New York, Washington Heights, 2023
June hatte bis tief in die Nacht in Luises Notizbuch gelesen. Schockiert starrte sie jetzt auf diesen letzten Eintrag ihrer Großmutter. Hatte Richard sich das Leben genommen?
Oh mein Gott!
Das Tagebuch endete hier und ging erst 1941 weiter. Aufgeregt wollte sie weiterblättern, da kam eine Nachricht von Hendrik und holte sie in die Gegenwart zurück.
June musste lächeln, googelte sofort noch einmal nach der Website des Restaurants, den Text hatte sie bisher noch nicht intensiver gelesen. Er klang erfrischend und herzlich. Ja, genau so war sie, ihre Großmutter, dachte sie wehmütig.
Ihr wurden noch andere Bilder zum Taste of Freedom angezeigt. Sie schaute sie durch, stieß auf ein Foto von Hendrik Jensen, dem Chefkoch. Wie gut er auf dem Foto aussah. Sie kam sich vor wie ein Teenager. Scrollte weiter durch die Bilder von ihm bei besonderen Kochevents, die sie fand, nachdem sie seinen Namen in der Suchmaschine eingegeben hatte. Er sah immer gigantisch aus. Auf einem Foto lächelte er sie an. Nicht dich, schalt sich June selbst. Doch dann gefror ihr das eigene Lächeln. Auf einem Foto, das dem Datum nach erst letzte Woche entstanden war, saß er dicht neben einer attraktiven brünetten Frau an einem Tisch, hatte den Arm um sie gelegt, lächelte in die Kamera. Mareike Jensen, seine Ehefrau, stand darunter.
June fühlte sich, als hätte ihr jemand Eiswürfel in den Nacken geschüttet. Also doch. Doch nur ein Fremdgeher. Wie Anton, wie Micha. Wie so viele. Das Foto war von letzter Woche, es konnte also kein albernes Missverständnis sein. Sie legte wütend ihr Handy weg. Wütend auf sich, wütend auf die ganze Welt. Er war verheiratet und hatte nichts davon gesagt. Wieso geriet immer sie an solche Männer? Es gab auch die anderen, die soliden, vertrauenswürdigen, versuchte sie sich bewusst zu machen. Sie musste nur lernen, diese zu erkennen. Nette Männer wie Walter, dachte sie im nächsten Moment. Wie hatte sie ihn nur versetzen können? Aber vielleicht war jetzt einfach nicht die Zeit in ihrem Leben für Männer. Sie beschloss, Walter abzusagen, schrieb ihm eine Nachricht.
Es war unmöglich von ihr, aber es ging gerade nicht anders. Ihre Gefühlswelt stand kopf.
Sie seufzte, schaltete ihr Handy aus. Offline sein. Viel zu selten tat sie das. Viel öfter sollte man das tun. Mit einem großen Kloß im Hals ging sie ins Bad, putzte rasch die Zähne, schminkte sich ab, betrachtete sich im Spiegel. Sie schien mit einem Mal viel mehr Falten zu haben. Was natürlich völliger Unsinn war.
Sie zog sich aus, ihren Pyjama an, ging ins Gästezimmer, legte sich in ihr Bett und dachte an Hendrik und dessen Frau.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn sie wurde von der Türklingel geweckt. Um diese Uhrzeit? Es war noch immer mitten in der Nacht, und sie erwartete niemanden. Erwartete nichts mehr. June ließ es klingeln, hielt sich die Ohren zu. Aber derjenige gab nicht auf. Klingelte jetzt sogar Sturm.
»Herrgott noch mal!« Wütend stand sie auf, schnappte sich im Gehen ihre Strickjacke mangels Morgenmantel, lief zur Tür und rief auf Englisch: »Wer ist da?«
»Ich bin es«, hörte sie Antons Stimme. Sie riss die Tür auf. Vor ihr stand tatsächlich Anton, neben sich einen großen Koffer. Er war ihr von Berlin nach New York nachgereist, sah blass aus, erschöpft.
*
New York, 21. Juni 1941
Luise starrte zur Tür. Sie stand in der dampfenden Küche ihres Restaurants, einen Löffel voll Kartoffelbrei in der Hand, und sah Richard an, der blass und mit Schweißperlen auf der Stirn vor ihr stand. Sie war gerade dabei gewesen, abzuschmecken, hatte den Mund bereits geöffnet, klappte ihn jetzt zu und schluckte. Richard kam selten ins Taste of Freedom. Das ganze letzte Jahr vielleicht dreimal. War etwas geschehen?
»Luise. Ich muss dir das unbedingt sofort erzählen.«
Sie warf Elly, die aus dem Gastraum herbeikam, einen Blick zu, reichte ihr zwei Teller mit Kartoffelbrei und Buletten, die sie gerade befüllt hatte. »Tisch drei, bitte.«
Elly nickte, grüßte Richard freundlich. Der erwiderte den Gruß aufgewühlt, und Elly ging mit den Tellern an ihm vorbei wieder hinaus.
»Also, was ist geschehen?«, erkundigte sich Luise, legte den Löffel auf die Anrichte neben dem Herd, wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken. Seit seinem Selbstmordversuch vor knapp einem Jahr hatte sich alles geändert. Er war so krank, sie hatte sich unmöglich von ihm trennen können. Auch George war ihrer Meinung: »Du hast ihm das Leben gerettet, Luise«, hatte er kurz nach Richards Suizidversuch gesagt. »Wir müssen aufpassen, bis er gefestigter ist.«
»Ja, das müssen wir. Ich könnte sonst nicht weiterleben.« Aber so konnte sie auch nicht mehr lange leben.
»Hitler«, fuhr Richard jetzt aufgewühlt fort, »er hat die Sowjetunion überfallen.«
»Was? Die Sowjetunion? Es gab doch einen Nichtangriffspakt?«
»Ja, keiner hat damit gerechnet, nicht einmal die Sowjets. Er hat sie überrascht. Will diese ›sowjetischen Untermenschen‹, wie er sie nennt, er will sie wirtschaftlich ausbeuten, sie zu Zwangsarbeitern machen, habe ich gelesen. Seine ›arische Rasse‹ soll siegen. Dieser Mann ist wahnsinnig, komplett wahnsinnig, ich sage es doch schon die ganze Zeit.«
Luise dachte fieberhaft nach, ihr fehlten die Worte.
»Und du kochst hier«, sagte Richard vorwurfsvoll, »statt irgendwas zu tun.«
»Und was tust du?«, konterte sie wütend. Seit er ihr das angetan hatte, diese Sorge um ihn an der Brooklyn Bridge, ließ sie sich solche Sätze, die jetzt immer öfter kamen, je grausamer der Krieg geworden war, nicht mehr bieten. Sie wusste selbst, dass sie dem Ganzen so wenig entgegensetzen konnte. Dem ganzen Irrsinn. Dem Terror, dem Morden. Dass man sich hilflos fühlte als einzelner Mensch. Erst recht aus der Ferne. Dass man diesem Unmenschlichen Menschliches entgegensetzen musste.
Richard stützte sich auf eine Anrichte. »Er will in der Sowjetunion die jüdische Bevölkerung ermorden. Und die sowjetische Führungsschicht. Außerdem gibt es einen ›Kommissarbefehl‹, der die sofortige Liquidierung von gefangenen kommunistischen Kommissaren der Roten Armee anordnet.«
»Woher weißt du das so genau?«
»Ich habe meine Informanten, wie du weißt.«
Seit Richard kurz davor gewesen war, sich das Leben zu nehmen, war er aus seiner Lethargie erwacht. Wenigstens ein Gutes hatte es gehabt. Luise war damals zur Brooklyn Bridge gerannt, als ginge es um ihr Leben. Völlig außer Atem war sie dort angekommen, sah Richard, der dort auf einer der Brückenstreben stand, hinunterschaute in die Tiefe, ins Wasser, und kurz davor war zu springen.
»Richard! Nicht!«, hatte sie gerufen und gestoppt. »Ich brauche dich, tu mir das nicht an!« Die Worte waren aus ihr herausgeflossen. In der Verzweiflung. Wenn er es tat, würde sie nie wieder glücklich werden. Dann wäre sie verantwortlich für seinen Tod! Vorsichtig war sie auf ihn zugegangen.
»Bleib weg!«, rief er, und Luise stoppte unverzüglich. Atmete schwer, hoffte und bangte.
»Bitte, Richard, wir sind hier in Sicherheit, wir haben uns, wir leben.«
»Was ist das für ein Leben, in der Fremde? Es wird immer schlimmer in der Heimat, wir können nie wieder zurück.«
»Das weißt du doch gar nicht. Irgendwann ist der Krieg vorbei. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Böse auf Dauer gewinnt.«
»Aber ich, Luise, ich kann mir das vorstellen.«
»Richard, du darfst dein Leben nicht wegwerfen. Dann hätte Hitler gewonnen, dann hätte er dich kleingekriegt, denk dran.«
Er zögerte, sie sah ihm an, dass er noch nicht überzeugt von ihren Worten war.
»Denk an unsere Freunde, die er umgebracht hat«, fügte sie hinzu. »Wie gerne hätten sie gelebt!«
Da zuckte Richard zusammen, drehte seinen Kopf zu ihr, starrte sie an. »Du hast recht. Es wäre Verrat an unseren Freunden.«
»Ja, das wäre es. Komm, nimm meine Hand, ich helfe dir.«
Sie ging vorsichtig weiter auf ihn zu, nahm seine Hand, half ihm, herunterzusteigen von den Brückenstreben. Für einen Moment strauchelte er, Luise zuckte zusammen, riss ihn zurück, sodass er auf die Brücke fiel.
Dort saß er zusammengekauert und weinte. Sie beugte sich zu ihm, wollte ihn trösten, doch plötzlich wehrte er sie ab, stand auf, stellte sich aufrecht hin. »Er kriegt mich nicht klein, diese Bestie nicht.«
Von diesem Tag an war Richard früher aufgestanden, arbeitete an seinem Buch und anderen politischen Texten, ging öfter nach draußen, auch um besser Englisch zu lernen, wie er sagte. Amerikanisches Englisch. Und er traf sich öfter mit politisch interessierten Emigranten. »Stell dir vor, ich habe durch George einen Verleger kennengelernt«, hatte er eines Tages verkündet. »Mr. Williams. Er kennt Thomas Mann.«
»Wie interessant.«
»Ja, das ist es. Thomas Mann ist in Amerika freundlich aufgenommen worden, hat mir Mr. Williams erzählt. Und dass er Schriftstellern und anderen Künstlern aus Deutschland, die hier im Exil in Armut leben, finanziell hilft. Er sammelt Geld für sie, hilft bei der Vermittlung von Verfolgten, die in die Staaten flüchten wollen. Sofern es geht.«
Luise hatte ihm zugehört. Sie wusste ja, dass sich Mann schon seit Jahren gegen Hitler aussprach, auch dass er sich seit Oktober letzten Jahres in Radioansprachen der BBC im deutschsprachigen Programm an die Menschen in Deutschland wandte, über den Krieg und das politische Geschehen sprach, um die Leute aufzurütteln. Und das, obwohl darauf sicher harte Strafen standen.
Richard trat nun zu ihr an den Herd. »Jetzt, da Hitler sogar die Sowjetunion angegriffen hat«, redete er weiter, »will Mr. Williams mein Buch herausbringen.«
Luise sah ihn überrascht an. »Das ist ja wundervoll, gratuliere!«
»Danke. Vielleicht kannst du dann auch wieder stolz auf mich sein«, fügte er leiser hinzu, drehte sich um und verließ die Restaurantküche.
Er hofft also noch immer, dass wir wieder zueinanderfinden, dachte sie erschüttert. Aber für sie gab es nur noch George. Seine Geborgenheit, Nähe und Liebe. Sie trafen sich heimlich, gingen nach Feierabend in den lauen Sommernächten Hand in Hand am Hudson River entlang oder durch den Central Park spazieren oder gleich zu George nach Hause. In diesen gestohlenen Stunden liebten sie sich, benahmen sich wie ein Paar, aber dann ging Luise zu Richard, aus Angst, er könnte sich noch einmal etwas antun. Dabei ahnte er es doch ganz gewiss, es gab keine intime Berührung mehr zwischen ihnen.
Auch Elly versuchte Richard zu helfen, überredete ihn immer wieder zu einem Spaziergang mit dem Hund, und wie sie sagte, redete Richard immer mehr mit ihr, blühte auf.
Luise hoffte sehr, dass sie ihre Liebe zu George endlich öffentlich leben durfte und sie heiraten, eine Familie gründen konnten. Denn das wünschte sie sich immer stärker. Ein Kind, ein Kind von George.
*
Ein Sonnenstrahl kitzelte Luise an der Nase. Sie schlug die Augen auf und erschrak. Es war bereits hell in Georges Schlafzimmer. Sie hatten verschlafen. Rasch setzte sie sich auf. Was, wenn Richard gleich zu Hause aufstand und und sie nicht neben ihm lag? Im Moment wachte er immer früher auf, um sein Buch fertig zu überarbeiten.
Vorsichtig schlüpfte Luise nackt aus dem Bett, wollte George nicht wecken. Sie hatten gestern lange diskutiert. Darüber, dass Amerika sich weitestgehend isoliert hatte. Präsident Roosevelt, der sich lange, wie die meisten Amerikaner, nicht an diesem Krieg beteiligen wollte, rüstete nun die amerikanischen Streitkräfte auf und lieferte Kriegsmaterial an die Westmächte, die gegen Hitler kämpften.
»Er muss endlich richtig einschreiten«, hatte Luise gestern erneut zu George gesagt. »So viele Tote, so viel Elend, so viel Leid, die Amerikaner können doch nicht einfach zusehen. Was ist mit den Kindern in unserem Land? Sie sterben, und die, die überleben, haben keine Zukunft.«
George hatte versucht, sie zu beruhigen. »Ich weiß, es ist grauenvoll. Aber wir unterstützen die Westmächte, wir haben die Guthaben der Deutschen und Italiener eingefroren, die Schließung der Konsulate dieser Länder angeordnet. Und einige weitere Sanktionen verhängt, wie du weißt.«
Luise sah jetzt den schlafenden George noch einmal an, zog sich an, schnappte sich ihre Tasche, ging ins Wohnzimmer zum Sekretär, schrieb rasch eine Nachricht auf einen Zettel:
Love you forever.
Dann verließ sie seine Wohnung, nahm den Aufzug und fuhr hinunter. Die Lifttür ging auf, und vor ihr stand – Richard. Mit bitter bestätigter Miene.
»Richard«, stieß sie entsetzt aus.
Er schüttelte den Kopf. »Ich musste es mit eigenen Augen sehen.«
Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Er fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar, drehte sich um und ging rasch hinaus auf die Straße.
Luise stand wie gelähmt vor dem Aufzug. Sie hörte ein Auto laut hupen.
Sollte sie Richard hinterherlaufen? Ging er womöglich wieder zur Brooklyn Bridge, um sich etwas anzutun?
Die Gedanken rasten. Ihre Schuldgefühle schnürten ihr die Kehle zu. Sie hatte Fremdgeher immer verachtet. Längst war sie selbst eine geworden.
Der Aufzug kam von oben wieder herunter, die Tür ging auf, und da stand George.
»Luise!« Er sah sie an, erkannte sofort, dass etwas geschehen sein musste, schloss sie in seine Arme.
Sie weinte. Immer mehr, immer bitterlicher.
»Schsch. Komm.« Er führte sie in den Aufzug, fuhr mit ihr hoch zu seiner Wohnung. Dort brachte er sie zum Sofa, setzte sich mit ihr, schloss sie fest in seine Arme und ließ ihr Zeit.
»Du kannst ihn nicht Tag und Nacht beaufsichtigen«, raunte er schließlich sanft.
»Ich weiß, George, er ist auf einem guten Weg«, versuchte sie sich selbst zu sagen. »Die Gewissheit ist manchmal besser, bestimmt auch für ihn.«