KAPITEL 28

Hamburg, Juli 1946

Es herrschte eine gespenstische Stille an Bord des Dampfers, der sie in nur sechs Tagen von New York nach Hamburg gebracht hatte. Keiner der anderen Passagiere aus New York machte mehr einen Mucks, nur noch das Geräusch der Motoren, des Wassers, das gegen den Schiffsrumpf plätscherte, und ein paar Möwen waren zu hören.

Luise hielt Georges Hand ganz fest, starrte schockiert auf die Überreste von Hamburg, dieser einst so prachtvollen Hansestadt, mit ihren zahlreichen architektonisch besonderen Bauwerken. So vieles war zerbombt worden, auch ein Jahr nach Kriegsende ragten Hafenbahngleise geborsten in den Himmel, Kräne lagen umgestürzt auf den Quais, im trüben Wasser des Hafenbeckens sah man Wracks.

Ihr Magen, der auch auf dieser Dampferfahrt immer mal wieder rebelliert hatte, zog sich zusammen. Luise hatte gelesen, dass ein britischer Kriegsberichterstatter vom Chaos im Hamburger Hafen berichtet hatte. »Hamburg ist eine tote Stadt«, hatte er gesagt, als er mit den Briten am 3. Mai 1945 nach Hamburg gekommen war.

Werften, in denen nicht nur Schiffe, sondern auch Waffen gebaut worden waren, waren von den Alliierten zerbombt worden. Die Zerstörung reichte von den Elbbrücken bis zu einer Baracke für Kriegsgefangene und der Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme.

So viele Hamburger müssen etwas mitbekommen haben von den grausamen Vorgängen in diesem Konzentrationslager, dachte Luise bitter. So viele in Deutschland leugnen, etwas gewusst zu haben.

Was würde George und sie hier alles erwarten? Luise atmete tief ein. Die Luft roch so anders als in New York, als schwirrten feine Staubpartikel herum.

Auch Berlin sollte stark zerbombt sein, noch stärker sogar, diese einst so aufregende, lebendige Stadt. Wie würden ihnen all die traumatisierten Menschen entgegentreten? Würden sie ihnen vorwerfen, sie in diesem Inferno alleingelassen zu haben?

George drückte ihre Hand. Er wusste, wie sehr sie all das belastete, und auch ihn bedrückte es zutiefst, das sah sie ihm an.

Der Schutt auf den Straßen und an den Straßenrändern ließ ahnen, was hier geschehen war. Gut, dass Hamburg wenigstens am Ende kapituliert hatte, sonst wäre noch mehr zerstört worden. Auch das Schienennetz war durch den Krieg stark beschädigt worden, wie Luise inzwischen wusste. Aber bereits im Juli vergangenen Jahres hatte man die Schäden an Straßenbahngleisen und Oberleitungen weitestgehend behoben, auch um möglichst rasch die Trümmer beseitigen zu können. Die S- und U-Bahnen fuhren auf einigen Strecken wieder.

Die UNRRA hatte Luise mitgeteilt, wie sie von Hamburg nach Berlin gelangen konnten. Seit Januar dieses Jahres herrschte ein reger Güterverkehr zwischen den Besatzungszonen, mit Interzonenzügen, aber eben nur für Güter. Da die britischen Besatzer in Hamburg Nachschubwege gebraucht hatten, hatte man einige Strecken wieder schnell befahrbar gemacht.

Der normale Personenverkehr zwischen Ost und West war aber immer noch eingestellt. Sie müsse also »illegal« über die Zonengrenze, wie viele andere es auch taten, hatte man ihr geschrieben.

Mit der Straßenbahn am Hamburger Bahnhof angekommen, sahen sich Luise und George erschüttert um. Auch hier war vieles zerbombt worden.

Sie durchquerten das Bahnhofsgebäude, fanden ihr Gleis, und weiter ging es mit der Eisenbahn. Sie fuhren von ihrer Besatzungszone bis zum Grenzbahnhof direkt an der Demarkationslinie der anderen Besatzungszone, und schließlich mussten sie zu Fuß über die »Grüne Grenze«. Viele taten es ihnen gleich, so viele abgemagerte, vom Krieg gezeichnete Menschen. Eine Frau neben Luise stolperte, sie half ihr rasch wieder auf. Dieses dünne Handgelenk, die abwesenden Augen, das blasse Gesicht, das abgetragene Kleid. Luise schämte sich, so wohlgenährt und gut gekleidet auszusehen.

Nach mehreren Stunden Fahrt, wieder mit der Bahn, in denen sie viel Verwüstung gesehen und kaum noch Worte gefunden hatten, kamen sie endlich in Berlin am Zoologischen Garten an.

Der Schaffner pfiff, sie stiegen aus. Luise hatte schon von Weitem erfasst, was aus ihrer Stadt geworden war. Ihr Berlin! Das hier hatte nichts mehr damit zu tun. Schon vom Zug aus hatten sie erschüttert die Skelette der Häuser betrachtet. Die unfassbaren Berge an Schutt, die zerstörten Leben, die Schickale, die man darunter nur erahnen konnte.

Wie hat hier irgendjemand überleben können?, durchfuhr es Luise, als sie das Bahnhofsgebäude verlassen hatten und sie vor dem halb abgeschossenen Dach der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche standen. Vor drei Jahren war das geschehen, sie erinnerte sich an den Artikel in einer New Yorker Zeitung, durch den sie es erfahren hatte. Seither stand der zerstörte Kirchturm da und war noch nicht repariert worden. Es gab so vieles wieder aufzubauen.

Sie zitterte, spürte Georges Hand in ihrer. Wie traumatisiert mussten all diese Menschen sein. Egal, welcher Gesinnung. Waren sie dankbar, befreit worden zu sein? Oder immer noch wütend, nicht gesiegt zu haben? Luise wusste, es würde beides geben. Aber eben auch viele, die Hilfe benötigten, viele, die dankbar sein würden, viele Kinder, die eine Zukunft brauchten.

Das jüdische UNRRA-Lager, in das Luise gehen wollte, befand sich in Berlin-Mariendorf, Tempelhof. Ein Lager, in dem sich Displaced Persons, Vertriebene, ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge befanden, auch Familien mit Kindern, wurde ihr gesagt. Dort gab es sogar einen Kindergarten und eine Volksschule.

Luise zerriss es das Herz, wenn sie nur daran dachte. An die Kinder, die all das Grauen hatten erleben müssen. Die ihr ganzes Leben lang davon träumen würden. Die keine glückliche Kindheit hatten. Was, wenn sie dort Marias Kinder finden würde, wenigstens sie? Aber das wäre ein so großer Zufall, dass sie sich bemühte, nicht darauf zu hoffen. Dennoch. Eine Spur vielleicht, ein Hinweis auf ihren Verbleib. Oder auf Anni. Ihren Siegfried müsste man doch ausfindig machen können, als Ehemaligen bei der Gestapo. Und über ihn könnte sie Anni finden. Ihre Gedanken rasten.

Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn der Anblick ihrer Heimatstadt drohte, diese im Keim zu ersticken.

Da das Taste of Freedom mittlerweile gut lief, hatte sich Luise die Schiffstickets leisten können und darauf bestanden, auch Georges zu bezahlen. Sie genoss es, finanziell unabhängig zu sein, und wollte das auch für immer sein.

George musste bald wieder zurück, aber sie würde etwas länger bleiben. Zum Glück hatten Astrid und Rahel sofort angeboten, Elly im Restaurant zu unterstützen. Das Netzwerk der Emigrantinnen war so wundervoll, Luise war sehr dankbar dafür. Die Frauen verstanden gut, was sie antrieb, so kurz nach dem Krieg nach Berlin zurückzukehren. Sie alle hatten ihr aufgeschrieben, nach welchen Namen sie auf den Listen suchen sollte. Sie alle vermissten einen, meist mehrere geliebte Menschen.

Traurig lief sie Hand in Hand mit George am Ku’damm entlang. Diese einstige Prachtstraße. Es standen zwar noch einige Gebäude, ein paar Läden hatten geöffnet, aber Schutt lag immer noch am Wegesrand. Die Straßenbahn fuhr, die Menschen eilten geschäftig an ihnen vorbei. Das Leben ging weiter, die Welt drehte sich, man musste unentwegt versuchen, Schritt zu halten.

Luise stolperte. George fing sie auf. »Everything okay, Darling?«

»Yes. Ich meine, ja.« Sie hatten ausgemacht, auf deutschem Boden ihre Muttersprache zu sprechen.

»Sehr schön«, entgegnete George jetzt auf Deutsch. Mit seinem charmanten amerikanischen Akzent. Luise sah den Blick einer jungen Frau, die George musterte und sehr angetan zu sein schien, kein Wunder, er sah einfach gut aus.

»Hey, hast du den Blick gesehen? Vermutlich muss ich hier auf dich aufpassen«, neckte sie ihn.

Er schmunzelte, wurde dann ernst. »Männer in meinem Alter gibt es vermutlich nicht mehr viele.«

Betreten sahen sie sich an. So viele Frauen hatten ihre Männer oder Brüder verloren. So viele Kinder ihre Väter.

Sie fragten sich durch, wie man mit der Straßenbahn oder U-Bahn nach Mariendorf kam. Es gab insgesamt drei DP-Camps für Displaced Persons in Berlin. Zehlendorf, Reinickendorf und Mariendorf. Letzteres war im Juli dieses Jahres von der UNRRA eröffnet worden. Luise würde auch dort schlafen, George hatte sich ein Hotel in der Nähe gebucht. Die Camps waren so konzipiert, dass die Menschen hier mehrere Jahre verbringen konnten. In Mariendorf gab es drei Wohnblocks, sie befanden sich zwischen der Eisenacher Straße, Rixdorfer Straße, dem Dirschelweg und der Äneasstraße. »Mariendorf-Bialik-Center« wurde das Viertel genannt, das hatte Luise schon erfahren. Um die 4000 Menschen lebten dort, auch Kinder. Sie alle einte die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.

Luise wollte allein in das Camp gehen und sich zur Arbeit melden. »Geh bitte ins Hotel, wir treffen uns heute Abend zum Dinner, dann berichte ich dir alles«, sagte sie zu George.

Der willigte ein, setzte sie vor dem Camp mit ihrem Gepäck ab, küsste sie. »Bist du sicher, dass du den Anblick der Menschen verkraftest?«

»Sie mussten viel mehr verkraften als ich. Viel, viel mehr. Natürlich schaffe ich das.«

Sie umarmten sich, George ging zu seinem Hotel, während Luise noch einen Moment verharrte. Sie holte tief Luft. Berliner Luft. Diese roch noch einmal anders als die in Hamburg. Vertrauter, aber ebenso staubig, auch nach verbranntem Holz.

Entschlossen nahm sie ihren Koffer in die Hand, ging zum Camp, meldete sich am Eingang bei der Lagerpolizei, zwei Männern in einfacher Uniform und mit Helmen. Sie stellte sich als UNRRA-Mitarbeiterin aus New York vor. Der eine Lagerpolizist begrüßte sie freundlich und bat sie, ihm zu folgen. Er führte sie über den Hof. Luise sah dürre Frauen und Männer mit traurigen, tiefliegenden Augen. Sie wurde zu einer blonden, sympathisch wirkenden Frau gebracht, die ihr zeigte, wo sie schlafen und wo sie ihr Gepäck ablegen könne. Sie hieß Annegret. Auch sie war extrem dünn.

Das Camp wirkte wie eine kleine selbstverwaltete Stadt – es gab eine Polizei, eine Art Gericht, eine Schule, Ausbildungsmöglichkeiten, Sportveranstaltungen wurden durchgeführt, auch Kunst- und Kulturveranstaltungen fanden statt. Und hier lebten Kinder. Dünne, blasse Kinder. So wenige, die lachten. Luise zog es das Herz zusammen.

Sie wurde von Annegret abgelenkt, die ihr gerade erklärte, dass die Bewohner hier mit den Bewohnern der anderen beiden Lager in Berlin Kontakt hielten. Gemeinsam hatten sie einen Suchdienst eingerichtet, um überlebende Angehörige zu finden. Sofort wurde Luise hellhörig, fragte Annegret, an wen man sich wenden müsse, wenn man jemanden suche.

Annegret erklärte es ihr, verstand sehr gut, dass sie unbedingt wissen musste, was aus ihren beiden Freundinnen geworden war.

Gleich am nächsten Tag wollte Luise zu dem Mann gehen, der den Suchdienst betreute. Jetzt war sie müde und erschlagen von der Reise und den erschütternden Eindrücken, außerdem war es schon Abend, und George wartete auf sie.

Annegret verabschiedete sich herzlich von ihr. Sie wollte ihr morgen mehr zeigen, dann sollte Luise auch ein paar Bewohner kennenlernen, die schnellstmöglich nach Amerika ausreisen wollten, wobei Luise sie hoffentlich unterstützen konnte.

»Sehr gerne. Aber kann ich erst mit demjenigen reden, der den Suchdienst betreut?«

»Natürlich. Gleich in der Früh um acht?«

»Perfekt, danke, Annegret.«

Beim Essen mit George hatte Luise Mühe, ihre Augen offen zu halten. So viel hatte sie heute gesehen. So viel, was schmerzte, so viele, die nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. George berichtete, dass er am nächsten Tag einen Termin mit einem Kollegen hatte, einem Anwalt, der sich auch um die Belange der Displaced Persons kümmerte. Ein Amerikaner, der schon 1945 nach Berlin gekommen war, um nach seinen Verwandten zu suchen.

»Wundervoll. Es gibt so viele großartige, mutige Menschen hier«, sagte Luise. »Nicht nur Nazis, George, das musst du doch sehen.«

»Natürlich sehe ich das. Aber selbst wenn man nicht aktiv in der Partei war oder aktiv Schuld auf sich geladen hat, hat man nicht eine Mitschuld, wenn man nur weggesehen hat?«

Sie diskutierten beim Dinner eine Weile darüber, so oft schon hatten sie darüber gesprochen. Luise erinnerte wieder an die Menschen, die sich widersetzten, wenn auch nur durch kleine Taten. George gab ihr recht, blieb aber bei seiner Meinung, dass die, die nur weggesehen hatten, in seinen Augen schuldig waren.

»Lass uns nicht streiten, ich muss jetzt auch wieder ins Camp zurück, ich bin hundemüde.«

»Natürlich, Darling. Ich bringe dich hin.« Sein Hotel befand sich fußläufig in der Nähe, sodass er sie bei einem Abendspaziergang dorthin begleiten konnte.

Kurz bevor sie das Tor erreichten, drehte er sie sanft zu sich. »Luise, es ist seltsam, dass du nicht bei mir schläfst, findest du nicht?« Er machte sich Sorgen, das hörte sie an seiner Stimme.

»Ich bin hier, um zu arbeiten, George«, entgegnete sie sanft. »Im Camp zu leben gehört zu dem Job dazu, das wusstest du doch.«

»Sicher. Ich vermisse dich nur jetzt schon.«

Sie küssten sich flüchtig, dann ging Luise zum Tor des Lagers, winkte George, sprach mit den Lagerpolizisten und wurde hineingelassen.

Wenige Menschen liefen noch draußen umher, die meisten schienen bereits in den Unterkünften zu sein.

Der Mond schien hell, Luise ging über den Innenhof, sah in den Himmel, fröstelte. Würde sie morgen beim Suchdienst endlich einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Freundinnen erhalten?

*

Am nächsten Morgen, nachdem Luise gemeinsam mit einigen anderen Mitarbeitern in einer Wohnküche gefrühstückt hatte, brachte Annegret sie zum Suchdienst im Camp, musste dann weiter. Ein dünner Mann mit kurzen Haaren, er stellte sich als Elias vor, notierte sich die vollen Namen von Luises Freundinnen, dazu die Geburtsdaten. Er ging seine Listen durch, und Luise wartete angespannt und beobachtete seine Miene. Es dauerte lange. So viele wurden gesucht. So viele vermisst. So viele Schicksale. Auf seinem Unterarm sah sie eine eintätowierte Nummer. Sie wusste, was das bedeutete, er war im KZ gewesen. Sie fröstelte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schüttelte der Mann den Kopf.

»Es tut mir sehr leid, gnädige Frau. Aber bitte, geben Sie die Hoffnung nicht auf. Es sind Wunder geschehen. Sehen Sie mich an, ich habe Buchenwald überlebt.«

»Das ist wirklich ein wahres Wunder. Danke, Sie haben recht. Vielen Dank. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und ich habe den größten Respekt vor Ihnen. Niemand kann sich ausmalen, welches Grauen Sie erlebt haben müssen.«

Er nickte, sein Blick wurde verhangen. Luise wurde klar, dass er zwar überlebt haben mochte, aber dennoch ein gebrochener Mann war. Seine Seele hatte gelitten.

Sie bat ihn noch, nach den Namen der Angehörigen ihrer Freundinnen aus dem Window-Shop zu suchen. Aber auch zu ihnen gab es keinen Hinweis.

Schließlich verabschiedete sie sich und ging hinaus, sah Annegret auf dem Hof in der Sonne stehen. Sie lief zu ihr hinüber. »Leider hat die Suche nichts ergeben. Sag, Annegret, kann ich dich etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Wie konnte man das Konzentrationslager überleben?«

Sie zuckte zusammen. Luise wurde klar, dass Annegret selbst in einem gewesen war. Erschüttert hörte sie ihr zu.

Annegret erzählte, dass Elias seine ganze Familie im Lager verloren hatte. Seine Mutter und seine Schwester wurden gleich bei der Ankunft vergast, sein Vater von SS-Leuten zu Tode geprügelt. Er selbst sollte erschossen werden, stand vor einem Massengrab, wie er ihr erzählt hatte, wartete mit dem Rücken zu den Schützen auf den tödlichen Schuss. »Aber keiner hat ihn getroffen. Er hat sich trotzdem in das Loch auf die Leichen fallen lassen und sich tot gestellt. Andere Tote fielen auf ihn.«

Entsetzt sah Luise sie an. »Nein.«

»Doch.« Leise fügte Annegret hinzu: »Und ich habe das Konzentrationslager überlebt, weil ich eine gute Freundin hatte, die dafür gesorgt hat, dass ich freikam.« Sie presste ihre Lippen zusammen. »Mir wurde politischer Widerstand vorgeworfen, dabei habe ich mich nur um jüdische Kinder gekümmert. Ich kam ins Frauen-KZ Ravensbrück, circa 100 Kilometer von Berlin entfernt. Ich hatte Glück, sie haben mich tatsächlich gehen lassen. Du siehst, Glück hat viele Gesichter.« Ihre Lippen bebten.

Luise legte ihr die Hand auf den Arm.

Annegret sah ihr in die Augen. »Ich kann nicht wirklich darüber reden, ich wollte dir nur ein wenig Hoffnung machen, dass deine Freundin Maria vielleicht überlebt hat.«

Luise atmete durch. »Vielleicht hat sie es auch noch rechtzeitig geschafft, auszuwandern in irgendein Land«, fügte sie hinzu. »Nur dann weiß ich nicht, warum sie sich nicht bei mir gemeldet hat.«

Annegret strich ihr kurz über den Arm. »Es wird Gründe geben. So viel ist geschehen in diesem Krieg, er hat so viel mit den Menschen gemacht.«

Wieder spürte Luise diesen Brocken in ihrem Bauch. Das unbestimmte Gefühl von Schuld, auch wenn sie es nicht eindeutig benennen konnte. Würde sie es je ablegen können?

In den nächsten Tagen lernte sie viele Ausreisewillige kennen, setzte sich mit ihnen zusammen und beantwortete ihre Fragen, notierte für sie nützliche Orte und Anlaufstellen in New York oder anderen Ländern, in die sie wollten. Die Menschen waren ihr so dankbar. Einer Frau, die alleine nach New York auswandern wollte, erzählte sie vom Window-Shop, von ihrem Frauen-Netzwerk, das so hilfreich und gut war, um ein neues Leben zu beginnen.

»Wir Frauen sollten uns viel öfter zusammenschließen, uns unterstützen, Netzwerke bilden«, erwiderte die Frau dankbar. Und Luise gab ihr von Herzen recht.

Nach mehreren Stunden brauchte Luise immer eine Pause. Die Schicksale, von denen manche der Leute ihr erzählten, machten sie zutiefst traurig, wühlten sie auf.

Wie groß der Antisemitismus außerhalb des Camps immer noch war, erschütterte sie. Er hatte sich in Deutschland ja nicht in Luft aufgelöst, überhaupt nicht. Von einigen Camp-Bewohnern, die sich viel außerhalb des Camps aufhielten, um ihren Geschäften nachzugehen, erfuhr Luise von ständigen Anfeindungen gegen sie, sobald der Verdacht aufkam, sie seien Juden.

Annegret gab ihr eine Ausgabe der jüdischen Zeitung Undser Lebn, die dieses Jahr gegründet worden war und den Umgang der deutschen Bevölkerung mit Juden thematisierte. Die Schwarzmarktaktivitäten der jüdischen Camp-Bewohner gefielen anderen nicht. Annegret erklärte es Luise. »Weil die Juden dadurch besser versorgt werden als die meisten anderen Deutschen, von denen viele unter Hunger leiden. Diese Vorwürfe sind zu den Leitern des Camps gelangt, und sie versuchen jetzt, die Schwarzmarktaktivitäten der Lagerbewohner zu unterbinden.«

»Herrje«, entfuhr es Luise. »Neid und Missgunst gibt es viel zu oft unter Menschen.«

Sie versuchte ihr Bestes, Camp-Bewohnern zu helfen, gegen diese Anfeindungen anzugehen, wenn sie etwas mitbekam, aber es war schwer. Sie konzentrierte sich darauf, Lagerbewohner bei ihren Ausreiseplänen zu unterstützen, erzählte abends George beim Dinner immer davon.

Eines Tages ging sie über den Innenhof des Camps, sah ein kleines Mädchen auf der Erde sitzen, das ihr schon einmal aufgefallen war. Sie hatte ein hübsches Gesicht, große dunkle Augen, war sehr dünn und schmächtig. Ganz allein saß sie da, starrte auf den sandigen Boden, als sähe sie dort ein Gespenst.

Viel zu viele Kinder hatten all die Gräuel ertragen müssen. Laut Annegret waren die meisten Kinder, die nun in einem der Camps lebten, zuvor in Konzentrationslagern gewesen, nur manche von ihnen waren mit ihren Familien von hilfsbereiten Berlinern in Kellern oder auf Dachböden versteckt worden, aber auch das hatte etwas mit ihnen gemacht.

Die anderen Kinder spielten in Gruppen zusammen, als könnten sie sich so Halt geben, als könnten sie sich ansonsten verlieren. Nur dieses Mädchen schien eine Außenseiterin zu sein, Luise hatte die Kleine schon ein paarmal alleine im Camp auf der Erde sitzen sehen.

Vorsichtig trat sie zu dem Mädchen. Weil die Kleine so zart war, konnte Luise ihr Alter schwer einschätzen. Acht oder zehn?

»Hallo«, sagte sie leise, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Doch es zuckte zusammen, sah sie ängstlich an und rutschte etwas zurück.

»Keine Sorge, ich tu dir nichts. Ich bin die Luise, aus Amerika. Und wie heißt du?« Luise schalt sich innerlich selbst. Die Luise aus Amerika. Etwas Besseres war ihr nicht eingefallen.

»Tali«, flüsterte das Mädchen jetzt.

»Tali, was für ein schöner Name.« Luise merkte, wie schwer es war, etwas Sinnvolles zu sagen. Aber sie wollte nicht aufgeben. Das Mädchen strahlte so etwas besonders Trauriges aus, sie wollte versuchen, die Kleine ein wenig zu trösten.

»Möchtest du nicht mit den anderen spielen?«, fragte sie nach.

»Die wollen nicht.«

»Was? Wieso das denn?«

»Weiß nich. Weil ich Jüdin bin?«

Erschrocken schüttelte Luise den Kopf. Hatte sich das so in diese Kinderseele eingebrannt? »Das glaube ich nicht. Hier sind doch alle jüdisch. Außerdem ist das ja auch nichts Schlimmes. Das sagen nur schlimme Menschen, weißt du? Das hat nichts mit dir zu tun.«

Die kleine Tali sah sie an, überlegte, nickte dann.

»Hast du hier Verwandte?«, versuchte Luise es erneut.

Tali schüttelte den Kopf. »Meine Mama ist hier gestorben.«

»Oh, das tut mir so leid.«

»Ich schlaf mit den anderen Kindern im Schlafsaal.«

Den hatte Luise schon gesehen. Ein ganzer Schlafsaal voller Kinderbetten. Viele der Kleinen schienen auf sich allein gestellt zu sein. Es hatte ihr die Kehle zugeschnürt.

Tali flüsterte jetzt. »Papa ist im KZ gestorben. Wir haben es überlebt.«

Luise schluckte erschüttert. Die Kleine war im KZ gewesen.

Tali presste die Lippen zusammen.

»Ist es okay, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte Luise sanft.

Tali sah sie erstaunt an. »Du? In den Sand?«

Sie nickte, lächelte, setzte sich auf den sandigen Boden Tali gegenüber. Dann begann sie zu erzählen, von ihrer eigenen Kindheit in Berlin, auch dass sie vor dem Krieg ausgewandert war nach Amerika.

Jetzt wurde Tali etwas offener, gesprächiger, fragte neugierig nach, wie es in Amerika so sei. »Sind da auch so viele Häuser kaputt wie hier?«

»Nein, zum Glück nicht. Und es gibt dort sehr hohe Häuser. Wolkenkratzer, es sieht manchmal wirklich so aus, als würden sie an den Wolken kratzen.«

Tali lächelte zaghaft. »Und scheint da oft die Sonne?«

»Ähnlich wie hier, würde ich sagen. Und es gibt auch einen großen Park in New York. Den Central Park. Mit vielen Vögeln, Enten, kleinen Seen, im Winter kann man Schlittschuh laufen.«

»Wirklich?«

»Wirklich.« Luise lächelte sie an. Merkte, wie sehr sie von ihrer neuen Heimat schwärmte. Ihrer neuen Heimat? Hatte sie das gerade wirklich gedacht?

»Gibt es da auch so ein Camp?«, fragte Tali jetzt weiter.

»Nein, so eines nicht.«

»Schade.«

»Wieso schade?«

»Ich würde lieber dort im Camp wohnen.«

»In Amerika?«

»Ja.«

»Und wieso?«

»Möglichst weit weg von hier.«

Bestürzt sah Luise sie an. Und doch verstand sie Talis Wunsch. Was hatte diese zertrümmerte Heimat der Kleinen schon zu bieten außer grauenvoller Erinnerungen?

Sie unterhielt sich noch ein wenig mit Tali, erfuhr, dass sie acht war und mit ihren Eltern, zwei Lehrern, in Berlin-Charlottenburg gelebt hatte. Dann wurde Tali von einer Betreuerin zum Essen gerufen. Das Mädchen stand auf, verabschiedete sich von Luise.

»Tschüss, Luise aus Amerika.«

»Tschüss, Tali. War schön, mit dir zu reden. Machen wir bald wieder, ja?«

Tali nickte, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Den ganzen Tag lang ging Luise die Begegnung mit der Kleinen nicht aus dem Kopf. Tali wollte möglichst weit weg von Deutschland leben, wen wunderte es?

Am Abend erzählte sie George beim Dinner davon, auch von dem Schicksal von Talis Eltern. Ergriffen hörte er ihr zu, nippte an seinem Riesling. Das kleine Restaurant war bevölkert von ausgelassenen Briten, fast nur Männern. Kaum ein anderer außer den Besatzern konnte es sich leisten, hier essen zu gehen. Auf den dunklen Holztischen standen brennende Kerzen, und hinter der Holztheke zapfte ein schlanker Wirt Bier. Die meisten Gäste tranken Bier und aßen Fish and Chips. Der Geruch nach Alkohol und Fett lag in der Luft. Der ein oder andere Brite warf Luise immer wieder einen angetanen Blick zu, aber sie hatte nur Augen für George.

Sie hatten sich einen Bohneneintopf mit Gemüse bestellt, tranken Wein und Wasser. Aufgewühlt erzählte Luise alles, was sie von Tali wusste. Nach einer Weile sah George sie so merkwürdig an. »Willst du sie mitnehmen nach New York?«, fragte er plötzlich.

»Was?« Sie lachte auf. Ein Gedanke, den sie auch sofort gehabt hatte. George kannte sie einfach zu gut. Aber etwas in ihr sperrte sich noch dagegen. »Nein, das geht doch nicht«, erwiderte sie. »Ich arbeite den ganzen Tag.«

»Das tun andere Mütter auch, dafür gibt es Kinderbetreuung. Von den Emigrantinnen.«

»Das wäre für dich in Ordnung?« Kaum ein Mann würde es erlauben, dass seine Frau arbeitete, erst recht nicht, wenn zu Hause ein Kind versorgt werden musste. Außer der Mann verdiente selbst nichts, wie viele Männer im Exil, oder war krank.

»Tali möchte nicht hierbleiben«, rutschte es Luise heraus.

»Verstehe, aber du.« Er knetete seine Hände, nahm erneut einen Schluck Wein.

Luise nahm einen Löffel Suppe, zögerte ihre Antwort dadurch hinaus, schluckte, legte ihren Löffel beiseite. »Nein. Ich meine, ich weiß es einfach noch nicht.«

Er nickte. »Es gibt so viele Kinder hier, die keine Eltern und Verwandten mehr haben. Wir könnten einem Kind ein neues Zuhause schenken.«

Luise sah ihn überrascht und nachdenklich an. »Das sagt sich so einfach. Es ist ein traumatisiertes Kind, werden wir ihm gerecht, wenn wir beide arbeiten?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich offen dafür wäre. Wenn wir ein eigenes Kind hätten, würde es auch irgendwie gehen.«

»Irgendwie, ja. Irgendwie heißt für euch Männer immer, die Frauen bleiben doch zu Hause.«

Sie konnte sich ein Leben ohne ihren Job im Restaurant nicht vorstellen. Jetzt, da sie ihren Traum endlich verwirklicht hatte. »Auch die Arbeit hier im Camp könnte ich nicht weiter tun. Gerade kann ich so vielen Menschen hier helfen. Sie sind so dankbar, mehr zu erfahren, was eine Ausreise bedeutet, an welche Stellen man sich wenden kann, wie man es schafft, in einem fremden Land heimisch zu werden.«

George sah sie forschend an. »Ich dachte, das ist es, wonach du dich sehnst, Darling. Ein Kind.«

Luise kämpfte mit den Tränen. »Ja, doch. Nach einem eigenen Kind, einem Kind von dir.«

Er nahm ihre Hand, streichelte sie sanft. »Luise, aber wenn es nicht sein soll, dann könnten wir eine Kinderseele retten.«

Luise schluchzte auf. »Ich weiß, ich klinge furchtbar egoistisch. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« Es wäre wunderbar, sie mochte Tali. Was war überhaupt ihr Problem? Sie zog ihre Hand zurück.

»Ich will mithelfen, dieses Land wieder aufzubauen. Ich will länger bleiben, George, ich muss das tun.«

»Nein, musst du nicht. Du hast genug getan, damals in Deutschland im Widerstand, dann in New York. So viel wie du haben die allerwenigsten Deutschen gegen dieses Terrorregime unternommen. Du hast dein Leben riskiert, Luise, du warst mutig und so klug, rechtzeitig ins Exil zu gehen, um von dort aus weiter zu agieren. Aber das habe ich dir ja schon oft gesagt.«

Sie fing sich wieder, dachte nach. Was, wenn sie Tali wirklich zu sich nähmen? Ihr Herz schlug schneller. Vorausgesetzt, Tali würde das überhaupt wollen. Sie könnte diesem Kind, das so viel durchgemacht hatte, eine Zukunft bieten. Annegret hatte ihr erzählt, dass die Kleine und ihre Mutter nur noch Haut und Knochen gewesen waren, als sie aus dem KZ befreit wurden. Mehr wusste sie über das Mädchen nicht, kannte es kaum, aber spielte das eine Rolle?

»Du musst es jetzt nicht entscheiden«, hörte sie George versöhnlich sagen.

»Danke dir. Danke für dein Verständnis.« Doch sie spürte diese drängende innere Unruhe. »Ich will morgen weiter nach Maria und Anni forschen. Ich gehe noch mal zum Roten Kreuz, vielleicht gibt es neue Suchlisten.«

»Tu das. Soll ich mitkommen? Ich könnte mir Zeit freischaufeln.« Er hatte mit Anwaltskollegen einige Termine ausgemacht.

»Nein, nein. Das brauchst du nicht.«

George nahm erneut ihre Hand, streichelte mit dem Finger wieder über ihren Handrücken. »Ich fürchte, wenn ich mir die Lage in diesem Land so ansehe, dass es ziemlich aussichtslos ist, etwas über den Verbleib deiner Freundinnen herauszufinden. Ich wünsche es dir sehr, aber mach dir bitte keine allzu großen Hoffnungen. Keiner will mehr über Vergangenes reden. Die Menschen wollen weiterleben, vergessen, verdrängen.«

»Das dürfen sie aber nicht. Zumindest nicht die, die Menschenleben auf dem Gewissen haben«, stieß sie aufgewühlt hervor.

»Da gebe ich dir recht. Aber du weißt, sie reden sich heraus, nur ihre Befehle befolgt zu haben.«

Luise seufzte. So oft hatten sie darüber diskutiert. Schon in den Staaten. Sie wollte jetzt nicht mehr darüber reden. »Es wäre schön, Tali bei uns zu haben. Egal, wo«, sagte sie fest.

»Ja, Darling, das wäre es. Aber Tali möchte auch nicht hier leben. Es wäre also eine Entscheidung für Amerika.«

Luise nickte nachdenklich.

»Jetzt lern sie erst mal besser kennen. Und ich dann auch irgendwann. Ich bin für dich da, das weißt du. Aber ich möchte mit dir oder euch in Amerika leben. Auf keinen Fall hier in diesem Land.«

»Ich weiß, George. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«