New York, 2023
Walter hatte ein Lokal vorgeschlagen, das June noch nicht kannte. Es befand sich in Upper Manhattan, in der Nähe von Washington Heights. Schon von außen sah man, dass es ein edles Restaurant war. Ein Paar verabschiedete sich gerade von der Empfangschefin, sie gratulierte den beiden zur Verlobung.
June wartete, sah sich suchend um. Sie fühlte sich underdressed, erklärte der Kellnerin, als diese sich an sie wandte, mit Walter Brown verabredet zu sein, er habe einen Tisch reserviert. Die Kellnerin nickte, führte sie zu ihm. Er sah ihr lächelnd entgegen. Ein Tisch für zwei, auf dem eine brennende Kerze stand, dazu eine rote Rose. Viel zu romantisch, durchfuhr es June.
Walter stand sofort auf, als sie an den Tisch trat. Er schien auch direkt aus der Kanzlei gekommen zu sein, trug seinen Anzug, sah etwas müde aus. Aber als er sie anblickte, leuchteten seine Augen. Oh nein, dachte June. Er machte sich wirklich Hoffnung? Und das, obwohl sie ihn so oft versetzt hatte.
Diesmal begrüßte er sie mit Küsschen rechts und links, sie nahmen Platz, tauschten Höflichkeitsfloskeln aus. Doch June konnte sich nicht lange zurückhalten. »Walter, was hast du über Tali herausgefunden?«, fragte sie nach.
»Wollen wir nicht erst bestellen?«, entgegnete er.
»Doch, natürlich.«
Er reichte ihr die Karte. »Entschuldige, ich habe ziemlich großen Hunger«, erklärte er. »Ich will dich nicht auf die Folter spannen.«
»Danke.« Sie überflog die Karte, entschied sich so schnell für ein Gericht, wie sie es noch nie geschafft hatte.
Nachdem sie beim Ober bestellt hatten, erklärte Walter: »Tali wurde 1947 von Luise adoptiert und lebte bei ihr in New York.«
»Oh! Wie schön!«, entfuhr es June begeistert, dann dachte sie nach. »Aber was wurde aus ihr? Weder meine Großmutter noch meine Mom haben je ein Wort über sie verloren.«
»Ja, das ist das Tragische. Das Mädchen hat sich bei seiner Verwandtschaft in Palästina, die sie ja nicht kannte, so unwohl gefühlt und immer von Luise, ihrer zweiten Mama, gesprochen, dass ihre Verwandte doch eingewilligt hatte, Tali zu Luise zu schicken. Auch weil Tali immer kränker geworden ist. Sie kam sehr krank zu Luise, aber trotz ihres guten Essens aus dem Taste of Freedom ist Tali ein Jahr später gestorben. Es müssen die Folgen der Mangelernährung und die ganzen Strapazen im KZ gewesen sein. Einige, die das KZ überstanden hatten, lebten danach nicht mehr lange.«
Traurig sah June ihn an. »Wie schrecklich.«
»Ja.«
»Und meine Mutter? Ist sie auch adoptiert worden?«
»Nein.« Er lächelte. »Aus der Akte geht hervor, dass Luise und George noch ein Kind bekommen haben, Brooke. Nach Talis Tod muss deine Großmutter schwanger geworden sein, sie war sicher überglücklich darüber.«
Erleichtert sah June ihn an. »Dann war Luise wirklich meine Großmutter. Und George mein Großvater.«
»Ja, das waren sie.«
»George ist früh gestorben, Luise hat danach wieder ihren Mädchennamen angenommen, vermutlich, um gefunden werden zu können«, sagte June. »Deshalb erinnere ich mich nicht, dass sie jemals Luise Clay hieß.«
Walter nickte. »Und was ich noch herausgefunden habe: Luise ist entschädigt worden, als politisch Verfolgte, das stand auch in der Akte.«
June sah ihn aufmerksam an. »Entschädigt«, wiederholte sie. Bei diesem Wort war ihr etwas eingefallen. Aufgeregt fuhr sie fort: »Es gibt ein Entschädigungsarchiv. Ich bin noch nicht dazu gekommen, dort zu recherchieren. Walter, aber das ist es, das könnte mich zu Maria führen. Wenn Maria auch eine Entschädigung bekommen hat.« Vertriebene durch den Holocaust hatten Entschädigungsansprüche stellen können. Politisch Verfolgte und Juden.
Walter bestätigte das, kannte als Anwalt sogar die Gesetzeslage, da er einmal einen jüdischen Emigranten als Klienten vertreten hatte. »Es gibt das Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus, das entstand sozusagen als Anschlussgesetz zum Bundesentschädigungsgesetz. Man bekommt Akteneinsicht im zuständigen Amtsgericht. Leider nur vor Ort, nicht im Internet. Anders kommt man an die Infos nicht ran.«
»Das heißt, ich muss zum Amtsgericht nach Berlin, oder jemanden hinschicken, damit es schneller geht.« Sie wollte jetzt nicht sofort weg aus New York, weg von Hendrik.
Anton fiel ihr ein. Er hatte beim Abschied angeboten, für sie Dinge in Berlin zu erledigen, für ihre Suche. Könnte sie ihn wirklich um diesen Gefallen bitten?
Wenn Maria wirklich noch hatte auswandern können, dann hatte sie vielleicht eine Entschädigung beantragt. Wieso war sie nicht früher darauf gekommen? Dann würde man vielleicht auch sehen, in welches Land sie emigrieren konnte.
Der Ober servierte das Essen. Am liebsten wäre June jetzt sofort aufgestanden und gegangen, um weiterzurecherchieren, um Anton anzurufen, außerdem sehnte sie sich nach Hendrik. Aber das konnte sie Walter nicht antun.
Im Gespräch mit ihm, das sich inzwischen um ihren Job drehte, wurde ihr wieder klar, wie wenig Lust sie hatte, weiter als schlechtbezahlte Redakteurin bei belanglosen Magazinen zu arbeiten. Ihre Lebenszeit war ihr einfach zu schade dafür. Vermutlich hatte Großmutter ihr auch das sagen wollen mit ihrem Vermächtnis. Mach etwas aus deinem Leben, etwas, das dir Spaß macht.
Das Essen schmeckte hervorragend und war auch wunderschön dekoriert.
»Weißt du, was, ich könnte Foodbloggerin werden«, sagte sie zu Walter. Der Gedanke war in ihr gereift, seit sie von Großmutters Restaurant und ihrer Liebe zu gutem Essen, ihrem guten Geschmack gehört hatte.
»Foodbloggerin?«
»Ich esse gerne und schreibe gerne«, sagte sie lachend. »Liegt also nahe. Schöne Fotos zu machen, werde ich lernen.«
Er lächelte. »Warum nicht?«
»Und vielleicht finde ich Maria ja wirklich, und Anni«, fuhr sie euphorisch fort. »Dann wäre ich finanziell eh abgesichert.«
»Ich bin mir wie gesagt sicher, dass du es schaffst.«
»Meine Großmutter hat auch noch mal ganz neu angefangen. Jeder kann das, in jedem Alter, das hat mich ihre Geschichte gelehrt. Ich möchte es versuchen. Auch wenn ich nichts erbe. Ich muss mehr auf mich achten, auf meine Gesundheit, darauf, was mir guttut. Auch das sollte jeder tun.«
»Das stimmt. Bist du krank?« Er klang besorgt.
»Nein, aber ich war kurz davor, krank zu werden. Ich stand vor einem Burn-out. Oder war schon mittendrin, keine Ahnung. Jedenfalls hat mir die Auszeit hier sehr gutgetan. Auch wenn der Tod meiner Großmutter vor ein paar Jahren hier wieder so präsent war. Aber ich liebe ihr Haus, den Garten. Hier bin ich aufgewachsen. Ihr Geist weht da noch umher«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Sie hatte einen wachen Geist, kann also gut sein«, scherzte Walter.
June lachte. »Ja, das hatte sie.«
Nachdem sie aufgegessen und noch etwas über das Leben in New York geplaudert hatten, verabschiedete sich June bald. Hendrik würde sie erst morgen treffen können, er hatte zu Mareike gemusst.
Vermisse dich. Ich habe eine neue Idee, wo ich weiterrecherchieren kann, schrieb June ihm.
Klingt gut. Vermisse dich auch wie verrückt. Brauchst du Hilfe?, hatte er sofort geantwortet. Keine Spielchen, kein Warten, ein Hilfsangebot. Ihr Herz klopfte. Vielleicht hatte ihre Großmutter ihr tatsächlich auch deshalb diese Aufgabe gestellt, um sich selbst herauszufordern, um über ihr Leben nachzudenken. Das, was jeder hin und wieder tun sollte.
Das ist lieb, aber ich schaffe das alleine, schrieb sie zurück.
*
Anton hatte sich sofort bereiterklärt, für June ins Entschädigungsarchiv am Fehrbelliner Platz zu gehen. Er hatte Akteneinsicht beantragt, wollte alles abfotografieren für sie. »Weißt du, ich bin kein so schlechter Kerl, wie du denkst«, hatte er gesagt.
»Das denke ich ja auch nicht«, hatte sie am Telefon erwidert.
Natürlich dauerte es, bis er die Akteneinsicht bekam, aber June recherchierte weiter in anderen Archiven, auf die man online zugreifen konnte, genoss die kostbaren Stunden mit Hendrik, lebte in Luises Haus, wie in einem Traum. Hoffentlich würde sie hier ihre Zukunft verbringen können, im Haus ihrer Familie.
Zwei Wochen später, es war mitten in der Nacht, lag June allein in ihrem Bett im Gästezimmer, konnte nicht schlafen. Am liebsten hätte sie Hendrik sofort von den Infos aus dem Entschädigungsarchiv erzählt, die Anton ihr vorhin geschickt hatte. Aber Hendrik hatte abends zu Mareike gemusst, sie war aus ihrem Rollstuhl gestürzt, und es war nicht klar, ob sie in ein Krankenhaus musste. June machte sich Sorgen um sie. Mareike würde immer ein Teil ihrer Beziehung bleiben, und das war in Ordnung so.
June stand auf, nahm ihr Handy, ging im Pyjama in die Wohnküche, um sich einen Tee aufzubrühen. Jetzt erst sah sie, dass Hendrik ihr eine Nachricht geschickt hatte.
June lächelte erleichtert. Schön, dass es Mareike gut ging.
Sie sehnte sich nach ihm.
Sie schickte die Nachricht ab, vertiefte sich erneut in die Unterlagen, die Anton geschickt hatte. Das Mondlicht und das Licht ihres Smartphones erhellten den Raum ein wenig. Nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, ging sie zurück ins Bett. Sie war so aufgeregt, konnte jetzt sicher nicht schlafen.
Ein Klingeln an der Haustür schreckte sie irgendwann auf. Sie musste doch eingeschlafen sein. Draußen war es immer noch dunkel, fünf Uhr früh, verriet ihr der Blick auf den Wecker. Wer mochte das sein? Kurz bekam sie etwas Angst. Aber als im nächsten Moment eine Nachricht von Hendrik auf ihrem Handy-Display erschien, Frühstück ist da, musste sie lächeln. Dieser Kerl. Sie stand auf, lief eilig zur Tür und öffnete. Davor stand Hendrik mit einem Picknickkorb in der Hand.
»Frühstückszeit«, verkündete er grinsend. »Heißen Kaffee habe ich auch dabei und allerlei andere Köstlichkeiten.«
»Wow.«
»Lass dich nie mit einem Chefkoch ein.«
Sie lachte, umarmte ihn. »Die beste Entscheidung meines Lebens. Ich liebe gutes Essen.«
Sie küssten sich sanft. Dann löste sich June von ihm, bat ihn herein. Er folgte ihr, und sie gingen in die Wohnküche. Dort stellte er den Korb auf den alten Holztisch, packte eine edle Thermoskanne aus, verschiedene Bambusschälchen, öffnete die Glas-Deckel.
»Mhmm, Rührei mit frischen Kräutern, Tomate-Mozzarella, und was ist das?«
»Ein Koriander-Brunch-Salat à la Hendrik in love.«
Sie ging zu ihm, schlang die Arme um ihn, lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. Sein Herzschlag pochte laut und deutlich an ihrem Ohr.
Eine Weile standen sie einfach so da. Hendriks Hand strich sanft über ihren Rücken. Wie gut sich das anfühlte, wie geborgen.
»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, fragte sie ihn.
»Nein, was?«
Sie hob den Kopf, sah ihn an. »Wenn ich beide Erben der Freundinnen meiner Großmutter gefunden habe und wir das Taste of Freedom zu dritt behalten werden, was ich hoffe, dann möchte ich mit dir dort zusammenarbeiten.«
»Oh wow. Das klingt großartig.«
»Erst mal als Kellnerin, um alles kennenzulernen, aber dann gerne als Geschäftsführerin, wie Luise damals. Immer noch großartig, wenn ich deine Chefin bin?«, neckte sie ihn.
Hendrik lachte. »Ja, sehr, weil du dann immer in meiner Nähe bist, perfekt.«
June schmunzelte. »Mal sehen, ob du das dann noch so perfekt findest. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. So lange muss ich etwas anderes machen, um mich zu finanzieren.«
»Und die Arbeit als Journalistin ist nichts mehr für dich?«
June schüttelte den Kopf. »Nicht für Klatschmagazine wie bisher. Außerdem darf es nichts Festes sein. Ich muss weiterforschen. Also habe ich beschlossen, ich werde einen Foodblog erstellen. Ich liebe gutes Essen, wie du weißt. Und einen Reiseblog werde ich auch führen. Denn ich muss auf Reisen gehen in nächster Zeit.«
»Auf Reisen, wieso?«
Sie lächelte vorfreudig. »Weil ich die abfotografierten Infos von Anton aus dem Entschädigungsarchiv bekommen habe. Maria hat tatsächlich einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Von Brasilien aus.«
»Brasilien?«
»Ja, viele sind dorthin ausgewandert.«
Hendrik nickte angetan. »Toll, dann wirst du sie finden.«
»Das Land ist groß, und sie ist sicher umgezogen.«
»Trotzdem. Du wirst es schaffen, da bin ich mir sicher. Aber dann wirst du länger weg sein.«
»Ich gebe mir Mühe, schnell voranzukommen. Ich muss die Reise ja auch irgendwie finanzieren. Keine Ahnung, ob ich mir als Bloggerin gleich meinen Lebensunterhalt verdienen kann, vermutlich eher nicht. Obwohl, vielleicht werde ich eine super Influencerin«, scherzte sie.
»Dir traue ich alles zu.« Ernster fügte er hinzu: »Was man wirklich will, das schafft man.«
Sie nickte lächelnd, auch er hatte sehr für seinen Traum gekämpft. Genauso wie Luise. Ihr Blick fiel auf das Foto ihrer Großmutter auf der Anrichte, die junge Luise, zusammen mit ihren Freundinnen. Sie hatte es geschafft. Zu emigrieren, im Exil heimisch zu werden, auch wenn sie viele, viele Rückschläge hatte verkraften müssen. Sie hatte sich ihren Traum erfüllt, ihr Restaurant gegen alle Widrigkeiten eröffnet, einige neue Freundinnen gefunden, eine große Liebe.
Allerdings hatten Luise die Schatten der Vergangenheit ein Leben lang verfolgt. Deshalb hatte sie erst kurz vor ihrem Lebensende verfügt, dass ihre Enkelin mehr erfahren sollte über ihr Leben in Deutschland, über ihren Mut, sich zu widersetzen, über ihre Auswanderung. Und sogar über ihre Schuld, die sie bis zuletzt ganz für sich behalten hatte. June wusste jetzt auf jeden Fall wieder, wie stark Frauen sein konnten, vor allem die Frauen im Exil.
Hendrik legte seine Hände um ihre Hüfte, zog sie an sich, und sofort wusste sie, was sie als Nächstes tun wollte. Ja, sie würde nach Brasilien fliegen und sich dort auf Marias Spuren begeben. Aber vor allem und erst einmal wollte sie ihn, diesen Dänen, der ihr Herz berührte.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, spürte seine warmen Lippen, seinen Atem, seine Kraft. Sie küssten sich voller Sehnsucht, dann hob Hendrik sie hoch und trug sie ins Gästezimmer, um sie zu spüren.