New York, 2023
Der Geruch von Lavendel hing in der Luft und schmerzte. So viele Jahre war sie nicht mehr hier gewesen bei ihrer Großmutter Luise. June sah sich im Schlafzimmer um, stand verloren in der Mitte des Raums, spürte den Schwindel, der sie seit Luises Tod vor fünf Jahren immer wieder erfasste. June war in Amerika geboren und nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei Luise in Washington Heights, einem Stadtviertel von New York, aufgewachsen. Hier gehörte ihrer Großmutter ein großes, anmutiges Haus, edel eingerichtet, mit vielen Antiquitäten, einem parkähnlichen Garten, einem Gärtner und einer Haushaltshilfe. Nur gekocht hatte Luise nimmer selbst.
Jetzt war auch noch Luises letzter Mann, Bill, verstorben. Er war etwas jünger gewesen als Junes betagte Großmutter und hatte lebenslanges Wohnrecht in ihrem Haus gehabt. June hatte ihn nicht besonders gut gekannt, auch war sie seit Luises Beerdigung nicht mehr in New York gewesen.
Um alles zu regeln, war sie aus ihrer Wahlheimat Berlin angereist, in der sie seit ihrem Studium lebte. Großmutters Testament lag bei einem Anwalt, der June als Erbin vor dem »personal representative«, dem Nachlassverwalter, den es in den USA in Erbsachen gab, vertrat. Dieser Anwalt hatte sie nach dem Tod ihrer Großmutter über Bills lebenslanges Wohnrecht informiert und auch darüber, dass sie in der Erbfolge hinter Bill stand, dass es aber noch einen verschlossenen Brief von ihrer Großmutter an June gebe, den er ihr erst nach Bills Tod vorlesen dürfe, so hatte sie es in ihrem Testament verfügt. Dies sollte dann auch persönlich sein. Als gäbe es etwas zu verheimlichen, hatte sich June damals gedacht. Ein seltsamer Gedanke. Verbarg Großmutter ein Geheimnis?
Das Zimmer sah aus, als wäre Luise nur kurz hinausgegangen. Bill hatte nichts verändert, er schien sie sehr geliebt zu haben. Und sie ihn? »Wenn du liebst, dann tu es aus vollstem Herzen im Hier und Jetzt oder lass es sein«, hatte sie einmal zu June gesagt. Und: »Im Leben einer Frau gibt es immer eine ganz besondere Liebe.«
June ließ sich auf den altrosafarbenen Hocker vor dem Frisiertischchen sinken. Alles in diesem Zimmer wirkte, als wäre die Zeit in den Sechzigerjahren stehen geblieben. Zu selten hatte June ihre Großmutter in den letzten Jahren besucht, durchfuhr es sie, zu viel hatte sie gearbeitet. Und Großmutter wollte partout nicht nach Berlin kommen, auch nicht, als June ihr Studium begann und Luise noch rüstiger gewesen war.
Nach dem Tod ihrer Eltern war die sechsjährige June nachts oft zu Luise unter die Bettdecke gekrochen. Der Verlust von Junes Eltern hatte sie beide zutiefst erschüttert, herausgerissen aus dieser Welt in eine Schwerelosigkeit. Junes Mutter, Großmutters einzige Tochter Linda, hatte im Sarg so friedlich ausgesehen. Kein einziger Schnitt im Gesicht, dafür offenbar viele am Körper. Details, die June nicht hören wollte. Aber wer kümmerte sich schon um die Gedanken eines Kindes, wenn es neben einem Sarg stand? Einzig ihre Großmutter hatte sie dort entdeckt und ihr die Hand vor Augen und Ohren gehalten. »Ein Kind darf nicht alles sehen«, hatte sie geflüstert. »Ich habe so gehofft, dass dir der Anblick von Toten erspart bleibt.«
Zu Luises Beerdigungsfeier waren nur ein paar Nachbarn in die kleine Kapelle gekommen. June hatte vorgehabt, alte Freunde und Bekannte ausfindig zu machen, aber ohne ein persönliches Telefonbuch ihrer Großmutter war das vergebens. Vermutlich waren auch alle schon tot. Überhaupt hatte sich June nie Gedanken gemacht, ob ihre Großmutter enge Freundinnen und Freunde hatte. Luise hatte immer zufrieden gewirkt, sich um kranke Nachbarn gekümmert und für sie gekocht, sonst aber eher zurückgezogen in diesem wunderschönen Haus gelebt. Aber auch die alten Nachbarn, mit denen Luise Kontakt gehabt hatte, waren schon gestorben oder weggezogen.
Ob Bill Freunde oder Bekannte hatte? June wusste aus den Erzählungen ihrer Großmutter nur, dass er keine Familie mehr hatte, mehr nicht. Er hatte nie viel geredet.
Ein letztes Mal ließ sie den Blick durch Luises Schlafzimmer schweifen, dann erhob sie sich und ging die Treppe hinunter ins Entrée. Woher Großmutter so viel Geld gehabt hatte, um dieses große Haus kaufen zu können, hatte June sie einmal gefragt. »Über Geld redet man nicht«, war Großmutters Devise gewesen, und danach hatte June sie nie wieder gefragt.
Vor einem goldumrandeten Gemälde blieb sie stehen. Luise war wie eine Mutter für sie gewesen. Eine oft fröhliche Mutter, aber auch eine traurige. Beinahe wäre sie an dem Verlust der einzigen Tochter zerbrochen, hatte sie June später einmal gestanden. Einzig die Tatsache, dass sie für ihre Enkelin da sein musste, hielt sie am Leben. »Du hast mir das Leben gerettet, Schatz«, hatte sie gesagt. »Ich danke dir sehr dafür, du hast meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Und meine Schuld verringert.«
June hatte den letzten Satz damals nicht verstanden, aber Großmutter hatte nicht darüber reden wollen.
Jetzt, als June auf das Gemälde sah, dachte sie wieder daran. Denn Großmutter hatte den Satz genau hier gesagt, vor dem Bild, auf dem Ellis Island abgebildet war. Die Insel der Tränen. June wischte den Gedanken beiseite.
June war mit zwanzig nach Berlin gegangen, um Journalismus zu studieren, und hatte sich danach lange als Praktikantin ausbeuten lassen. Hätte Großmama ihr nicht monatliche Schecks geschickt, hätte das niemals funktioniert. Kurz vor dem Ende ihres Studiums lernte June Micha kennen, einen Musiker. Sie heirateten überstürzt, und June musste Geld verdienen, denn Micha lebte für seine Musik und von ihr.
Notgedrungen hatte sie einen befristeten Job als Redakteurin eines Klatschmagazins angenommen. Anfangs mochte sie diese Art Jobs sogar, die sich aneinanderreihten. Aber inzwischen, mit Ende dreißig, kam ihr ihre Arbeit leer und sinnlos vor. Sie machte June unzufrieden und unleidlich, wie ihr aktueller Partner Anton ihr immer wieder vorwarf. Anton, mit dem sie seit vier Jahren zusammenlebte, nachdem die Ehe mit Micha gescheitert war, weil er sie betrogen hatte. Sie hatte Anton in einem Café kennengelernt, da trug er nicht sein Bankerkostüm, wie sie es immer nannte, sondern eine legere Hose und ein T-Shirt.
Auch die Beziehung mit Anton war inzwischen schwierig. Er nörgelte oft an ihr herum. Aber das hatte sie erst in den letzten Monaten bemerkt. Auch dass sie kurz vor einem Burn-out stand, dass ihre Hände öfter zitterten. Gut, dass ihr befristeter Vertrag bei einem Unterhaltungsmagazin gerade ausgelaufen war und sie ein wenig Atem schöpfen konnte. Oder belastete sie das, was sie über Anton herausgefunden hatte, immer noch so sehr? Sie fühlte sich seitdem einsamer als jemals zuvor.
June sah auf die Uhr, zog den Brief des Anwalts aus Manhattan aus ihrer Handtasche hervor, der sie vor einer Woche erreicht hatte, und überflog ihn erneut.
Sehr geehrte Mrs. Zeiler,
wie wir Ihnen nach dem Tod Ihrer Großmutter mitgeteilt haben, soll Ihnen nach dem Ableben von Mr. Bill Blixton der verschlossene Brief Ihrer Großmutter persönlich verlesen werden. Zu diesem Anlass möchten wir Sie bitten, einen Termin in unserer Kanzlei zu vereinbaren.
Mit freundlichen Grüßen
Walter Brown
June ließ den Brief sinken, der Termin war in einer Stunde. Was konnte es sein? Sie würde dieses wunderschöne Haus erben, das war ja eigentlich klar. Da sie aber in Berlin lebte und sich dort mit Anton ein Häuschen am Stadtrand kaufen wollte, musste sie es wohl verkaufen. Das tat ihr jetzt schon in der Seele weh.
June steckte den Anwaltsbrief zurück in ihre Handtasche, goss rasch die Blumen im Salon und schloss die Haustür sorgfältig ab. Wie sehr vermisste sie ihre Großmutter, wie sehr bedauerte sie es, mit ihr nicht mehr über ihre Vergangenheit, ihr Leben, ihre Lieben geredet zu haben.