabschiedete die beiden mit einer Umarmung, sie duftete nach Rose und Lavendel. Ehe sie hinaustraten, wünschte sie June viel Glück bei ihrer weiteren Suche nach Maria und Anni. »Es ist wichtig zu wissen, was aus den Menschen geworden ist, es ist wichtig, an sie zu erinnern. Schön, dass Sie für die drei Freundinnen und die Familie der einen je einen Stolperstein in Berlin setzen wollen, eine wirklich schöne Idee.«
»Ja, nur muss ich erst einmal herausfinden, was mit ihnen allen geschehen ist.«
»Das werden Sie, da habe ich keine Zweifel.«
Nachdenklich verließen Hendrik und June das Penthouse. Er hatte sich die ganze Zeit sehr zurückgehalten, folgte ihr nun schweigend ins Freie. Die Sonne ging bereits unter. June trat auf den Gehweg, etwas zu nah an die Straße, denn eine Limousine fuhr hupend an ihr vorbei. Hendrik zog sie fürsorglich am Arm zurück. »Pass auf.«
»Oh, danke. Die Erzählung von Miriam hat mich ziemlich aufgewühlt. Endlich eine Zeitzeugin, nicht ganz, sie war ja nur die Tochter, aber ihre Mutter hat ihr von meiner Großmutter in jungen Jahren erzählt.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Möchtest du etwas trinken gehen? Wir könnten in die Bar am Times Square, in der sich deine Großmutter mit George ab und zu getroffen hat«, schlug er vor. »Laut Mrs. Teitelbaum gibt es sie ja noch.«
June musste lächeln. Sie beide auf den Spuren der beiden Liebenden. Wollte er ihr damit etwas sagen? Plötzlich war er ihr wieder so nah. »Sehr gern«, erwiderte sie dankbar.
Sie liefen los, dicht nebeneinander, den belebten Weg zur Subway. Empfand er etwas für sie? Und wenn ja, so viel wie sie für ihn? Denn das wurde ihr gerade klar. Dieser hilfsbereite, zuvorkommende Mann hatte ihr Herz erobert. Es schlug schneller als sonst, vermutlich auch lauter. Ihr war beinahe, als könnte man es hören. Sie sah ihn von der Seite an, seine leicht verstrubbelten blonden Haare leuchteten in der Sonne. Wieder musste sie an Luise und George denken. Was war aus deren Liebe geworden?
Als sie am Times Square aus der Subway traten, mussten sie sich durch einige Touristen schlängeln, die fasziniert die Leuchtreklamen beobachteten und mit ihren Smartphones fotografierten.
Hendrik nahm ihre Hand, um sie an einer Gruppe, die italienisch redete, vorbeizulotsen, und führte sie in die Bar, die Miriam Teitelbaum ihnen genannt hatte. Es gab sie wirklich noch. Eine riesige Leuchtreklame prangte über der Tür. Aber natürlich war sie längst renoviert und modernisiert worden, so stylish und cool, wie sie aussah, konnten das nicht die alten Möbel sein. Eine lange, verspiegelte Theke mit riesiger Alkoholauswahl, plüschige Loungesofas, alles neu und modern. Aber dennoch die Bar, in die Luise und George immer gegangen waren. Er ließ ihre Hand wieder los, am liebsten hätte sie seine erneut genommen. Doch sie riss sich zusammen, schaute sich schnell weiter um.
Die Loungesofas waren alle belegt, und Hendrik schlug vor, sich an die Bar zu setzen. Dort bestellten sie bei einem älteren Barkeeper je einen Tequila Sunrise, der laut Hendrik in den Dreißigerjahren erfunden worden war. Der Barkeeper bestätigte das. »Auch wenn ich nicht dabei war«, fügte er lachend hinzu.
»Wow, dann haben George und Luise vielleicht auch Tequila Sunrise getrunken«, wandte sich June an Hendrik.
»Bestimmt.« Sie sahen dem Barkeeper zu, wie er ihren Tequila Sunrise mixte.
»Schön, dass Miriam meinte, dass Luise nach den Erzählungen ihrer Mutter eine offene, herzliche Person war. So habe ich Großmutter auch empfunden.«
»Wie du.« Er sagte es mit einem schmerzlichen Unterton in der Stimme.
June sah ihn abwartend an, aber er schwieg, biss sich auf die Unterlippe. Wieder hatte sie dieses Gefühl, er wolle ihr etwas sagen. Doch er lenkte ab, erst auf ihre Großmutter, dann auf seine Familiengeschichte. Er hatte in dänischen Archiven ja auch nach seinen Vorfahren geforscht und berichtete jetzt davon.
Vom Bundesarchiv und Arolsen Archiv hatte er noch keine Antwort erhalten, online selbst nichts gefunden. »Bisher bin ich also nicht sehr weit gekommen. Ich denke, in Deutschland ist es kaum bekannt, dass die Nazis auch in Dänemark gewütet haben, hab ich recht?«
»In der Tat, das glaube ich auch. Ich wusste es zumindest nicht.«
»Dabei gab es diese tapferen, mutigen Dänen, die so viele Juden versteckt und ihnen geholfen haben. Mich hat das so beeindruckt, dass ich mich sofort gefragt habe, ob auch ich den Mut besessen hätte.«
»Das frage ich mich auch immer wieder, wenn ich mehr von den Aktionen meiner Großmutter erfahre.« Sie sah Hendrik an. »Ich glaube, wir sind beide mutig.«
Er lachte auf. »Du ja, aber woher willst du das von mir wissen?«
»Das spüre ich.«
Der Tequila Sunrise schmeckte köstlich, es machte Spaß, sich mit Hendrik zu unterhalten. Die Zeit verflog, bald schon waren sie beim dritten Drink. Sie prosteten sich zu, sahen einander dabei an. Junes Magen fühlte sich flatterig an, ein wunderschönes Gefühl. Plötzlich spürte sie Hendriks Hand auf ihrer, er streichelte sie sanft, sah ihr in die Augen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mutig bin«, sagte er leise.
»Doch, das bist du.«
Er lehnte sich nahe zu ihr, kam immer dichter, bis sich ihre Lippen fanden, sie seine weiche Haut spürte, seinen Atem.
In dem Moment klingelte Junes Handy. Sie wollte es ignorieren, aber es hörte nicht auf.
Er löste sich von ihr. »Geh ran«, sagte er sanft.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Es könnte wichtig für deine Recherche sein.«
Sie seufzte, holte das Handy heraus, wollte kurz nachsehen, ob es Anton war, aber auf keinen Fall rangehen. Es ausstellen. Walter stand da.
»Oh nein!«, entfuhr es ihr. Sie sah, dass es bereits 21 Uhr war, schlug sich die Hand vor den Mund.
»Was ist?«
»Walter. Ich meine, der Anwalt meiner Großmutter. Ich fürchte, ich habe ihn versetzt.«
»Wie spät ist es denn?«, fragte auch er etwas erschrocken.
»21 Uhr«, murmelte sie. »Er wollte mich um 19 Uhr zu Hause abholen. In Washington Heights.« Sie sah, dass Walter schon ein paar Nachrichten geschrieben hatte. Wie unangenehm. Sie hatten die Zeit vergessen, komplett.
»So spät schon? Ich muss auch los. Ruf ihn doch gleich zurück, vielleicht ist er ja nicht beleidigt.«
»Was? Nein … doch, ja, du hast recht.«
Sie zahlten schnell und verließen die Bar.
Draußen vor dem Restaurant blieb Hendrik stehen, trat einen Schritt näher, nahm ihren Kopf in beide Hände, legte seine Stirn an ihre und flüsterte: »Was hast du mit mir gemacht? Ich muss los, ich … Sehen wir uns morgen?«
»Ja, ja, unbedingt.«
Er küsste sie sanft, löste sich dann aber gleich wieder und ging eilig in Richtung Subway davon.
Mit einem unbeschreiblichen Gefühl, als summten ganz viele Bienen in ihrem Bauch, sah sie ihm nach.
Dann lief sie los, wählte Walters Nummer.
»June, geht es dir gut?«, erkundigte sich dieser sofort besorgt.
Oh nein, er hatte sich Sorgen um sie gemacht.
»Ja, danke, Walter, entschuldige, es tut mir so leid, mir ist etwas dazwischengekommen.«
»Ah, verstehe. Kein Problem«, sagte er schnell.
»Doch, es ist überhaupt nicht meine Art, jemanden zu versetzen, es ist unverzeihlich. Kann ich dich noch auf einen Drink einladen?«
Stille. Er zögerte offenbar. »Wo befindest du dich denn?«, fragte er nach.
Sie sah sich um. »Am Times Square. Ich kann aber mit dem Taxi überall hinkommen.«
»Mhmhm, ich bin schon wieder zu Hause«, entgegnete er.
»Oder morgen? Zum Lunch? Ich lade dich ein«, schlug sie vor.
»Okay, zum Lunch. Aber das musst du nicht.«
Sie verabredeten sich in einem Restaurant nahe seiner Kanzlei, und June legte voll schlechten Gewissens auf. Walter hatte enttäuscht geklungen, und das wäre sie an seiner Stelle auch. Er war ein großartiger Mann, wie konnte sie ihn nur so behandeln?
Oh, Großmutter, was mache ich nur?, dachte sie. Hendrik küsste fantastisch, aber so schnell, wie er gerade gegangen war, schien er jemanden vor ihr zu verheimlichen. Und sie musste das mit Anton klären. Sollte sie ihm doch am Telefon von ihrem Gefühlswirrwarr erzählen und die Beziehung beenden?
June spürte den Alkohol, der sie zusätzlich verwirrte. Sie beschloss, sich ein Taxi nach Washington Heights zu nehmen und sich hinzulegen. Was für ein Tag. So viele Eindrücke, so viele Gefühle. Diese alle musste sie jetzt erst mal sortieren. June trat an die Straße, winkte einem Taxi. Hier am Times Square herrschte reger Verkehr. Wie es wohl in den Vierzigern hier ausgesehen haben musste? Sie dachte an Miriam Teitelbaums Erzählung, die sie sehr bewegt hatte. Und sie wurde erfüllt von Stolz, dass ihre Großmutter diesen Window-Shop, der sich damals so gut etablierte, mitgegründet hatte.