3. KAPITEL
Freitag, 26. August 2011

Noch zwölf Tage

Dunkelheit senkte sich auf den Abstellplatz, öde und verlassen bis auf ein einsames Wohnmobil und die Reifenspuren eines Wohnwagens, der nicht mehr dort stand, wo er gestanden hatte. Der dreißig Jahre alte Whisky war fast ausgetrunken. Die mit Ziegenkäse gefüllten Datteln in krossem Bacon verputzt. Johan holte zwei Decken aus dem Wagen, legte eine seiner – in seinen Augen – neuen Freundin um die Schultern und wickelte sich selbst in die andere.

»Also noch zwölf Tage. Na so was, da sitze ich hier doch glatt mit einer echten Weltuntergangsprophetin beisammen.«

»Wir nähern uns wohl eher rapide der Elfermarke.«

Zwei Drittel des Flascheninhalts hatte die Besucherin intus, doch das Drittel, das für Johan abgefallen war, genügte, ihn philosophisch zu stimmen.

»Elf Tage oder zwölf … Aber warum sich deshalb aufhängen? Sollte es nicht eher umgekehrt sein?«

Mit nahezu messianischer Geste breitete er beide Arme aus.

»Sollte man jetzt nicht die ganze Welt umarmen? In der kurzen Zeit, die einem noch bleibt.«

Die Prophetin konnte sich Johans Enthusiasmus nicht anschließen.

»Meinetwegen umarm du doch, was du willst. Für mich würden es elf ganz genauso elende Tage werden wie die elftausendzweiundfünfzig davor. Sag du mir doch, wenn du kannst, was das Ganze soll.«

»Was ist vor elftausendzweiundfünfzig Tagen passiert?«

»Da bin ich auf die Welt gekommen.«

»Ups.«

Die Frau fuhr fort: »Ich ertrage die Vorstellung nicht, dass alles zu Ende geht, bevor irgendwas aus irgendwas werden konnte.«

»Was werden?«

»Etwas, hab ich doch gesagt.«

»Was denn so zum Beispiel?«

»Ich bin Oberschullehrerin ! Oder war eine, bevor ich abgehauen bin. Niemand hört mir zu, wenn ich rede. Aus mir ist keine Professorin geworden. In der Liebe hat sich auch nichts getan. Ich hab’s nicht mal geschafft, irgendwann zu irgendwem ›Ich liebe dich‹ zu sagen. Aber das hätte ja auch nichts gebracht!«

»Du kannst es zu mir sagen, wenn du willst.«

»Es sollte möglichst von Herzen kommen.«

Doch dann wurde sie milder.

»Auch wenn der Whisky lecker war. Und die Knabbereien. Wie hast du die hingekriegt? In einem Wohnmobil?!«

»Kochen macht mir Spaß. Und Putzen.«

Lächelte sie nicht ein wenig, während sie sich den letzten Rest aus der Flasche nachschenkte?

»Tolle Mischung. Hast du noch einen anderen Namen als Idiot?«

»Na klar!«

Jetzt lächelte sie ganz bestimmt.

»Lass mich die Frage umformulieren: Wie heißt du?«

»Ich heiße Johan Valdemar Löwenhult. Mit Betonung auf Johan. Und du?«

»Ich heiße Petra Rocklund. Mit Betonung auf Petra.«

»Freut mich sehr, Petra.«

Johan prostete ihr mit seinem leeren Glas zu.

»Ganz so weit würde ich nicht gehen wollen«, sagte sie.

Damit ließ sich die betrunkene und müde Weltuntergangsprophetin nach hinten zurückfallen und schloss die Augen.

Würde sie gleich einschlafen? Johan wurde nervös, denn was sollte er dann machen? Er konnte Petra nicht einfach auf dem Campingstuhl zurücklassen, selbst mit zwei Decken würde es viel zu kalt werden. Und er konnte eine trotz allem fremde schlafende Frau nicht gegen ihren Willen in sein Wohnmobil schleifen.

»Petra? Hallo?«

Tiefe Atemzüge.

»Du kannst doch nicht … Petra? Soll ich dir beibringen, wie ich meine Datteln mit Ziegenkäsefüllung mache?«

Fehlanzeige.

»Petra!«

Was tun?

»Petra, ich liebe  …«

Da ging ein Ruck durch sie. Die Liebe, oder deren Abwesenheit, schien sie anzusprechen.

»Wen liebst du?«, murmelte sie, ohne die Augen aufzumachen.

»Straßenecken.«

Die Augen klappten auf.

»Wer liebt denn Straßenecken?«

Sie war wieder da! Jetzt musste er sie bei der Stange halten.

»Lieben ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich mag sie sehr. Seit meiner Zeit als Postbote. Oder noch davor. Man steht da so an der Ecke und guckt erst in die eine, dann in die andere Richtung. Kann sich nicht für eine entscheiden. Das kommt einem fast jedes Mal wieder wie eine Lebensentscheidung vor. Irgendwas daran ist schön, tja, schwer zu erklären.«

Die Besucherin wirkte nicht begeistert, dass man sie geweckt hatte, um über die Poesie von Straßenkreuzungen zu schwadronieren.

»Ich hab von zwischenmenschlicher Liebe geredet.«

Johan dachte noch mal nach.

»Dann sage ich Fredrik, mein Bruder. Er hat mir alles beigebracht, was ich kann.«

Petra warf einen verstohlenen Blick zum Wohnmobil. »Etwa auch Autofahren?«

»Das nun nicht gerade. Sondern der Fahrlehrer. Der gegen Ende ziemlich ungemütlich wurde. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich nicht nur ein hoffnungsloser Fall, sondern auch technisch ziemlich unbegabt. Und du? Wer ist deine große Liebe? Vielleicht Malte?«

Als Petra einfiel, was sie über ihre Oberstufenzeit erzählt hatte, wurde sie wieder müde. Ihre Augendeckel klappten runter.

»Nein, nein, nicht doch, Petra! Ich hab ein prima Gästebett im Wohnmobil. Komm, da darfst du dich reinlegen.«

Als das nichts half, packte er noch eins drauf:

»Vielleicht hab ich sogar irgendwo noch einen Haken übrig. Wir gehen ihn suchen.«

Na also! Sie schlug die Augen wieder auf. Erhob sich langsam und ließ sich von ihrem neuen Bekannten die paar Schritte bis zur Wagentür führen. Schaffte die erste, dann auch noch die zweite Stufe. Dann war sie drin. Bevor sie in ihren Kleidern einschlief, lauteten ihre letzten Worte:

»Ich bin jetzt zu müde, um mich aufzuhängen. Das kommt morgen dran.«