Johan war nett. Hilfsbereit. Und nicht ganz so begabt.
Es gab so vieles, was er nicht verstand. Zum Beispiel, dass er nicht den besten großen Bruder der Welt hatte.
Auch wenn sie nur zwei Jahre trennten, sah Johan zu Fredrik auf wie ein Sohn zu seinem Vater. Zu einem Vater, den sie nicht hatten.
Na ja, eigentlich schon. Bloß dass er sich noch vor Johans Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Und sich seither nur bei sehr seltenen Gelegenheiten blicken ließ. Zuletzt bei der Beerdigung ihrer Mutter. Zum Leichenschmaus schenkte er den Brüdern die Zwölfeinhalbzimmerwohnung an der vornehmsten Straße Stockholms. Sagte zu Fredrik, er sei stolz auf ihn, und zu Johan, vielleicht werde ja eines Tages noch alles gut.
Dann verzog er sich.
Auch wenn die Brüder sich ähnlich sahen, waren sie charakterlich doch sehr verschieden. Der Große trat in die Fußstapfen des abwesenden Vaters, auf bestem Wege, Diplomat zu werden, mit Karriereziel Botschafter . Der Kleine scheiterte als Postbote.
Während der eine erfolgreich die Diplomatenausbildung des Außenministeriums durchlief, kümmerte sich der andere darum, die zwölfeinhalb Zimmer in Schuss zu halten, da er ja zu wenig anderem taugte.
Abends ließ sich Fredrik mit wichtigen Dokumenten im Lesesessel der Bibliothek nieder, bat Johan, ihm einen Whisky zu bringen, horchte in sich hinein, wie hungrig er war, und verkündete, wann das Essen auf den Tisch zu kommen hatte.
»Viertel nach sieben«, sagte er dann etwa zu seinem Bruder. »Und damit meine ich Viertel nach sieben. Jetzt geh und lass mich in Ruhe.«
Johan hatte das Gefühl, gebraucht zu werden. Und war stolz, dass er sich nützlich machen konnte. Er war im Großen und Ganzen zufrieden. So schwierig Denken manchmal auch sein konnte, so spannend waren für ihn Schmecken und Riechen.
Mit dem Ergebnis war Fredrik selten zufrieden, genau genommen nie. Warum auch? Johan konnte ja sowieso nichts. Und der große Bruder hatte es voll raus, konstruktive Kritik zu üben: »Nicht so viel Oregano an die Soße, du Idiot!«
Er achtete peinlich genau auf die Etikette.
»Nie, nie, nie einen Pinot noir in einem Bordeauxglas servieren! Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
Einmal reichte. Die Küche war Johans Hauptarbeitsplatz seit er zwölf und ihre Mama zu krank geworden war, um aus dem Bett aufzustehen. Sechs Jahre später starb sie an etwas mit lateinischem Namen, das sich Johan einfach nicht merken konnte.
Fredrik zu bedienen, hatte als ein Spiel angefangen. Ein Spiel, das sich, als sie Erwachsene waren, längst verselbstständigt hatte.
Fredrik nannte es »Herr und Diener«. Der eine war der Herr, der andere sein Diener. Wenn der Diener nicht richtig gehorchte oder vergaß, »Ja, mein Herr« oder »Nein, mein Herr« zu sagen, tauschten sie, und das Spiel ging weiter.
Fredrik konnte alles am besten, nur das nicht. Er verpatzte es ein ums andere Mal und durfte fast nie der sein, der den anderen bediente. Als der Tag näher rückte, an dem Fredrik ins Ausland gehen und nichts beim Alten bleiben sollte, war Johan – mit wenigen ganz kurzen Ausnahmen – seit fünfzehn Jahren Diener seines Herrn gewesen.
»Du bist einfach zu clever für mich«, sagte Fredrik. »Geh jetzt und hol meine beiden Koffer aus der Abstellkammer. Dann kannst du Hemden bügeln und meine Sachen packen. Aber vergiss nicht das Rinderfilet im Ofen. Wir haben mit Gorgonzola gesagt, richtig? Ich krieg allmählich Hunger.«
»Ja, mein Herr. Ja, mein Herr. Nein, mein Herr. Und ja, mein Herr.«
Aber das Rinderfilet vergessen? Wie das denn? Da kam es sehr genau auf die Temperatur an. Bei 110 Grad im Ofen garen, bei 50 Grad Kerntemperatur raus aus dem Ofen und bis 54,5 auf der Platte ruhen lassen. Blieben noch elf Minuten fürs Tischdecken.
Auf Fredrik wartete sein erster Auslandseinsatz als Diplomat. Vor seinem Umzug hatte der große Bruder den Kopf voll. Mit einem flauen Gefühl im Magen machte Johan sich darauf gefasst, dass er einsam und allein in der repräsentativen Etagenwohnung am Strandvägen zurückbleiben würde, aber dazu hatte Fredrik offensichtlich ein viel zu großes Herz. Er verkaufte die zwölfeinhalb Zimmer und kaufte seinem jüngeren Bruder von dem Geld ein Wohnmobil. Mit Küchensonderausstattung! Johan bekam sogar eine Debitkarte, mit der Geheimzahl 1 – 2 – 3 – 5. Die hatte Fredrik selbst ausgesucht, »damit nicht mal du sie vergessen kannst. Bei 1 – 2 - 3 – 4 hat sich die Bank geweigert.«
»1, 2, 3, 4«, wiederholte Johan.
»1, 2, 3, 5, du Idiot«, sagte Fredrik.
Er hatte fünfzigtausend Kronen auf das Konto eingezahlt und sagte, von nun an müsse Johan erwachsen werden und alleine klarkommen.
»Ja, mein Herr«, sagte Johan nervös, weil er nicht wusste, was ihn erwartete, aber dankbar für jede Hilfe, die er kriegen konnte.
Damit nicht genug, hatte Fredrik sich auch um den Verkauf der gesamten Einrichtung gekümmert, die seit Urzeiten in Vater Löwenhults Familienbesitz war: ein Flügel, acht Perserteppiche, ebenso viele Renaissancegemälde, Porzellan, Kommoden, Kristallkronleuchter, Schränke und Spiegel. Die Auktionsfirma sagte, alles zusammen sei »extraordinär«. Johan bekam das zwar mit, hatte aber Probleme mit schwierigen Wörtern. Fredrik erklärte ihm, sie meinten, die Einnahmen könnten die Kosten seines Rom-Flugs decken.
Damit war eigentlich alles geregelt. Der große Bruder musste ihm bloß noch das Wohnmobil erklären. Johan würde elektrischen Strom brauchen, um die Batterien aufzuladen, sonst konnte er nicht kochen. Rund um Stockholm gab es so einige Stellplätze, Fredrik hatte einen in Fisksätra gebucht. Der sei allerdings schweineteuer, sagte er. Zum Dank für seine Hilfe wollte er zum Flughafen gebracht werden.
Sie waren noch gar nicht vom Fleck gekommen, da beschloss der angehende Diplomat, dass er sich am besten selbst ans Steuer setzte. Mit dem Johan sich gerade mal zwei Minuten lang vertraut gemacht hatte. Der jüngere Bruder war mit dem Fahrerwechsel einverstanden. Autofahren war übrigens genauso kompliziert wie fast alles andere.
Gut am internationalen Abflugterminal angekommen, sagte Fredrik erst etwas Kurzes, das Johan nicht verstand, dann Tschüss und viel Glück, nahm seine beiden Koffer und verschwand.
Der, der wusste, dass er zu nichts taugte, war zum ersten Mal im Leben allein. Er beschloss, erst einmal die ganze Strecke bis Fisksätra zu fahren, zur Übung, damit er lernte, wie das Auto funktionierte. Es schaltete automatisch, das war gut. Und man musste nur zwei Pedale auseinanderhalten, nicht drei. Bestimmt kam er damit klar, solange er beim Fahren an nichts anderes dachte. Was ja wohl nicht nötig war.
Aber genau deshalb wechselte er auf der Autobahn nach Stockholm nicht auf die richtige Spur, nahm die verkehrte Abfahrt – und stellte fest, dass er aus Versehen vor einem Einkaufszentrum gelandet war.
»So ein Glück!«
Daher war die Küche des Wohnmobils gut bestückt, als Johan nach einigem Hin und Her schließlich bis zum Abstellplatz südöstlich der Stadt gefunden hatte.
»Schweineteuer« hatte Fredrik den genannt. Das stimmte sicher, aber Johan erlaubte sich zu denken, dass er billig aussah. Ungefähr so groß wie ein Fußballplatz. Mehr Acker als Wiese. Hie und da ein paar Ladesäulen. Ein Schild, das sämtliche Verbote auflistete. Zum Lesen hatte Johan keine Zeit, er musste sich jetzt erst mal aufs korrekte Einparken konzentrieren.
Weit und breit standen keine Fahrzeuge auf dem Platz, bis auf einen einsamen Wohnwagen ein Stück weiter hinten, nahe an einem Abhang. Johan dachte sich, dass die Leute so mitten im Hochsommer bestimmt lieber draußen auf den Straßen unterwegs waren.
Doch den Gedanken hätte er sich besser verkniffen. Er musste ja schon ans Gaspedal denken. Und ans Lenkrad. Hätte es einschlagen müssen, damit er nicht auf den Wohnwagen zufuhr. Und bremsen.
Aber das war ja fast alles schwierig. Damit nahm das Verhängnis seinen Lauf, oder wie man das nennen sollte.
Der einsame Wohnwagen stand zufällig genau da, wo er nicht hätte stehen sollen. Und er kam näher, obwohl er stillstand. Johan begriff: Es konnte wohl nur daran liegen, dass er selbst weiter vorwärtsfuhr.
Gaspedal und Bremspedal sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Das Gas war rechts, die Bremse links. Aber wo war rechts nun gleich wieder? Und links?
Nachdem er die ganze Strecke vom zig Kilometer entfernten Flughafen bis hierher geschafft hatte, wusste Johan plötzlich nur noch, dass es verdammt pressierte .
Er musste bremsen! O weh, daneben.
Das Wohnmobil machte einen Satz nach vorn.
Er probierte es noch mal. Diesmal richtig.
So kam es zu keiner großen Karambolage. Das Wohnmobil rammte den einzigen, einsamen Wohnwagen auf weiter Flur, stupste ihn aber nur ein klein wenig an. Daraufhin kam Johans Fahrzeug selbsttätig zum Stehen. Das andere Gefährt hingegen fuhr los. Und nahm bergab Fahrt auf. Einen Meter. Zwei. Fünf. Vielleicht zehn, bis ein einsamer Baum im Weg stand.
»Nicht gut«, sagte Johan.
Wenn er sich da mal nicht täuschte.