4. KAPITEL
Samstag, 27. August 2011

Noch elf Tage

Das Tischtuch vom Abend zuvor war gegen ein neues ausgetauscht worden. Auf dem Frühstückstisch standen frisch gebackene Brötchen mit gereiftem Käse, Cocktailwürstchen, Rührei mit Knoblauch und mit Kräutern überbackene Cherrytomaten, Joghurt, Knusperflocken und Himbeeren.

Johan schenkte gerade den frisch gepressten Orangensaft ein, als Petra in der Tür erschien. Ihre Haare waren strubbelig, die Kleider zerknittert.

»Wo bin ich? Und wo ist mein Wohnw…«

Ihr Blick fiel auf Johan. »Ah ja, genau.«

»Guten Morgen! Bitte setz dich. Filterkaffee oder Cappuccino?«

Die Prophetin schaffte es bis zum Campingstuhl vom Vorabend. Sie ließ sich schwer auf den Sitz plumpsen. Betrachtete den Frühstückstisch.

»Du bist mit dem Leben zufrieden. Putzt gern. Warst Postbote. Fährst in einem Wohnmobil durch die Gegend, ohne Autofahren zu können. Und kochst wie … ach, ich weiß auch nicht. Rieche ich Knoblauch?«

»Rührei. Filterkaffee oder Cappuccino?«

»Cappuccino bitte.«

»Maränen-Kaviar hab ich auch da. Weil der hier nicht ins Gesamtbild gepasst hat, hebe ich ihn für später auf. Aber wenn du willst … und wenn du mir versprichst, dass du dich heute nicht umbringst.«

Petra war immer noch nicht ganz wach.

»Hatte ich das heute vor? Ach ja, richtig.«

»Glückliche und unglückliche Umstände haben dich daran gehindert. Iss jetzt dein Frühstück, ich komme gleich mit dem Kaffee. Und dann hab ich Neuigkeiten!«

Die eben erst Erwachte war zu müde und matschig, um Widerstand zu leisten. Und sehr hungrig. Sie aß schweigend und gab nur ab und an ein zufriedenes, anerkennendes »Mm« von sich. Fünf Minuten waren vergangen, als sie den Mund wieder zu etwas anderem als Essen aufmachte.

»Neuigkeiten, hast du gesagt? Hast du einen neuen Wohnwagen für mich gefunden? Oder wenigstens einen Haken?«

»Besser! Ich hab Malte gefunden.«

Petra fiel die Gabel aus der Hand, die im Matsch landete.

»Lass liegen«, sagte Johan. »Ich hol dir eine neue.«

Er machte Anstalten aufzustehen.

»Sitz!«

Er setzte sich wieder wie ein gehorsamer Hund.

»Du hast Malte gefunden? Wie das? Wo ist er?«

Petra sah sich um.

»Nicht hier. Aber, na ja, ich war Postbote, hab ich das nicht gesagt? Nicht besonders lange, aber ich war in einem Kurs, wo wir sehr viel mehr lernen mussten, als ich mir gemerkt hab. Jedenfalls ist Malte kein gewöhnlicher Name. Zusammen mit Magnusson ist er sogar richtig ungewöhnlich. In ganz Schweden gibt es nur einen Malte Magnusson, der ungefähr in deinem Alter sein könnte, wenn ich mich da nicht verschätze. Er wohnt eine Viertelstunde von hier. Vielleicht zwanzig Minuten, wenn ich fahre. Bis zu einer halben Stunde, wenn ich mich verfahre.«

Petra bekam ein paar Sekunden lang einen träumerischen Gesichtsausdruck.

»Malte …«

Bis sie von der Wirklichkeit eingeholt wurde.

»Was habe ich ihm schon zu bieten?«

Aber Johan gab nicht auf.

»In elf Tagen absolut gar nichts. Bis dahin kannst du ihm deine Liebe gestehen. Oder dich aufhängen. Aber nicht in meinem Wohnmobil, und den Haken musst du dir selber besorgen.«

***

Vielleicht lag es an dem mit Knoblauch verfeinerten Rührei. Oder an dem frisch gepressten Saft. Oder dem Cappuccino. Oder an Petras ewiger Sehnsucht nach Liebe, gepaart mit der Gewissheit, dass es eine Frage von jetzt oder nie war. Jedenfalls fand sie sich auf dem Beifahrersitz neben Johan in seiner Kombi aus Wohnmobil und Spitzenrestaurant wieder, unterwegs zu der Adresse, an der ihre Jugendliebe Malte Magnusson wohnen sollte.

Die Prophetin bemühte sich so gut es ging, ihre zerknitterte Kleidung glatt zu streichen und sich die Haare zu richten, während Johans Versuch scheiterte, flüssig zu fahren. Oder auch nur geradeaus. Das Wohnmobil ruckelte, zuckte und schlingerte.

Er merkte, dass Petra sich beherrschen musste.

»Möchtest du lieber ans Steuer?«

»Ich hab keinen Führerschein.«

»Ach, du auch nicht?«

Was sollte denn die Frage?!

»Soll ich hier etwa mein Leben aufs Spiel setzen in einem wild gewordenen Wohnmobil mit einem führerscheinlosen Kerl am Lenkrad?«

Johan touchierte in einer Rechtskurve mit zwei Rädern die Bordsteinkante. Als er den Wagen wieder unter Kontrolle hatte, erinnerte er Petra daran, dass es ja nicht weiter schlimm sei, wenn sie durch einen Unfall ums Leben käme, angesichts dessen, was sie sich selbst tags zuvor hatte antun wollen.

»Außerdem hab ich zweihundert Fahrstunden hinter mir. Irgendwas wird doch wohl hängen geblieben sein.«

Zweihundert Fahrstunden und keinen Führerschein. Die Talentfreiheit stach ins Auge. Petra beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wenigstens konnte er kochen.

»Kann ich gar nicht«, sagte Johan. »Aber es macht mir Spaß.«

Spaß , dachte Petra. Ein Wort, für das in ihrem Leben noch nie Platz gewesen war.

»Was macht dir sonst noch Spaß?«

Vielleicht konnte sie etwas von ihm lernen.

»Putzen«, sagte Johan. »Na ja, so mittel viel Spaß. Darin bin ich nicht am allerschlechtesten. Obwohl, eigentlich weiß ich nicht, wie viel besser Fredrik auch das kann. Es ist ja nie dazu gekommen, dass er geputzt hat.«

Petra lächelte wieder. Es musste das dritte Mal sein, seit der Haken sich am Vortag aus der Wohnwagendecke gelöst hatte.

»Worin bist du denn dann am schlechtesten?«

Schwer zu sagen. Die Auswahl war so groß. Denken, so ganz allgemein? Oder etwas finden . Deshalb war seine Karriere als Postbote so kurz gewesen. Er hatte nach dem ersten Tag wieder gehen müssen. Der Chef hatte von heute auf morgen behauptet, es gebe nicht genug Arbeit.

»Hast du die Briefkästen nicht gefunden?«

Gar nicht so schlecht geraten, aber knapp vorbei war auch daneben. Na ja, er hatte sich ein paarmal mit dem Rad verfahren. Und war an der einen oder anderen schönen Straßenecke ein bisschen zu lange stehen geblieben. Aber die Adressen standen ja auf den Umschlägen, und er hatte eine Straßenkarte dabei. Das eigentliche Problem entstand erst, als er ins Postamt zurück sollte. Die Adresse hatte er nämlich nicht.

»Du hast nicht zurückgefunden?«

»Doch, als es wieder hell war.«

Weiter kamen sie mit dem Gespräch nicht. Er merkte, dass seine Konzentration nachließ, wenn er gleichzeitig fuhr und redete. Und sie musste sich auf das Bevorstehende vorbereiten. Es war Samstagvormittag; wenn Malte wirklich da wohnte, wo er wohnen sollte, standen die Chancen gut, dass er zu Hause war. Petra und er hatten das letzte Mal vor fünfzehn Jahren miteinander gesprochen, als er ihr das Mathebuch gereicht und »Bitte« zu ihr gesagt hatte. Petra war sich nicht sicher, ob das als Wortwechsel durchgehen konnte. Hatte sie überhaupt geantwortet? Sie musste doch wohl »Danke« gesagt haben?

Schweigend übte sie ein paar Eröffnungssätze. Nichts davon hörte sich gut an. Die ganze Idee kam ihr immer bescheuerter vor. Bis sie schließlich beschloss, dass sie komplett bescheuert war.

»Kehr um!«, sagte sie. »Ich kann das nicht.«

»Wir sind da«, sagte Johan und hielt mit leichtem Druck aufs richtige Pedal an.

Malte wohnte in einem Einfamilienhaus. Es war nicht groß und lag ziemlich weit außerhalb in einem Vorort, trotzdem war es ein Haus mit kleinem Garten drum herum. Einem Honda Civic in der Auffahrt. Kein großes Auto, aber neu.

Offenbar war ihre heimliche Jugendliebe ein sportlicher Typ. So wie schon in der Oberschule: schüchtern, intelligent und sportlich.

Vielleicht spielte er nicht nur Baseball, sondern auch Golf, denn ein Stück Rasen war so akkurat gemäht, dass es als Putting Green dienen konnte. Daneben eine umgekippte Golftasche. Auf dem Rasen ein paar Golfschläger und ein Putter. Zwischen der Hauswand und einer fast ausgewachsenen Birke hatte Malte ein Netz gespannt. Petra dachte, dass er seine Bälle dort hineinschlug, damit die Fensterscheiben der Nachbarn verschont blieben. Auf einer Bank an der Hauswand lagen ein Baseballschläger, drei Bälle und ein Handschuh.

Johan war so unternehmungslustig wie selten oder nie. Während sich Petra mit der Umgebung vertraut machte, zockelte er zum Nachbarn gegenüber und lieh sich einen Blumenstrauß aus dem Beet. Den überreichte er ihr und schob sie sachte zur bedrohlichen Haustür mit der Klingel.

Zögerlich und unsicher tastete sie sich vor. Drehte sich zu Johan um, als sie ein Geräusch hörte.

»Was machst du?«

Er hatte die Golftasche aufgehoben und sammelte die Schläger vom Boden auf.

»Ich räum auf. Kann’s halt nicht lassen.«

»Lass es!«

Johan gehorchte. Einen Golfschläger hielt er noch in der Hand. Mit etwas, das einer Siegerpose nahekam, hob er ihn gen Himmel.

»Es lebe die Liebe!«, feuerte er sie an.

Aber Petra war nur nervös.

»Bestimmt hat er Familie.«

»Na und, in Schweden lässt sich jedes zweite Paar scheiden. Jetzt geh!«

»Wirklich?«

»Weiß nicht. Los jetzt! Du kannst an den letzten elf Tagen deines Lebens nicht bloß in Maltes Garten rumstehen.«

Petra nickte nervös. Der Koch, Putzteufel und Idiot hatte recht.

Drinnen war die Türglocke zu hören. Und eine Stimme.

»Gehst du? Ich lackier mir gerade die Nägel.«

Eine Frauenstimme ! Aber jetzt war es zu spät. Die Tür ging auf.

Malte. Ganz genauso gut aussehend wie damals. Mit denselben freundlichen blauen Augen. Nur mittlerweile ohne Lächeln. Er schaute verdutzt drein.

»Ja?«, sagte er.

»Hallo, Malte. Erkennst du mich wieder?«

Mit den Worten hatte sie womöglich mehr zu ihm gesagt als in ihrer gesamten Schulzeit.

»Äh, Sie müssen schon entschuldigen, aber … nein? Oder … Moment mal.«

Einen gewissen Eindruck hatte sie offenbar doch hinterlassen.

»Ich bin Petra. Petra Rocklund aus der Oberstufe.«

Da erschien das Lächeln! Und Malte legte ihr wieder die Hand auf die Schulter! Zum zweiten Mal in fünfzehn Jahren.

»Petra«, sagte er mit warmer Stimme. »Du warst meine erste, heimliche …«

Weiter kam er nicht, denn die Frauenstimme aus dem Hausinneren mischte sich ein.

»Wer ist das, Malte? Los, antworte!«

Die Frau schob die Tür auf und stellte sich neben ihren Freund. Sie sah die Besucherin und den Strauß in Petras Hand an.

»Um was geht’s? Stellst du meinem Freund nach?«

Petra blieb die Luft weg. Und die Spucke. Die Frau war Victoria ! Die, die sie gemobbt hatte. Die Vulgäre. Eklige. Maltes Freundin !

Malte wirkte bekümmert, wollte die Wogen glätten.

»Schau mal, Vicka, das hier ist Petra Backlund aus unserer Oberstufenklasse.«

»Rocklund«, sagte Petra.

Und dachte: Er hätte sich ja wohl wenigstens ihren Nachnamen merken können, wenn sie wirklich seine erste, heimliche … was auch immer war.

Victoria erstrahlte in dem gleichen widerlichen Grinsen wie früher.

»Hirni? Ach so, auf Malte hattest du’s abgesehen! Ich glaub, ich mach mir vor Lachen ins Hemd!«

Dann riss sie Petra die Blumen aus der Hand, schmiss sie auf den Boden und trampelte darauf herum, als würde sie eine Zigarettenkippe austreten.

»Aber Vicka …«

Malte fühlte sich unwohl. Petra kam gar nicht dazu, sich irgendwie zu fühlen, da fing Victoria schon an, sie zu schubsen. Sie ging ohne Schuhe vor die Tür, das war es ihr wert. Jetzt würde sie Hirni ein für alle Mal zeigen, wo der Hammer hing.

Malte blieb auf der Schwelle stehen. Ließ die Gefühle von früher wieder an sich heran, während er zu beschwichtigen versuchte.

»Nicht doch, Vicka. Das war doch gar nichts. Sie meint es ja nicht böse …«

Aber Victoria war nicht zu bremsen. Noch ein Stoß. Und noch einer. Bis Petra schließlich umfiel und wegzukrabbeln versuchte.

Plötzlich fiel Victorias Blick auf Johan, nur halb hinter ihrem neuen kostbaren Besitz verborgen, dem silbergrauen Honda.

»Und wer sind Sie? Was machen Sie hinter meinem Auto? Wagen Sie es ja nicht, ihn anzufassen!«

Johan packte die Panik. In was hatte er Petra da nur reingezogen?

»Du … du hast sie geschubst!«, stieß er stammelnd hervor.

Erneut Hohngelächter von Victoria, klang auch nicht netter als wie gerade eben.

»Ich hab noch mehr auf Lager, kann ich dir sagen.«

Und damit trat sie auf die wehrlos am Boden liegende Petra ein. Erst mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß. Nicht übertrieben fest, nur zum Zeichen, wer hier Herrin der Lage war.

Johan ging von Panik zu Kurzschluss über. Oder zu beidem gleichzeitig.

»Hör auf!«, brüllte er.

Und unterstrich seine Worte, indem er mit Maltes 7er Eisen auf die Motorhaube von Victorias silbergrauem Honda einhämmerte.

»Nein!«, rief Malte, verharrte aber auf der Schwelle.

Petra blieb auf dem Boden liegen, während Victoria zu ihrem Auto rannte, um den Fremden mit dem Golfschläger zu stoppen. Eigentlich hätte die Prophetin am tiefsten Punkt der Erniedrigung angelangt sein müssen. Doch stattdessen regte sich etwas in ihr. Maltes erste, heimliche was?, dachte sie.

Mit flinker Fußarbeit gelang es Johan, ständig das Auto zwischen sich und die wutschnaubende Victoria zu bringen, obwohl er furchtbar aufgebracht war, immer und immer wieder drosch er mit dem Golfschläger auf das Auto ein. Nach der Motorhaube kam das Dach dran. Die rechte Hintertür. Das Rückfenster. Die linke Hintertür. Wieder die rechte (nachdem Victoria die Richtung gewechselt hatte).

»Ich bring dich um!«, schrie sie.

Unterdessen richtete Petra sich auf alle viere auf. Sie wischte sich Gras und Erdklumpen von Pulli und Hose und sah auf. Johan war nicht in unmittelbarer Gefahr, denn egal, aus welcher Richtung Victoria ihn zu erwischen versuchte, er entschlüpfte ihr und hinterließ immer mehr Dellen auf dem Honda zwischen sich und Petras früherem Quälgeist.

Petra ließ die beiden aus den Augen und wandte sich Malte zu.

»Erste, heimliche was?«, sagte sie mit fester Stimme.

»Hä?«

Er hatte Schwierigkeiten, sich gleichzeitig auf Petra und seine tobsüchtige Freundin zu konzentrieren.

»Du hast gesagt, dass ich deine erste, heimliche irgendwas war.«

»Ach ja?«

Er hätte versuchen müssen, den Weltkrieg in der Auffahrt zu beenden. Aber irgendwas hielt ihn davon ab. Nicht nur, weil man mit Vicka noch nie vernünftig hatte reden können, sondern vielleicht auch, weil es jedes Mal so ein seltsam gutes Gefühl war, wenn Petras Kumpel einen neuen, noch unversehrten Teil des Autos traf. Das er sich nicht mal leihen durfte.

Petra war die Ruhe selbst in dem sie umgebenden Chaos.

»Macht ihr es euch abends gemütlich, du und Vicka?«, sagte sie, während Maltes Freundin mit gerötetem Gesicht über die Motorhaube auf das Dach ihres ramponierten Wagens zu klettern versuchte, damit sie auf diesem Wege an den Übeltäter herankam.

»Gemütlich?«, sagte Malte.

Petra dachte, dass er sich nicht besser zu behaupten wusste als vor fünfzehn Jahren. Wie anders doch alles hätte laufen können, bis auf den Weltuntergang, wenn Malte es geschafft hätte, damals vor langer Zeit, als es noch von Bedeutung gewesen wäre, den »Erste, heimliche«-Satz zu Ende zu bringen.

Aus Petras Ruhe wurde Entschlossenheit. Sie musste den Quälgeist am Auto stoppen, ehe der Johan in die Fänge bekam. Die Prophetin setzte sich in Bewegung und kam zufällig an der Bank mit dem Baseballschläger vorbei. Sie schnappte sich ihn und machte Victoria nachdrücklich auf sich aufmerksam, indem sie der ehemaligen Klassenkameradin, die alles, nur keine Kameradin gewesen war, damit schwungvoll auf den Hintern drosch.

»Au!«, rief Victoria, hauptsächlich verblüfft.

Sie rutschte von der Motorhaube, sah sich um – und fand sich mit einem halben Meter Abstand Petra gegenüber. Sah Hirni ihr etwa das erste Mal direkt in die Augen? Was sollte das denn?

Petra ließ das knubbelige Ende des Baseballschlägers friedlich auf ihrer Schulter ruhen, während sie das schmalere Ende mit beiden Händen gepackt hielt.

Das Friedliche entging Victoria. Sie ließ die Oberstufenjahre im Kopf Revue passieren. Drei Jahre, in drei Sekunden vorgespult. Sie waren vielleicht nicht immer so mega … wie sollte man sagen … super zu … wie hieß sie doch gleich wieder? … Petra gewesen. Wollte sie jetzt etwa mit ihr abrechnen?

Das frühere Mobbingopfer lächelte der ehemaligen Mobberin freundlich zu.

»Weißt du, was ich vorhab, Vicka?«, sagte sie.

Die Stimmung war so geladen, dass die autodidaktische Astrophysikerin überlegte, welche Dichte die Luft wohl haben mochte. Selbst Johan hielt inne. Der rechte Rückspiegel war noch unversehrt und in Reichweite. Aber er bremste sich. Wartete ab.

»Nein«, sagte Victoria unsicher. »Was hast du vor? Mich mit dem Baseballschläger umnieten?«

Eigentlich keine schlechte Idee. Gerade eben hatte es sich erstaunlich gut angefühlt.

»Nein, Prügeln ist ja mehr deins. Zu so etwas kommt es leicht, wenn einem die Worte fehlen. Deine sind dir ziemlich früh ausgegangen, soweit ich mich erinnern kann.«

Meine auch, dachte Johan und schämte sich plötzlich, dass er auf Victorias Auto losgegangen war. Er würde den rechten Seitenspiegel verschonen.

Maltes unvollendeter Satz hatte Petra auf direktem Wege zu dieser neu gewonnenen inneren Stärke verholfen.

»Dein Freund hat mir gerade verraten, dass ich seine erste, heimliche irgendwas war, als wir in eine Klasse gegangen sind. Ich kann mir schon denken, was.«

Die eben noch so wütende Victoria ließ den Baseballschläger nicht aus den Augen.

»Und jetzt hast du was vor?«

»Ich hab vor, die nächsten elf Tage so oft wie möglich an dich als die Lückenbüßerin zu denken. Oder die Notlösung . Hab mich noch nicht entschieden. Was meinst du, Malte?«

Malte dachte, wie er da so in Socken auf der Schwelle zu Victorias und seinem Haus stand: »Warum ausgerechnet elf Tage?« Aber jetzt war wohl eine tiefsinnigere Antwort gefragt.

»Liebe«, sagte er. »Also als Antwort auf deine zweite Frage. Aber dann haben wir beide die Schule beendet und uns aus den Augen verloren, ehe ich irgendwie dazu gekommen bin …«

Victoria war immer noch in Sorge, was der Baseballschläger wohl mit ihr vorhatte. Aber auch verdattert, was ihr Weichei von Freund da von sich gab.

»Vicka und ich gingen in dem Sommer ins selbe Jugendzentrum … und … nein, Notlösung , das geht mir nun doch ein bisschen zu weit. Ach na ja, ich weiß auch nicht. Wir hatten viel Spaß beim Flippern. Sie schien sich für mich zu interessieren, und wer tat das sonst schon? Jedenfalls so richtig.«

»Ich, du Idiot.«

Das waren harte Worte, aber nicht die Art, wie Petra sie aussprach. Malte hatte sie gewollt, sich bloß nicht getraut. Deshalb war er stattdessen an Victoria geraten, beim Flippern. Weit unter seiner Würde, was Malte jedoch nicht bewusst war.

Die Weltuntergangsprophetin ruhte immer noch in sich. Erstaunlich, was eine Bestätigung im Verein mit einem schwungvollen Gesäßhieb bewirken kann. Das Gefühl setzte sich fort bis zu Johan auf der anderen Seite des Autos. Zufrieden nickte er Malte auf der Schwelle zu, ein Gruß von einem Idioten zum anderen.

Victoria versuchte zu denken. Hirni vor ihr war offenbar kein Hirni mehr, sondern … die heimliche Liebe ihres Freundes. Weichei Malte, der immer machte, was sie ihm sagte, und der überhaupt gut zu haben war. Und der trotzdem soeben zugestimmt hatte, dass Victoria seine Notlösung gewesen sei! Und dann das mit dem Baseballschläger. Den Petra nicht einsetzen würde, oder?

»Ich gehe lieber rein und lackiere mir die Nägel zu Ende«, sagte sie.

Dabei konnte sie am besten nachdenken.

»Mach das«, sagte Petra in einem Tonfall, als habe sie Victoria gerade die Erlaubnis zum Wegtreten erteilt. »Aber hättest du wohl die Güte, dich vorher bei mir dafür zu bedanken, dass ich drei Jahre am Stück die Hausaufgaben für dich gemacht hab?«

Petra war richtig von sich selbst beeindruckt. Nach einem Seitenblick auf Malte ahnte sie, dass es ihm ähnlich ging.

»Vielen … Dank«, sagte Victoria.

Petras ehemaliger Quälgeist verzog sich mit niedergeschlagenen Augen und raschen Trippelschritten ins Haus. Der Freund blieb auf der Schwelle stehen, ließ sie aber durch. Petra hatte die Lage unter Kontrolle.

»Malte, ich bedaure deine Partnerwahl. Wir beide müssen im nächsten Leben und auf einem anderen Planeten heiraten. Johan, mir scheint, wir sind hier fertig. Wie ich sehe, hast du die linke Vordertür verschont, das war edel von dir. Komm, wir gehen.«

»Und den einen Rückspiegel«, sagte Johan.

Während er und Petra zum Wohnmobil schlenderten, überwand sich Malte, ein paar Schritte in den Garten hinauszutreten und ihnen hinterherzurufen: »War schön, Petra, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Lass von dir hören, falls du magst, nein, wenn du magst. Wenn du magst!«

Es klang aufrichtig. Aber in aller Eile eine Liebesbeziehung mit einem Mann aufzubauen, dessen Freundin sich gerade im gemeinsamen Haus die Nägel lackierte? Innerhalb von elf Tagen müsste er die Trennung durchziehen, sie müssten ins Kino und essen gehen, irgendwo Hand in Hand am Wasser entlangspazieren. Gefolgt von einem vermutlich tapsigen Malteküsschen. Und ihrer tapsigen Erwiderung. Das und möglichst noch etwas mehr in anderthalb Wochen.

Nein, es reichte völlig, dass Malte nun wusste, was sie damals empfunden hatte. Und vor allem, dass er ihr seine Gefühle für sie offenbart hatte.

»Danke, aber es liegen gewisse atmosphärische Störungen vor. So lange leihe ich mir deinen Baseballschläger.«

Petra war immer noch zufrieden.

Aber Moment mal – war sie wirklich zufrieden ?

Ja.

Zum ersten Mal in ihrem Leben.