Noch neun Tage
Am tiefsten schlief in dieser Nacht Johan auf seinem Sessel, mithilfe des beträchtlichen Quantums an exquisitem Grappa, der ihm nicht ohne Grund abends zuvor Gesellschaft geleistet hatte. Am zweittiefsten schlief Petra auf dem Sofa, hauptsächlich weil es ein langer, ereignisreicher Tag gewesen war.
Während Agnes in ihrem Bett im Obergeschoss kein Auge zutat.
Seit ihrer Jugend war sie das erste Mal wieder aufgelebt, als ihr Gatte, der Fabrikant, auf einen Nagel getreten war, gefolgt von Blutvergiftung und Begrabenwerden durch Blumen-Björklund. Das zweite Mal, als sie aufgebrochen war und Dödersjö für immer den Rücken gekehrt hatte. Was danach kam, das Leben in Stockholm, die Internetkurse und ihre Online-Aktivitäten, hatten ihr weniger ein Hochgefühl verschafft als ein gleichbleibend gutes Gefühl, dass das Leben trotz allem einen gewissen Sinn hatte. Dass es so vor sich hin tuckerte.
Bis Johan, Petra und das Wohnmobil auf Überraschungsbesuch gekommen waren. Eine Weltuntergangsprophetin und ein hereingelegter kleiner Bruder, die von der Polizei verfolgt wurden. Agnes erlebte den dritten und vielleicht letzten Höhenflug ihres fünfundsiebzigjährigen Lebens. Und jetzt wollten die beiden sie zurücklassen. Das war ein … ja, was war das für ein Gefühl? Eins von Leere?
Die Lilahaarige servierte Spiegeleier und Toastbrot zum Frühstück. Es wies zwar keine Johan-Qualität auf, aber was der Weltuntergangsprophetin Kummer machte, waren weder Eier noch Brot zum Kaffee.
Hatte sie wirklich am Vorabend entschieden, dass ihr nächster Aufenthalt Rom war? Über Johans Kopf hinweg, der nur dagesessen und ins Nichts hinausgestarrt hatte.
Wie viele Hindernisse würden sich ihnen wohl in den Weg stellen? Das erste nur wenige Kilometer entfernt.
Gut, das weiße Wohnmobil war mittlerweile blau. Und das Nummernschild ausgewechselt. Aber Johan war ja immer noch Johan und Petra Petra. Sie brauchten jemand anderes am Steuer, wenn sie zur unvermeidlichen Polizeikontrolle kamen, während sie beide sich im hinteren Wagenteil versteckten.
Ihre zweite Sorge betraf eher Johan persönlich. Er hatte es bereits geschafft, quer über einen Bürgersteig zu fahren, nach links abzubiegen, als rechts gefragt war, Gas zu geben, als er bremsen sollte, und zu bremsen, als er Gas geben sollte. Und vor allem einen Wohnwagen einen Abhang runtergeschubst, dem sicheren Tod entgegen. Anders als jetzt war er da außerdem nüchtern gewesen. Selbst wenn sie es schafften, die Polizeikontrolle vor Drottningholm zu passieren – wie weit würden sie mit dem führerscheinlosen Johan am Steuer wohl kommen?
Verdammter Grappa! Einfach zu gut. Der hatte sie total irre in der Birne gemacht.
Aber der konnte auch die Rettung sein! Johan hatte schließlich mindestens doppelt so viel davon gekippt wie sie. Mit etwas Glück erinnerte er sich nicht mehr an Petras vollmundige Entscheidung vom Vorabend.
»Möchtest du Tee oder Kaffee, Johan?«, fragte ihre Frühstückswirtin Agnes.
»Wie weit ist es nach Rom?«, sagte Johan. »Wann fahren wir?«
Also kein Zurück. Aber alles der Reihe nach. Vielleicht konnte Agnes beim dringendsten Problem helfen? Petra fragte, ob sie ein Wohnmobil fahren könne.
»Nein«, sagte Agnes. »Hab ich noch nie probiert. Aber ich bin mein Leben lang Laster gefahren. Dann kann das wohl nicht so schwer sein.«
Die zweite Frage war, ob sie sich vorstellen könne, hinterm Steuer zu sitzen, wenn sie zu der unvermeidlichen Polizeikontrolle vor Drottningholm kämen. Zum einen, weil Petra und Johan sich bei der Gelegenheit nicht blicken lassen sollten. Zum anderen, weil man nie wissen konnte, wann Johan das nächste Mal die Pedale verwechselte. Wenn es ihm im falschen Moment passierte, waren alle ihre Bemühungen umsonst. Und Johans Bruder käme um seine wohlverdiente Strafpredigt herum. Petra sagte, sie habe vollstes Verständnis, wenn Agnes ihre Bitte als Zumutung empfände.
Bahnte sich hier der glücklichste Moment in Agnes’ Leben an? Nun ja, sie war noch nicht am Ziel.
»Ich kann euch durch die Drottningholm-Polizeikontrolle schleusen«, sagte sie. »Unter einer Bedingung.«
Wollte sie sie etwa um Geld angehen?
»Dass ich hinterm Steuer sitzen bleibe.«
»Wie meinst du das? Ganz bis Italien?«
»Ich war noch nie im Ausland. Lass nur alle fünf Jahre meinen Pass verlängern, das ist alles.«
Petra wagte kaum zu glauben, was sie da hörte. Mit einem Mal taten sich vor ihr Möglichkeiten auf, nicht nur Gefahren. Bestimmt würde eine, die Lkws fahren konnte, unendlich viel besser ein Wohnmobil durch Europa steuern als einer, der überhaupt nicht Auto fahren konnte.
Johan war bei seinem vierten Glas Saft angelangt und wurde allmählich munter. Wollte sich am Gespräch beteiligen, wo Agnes doch gerade zugegeben hatte, dass sie noch nie im Ausland gewesen war.
»Ich war in Sundsvall«, sagte er.
Agnes und Petra antworteten mit Schweigen. Das Johan richtig deutete.
***
Das Wohnmobil hatte die falsche Farbe und nicht das richtige Nummernschild. Am Steuer saß eine Person im falschen Alter, vom falschen Geschlecht und mit falscher Haarfarbe. Außerdem stimmte die Personenanzahl nicht, verglichen mit den Polizeiangaben. Und es passte ins Straßenbild. Es war ja Sommer, da fuhren lauter Wohnmobile herum.
Aus all dem ergab sich, dass Agnes keine Gefahr lief, vor Drottningholm zur verschärften Kontrolle an den Straßenrand gewunken zu werden. Das Trio ging der Polizei durch die Lappen. Blieben nur noch die zweitausendfünfhundert Kilometer bis zur schwedischen Botschaft in Rom, um Johans Ehre gegenüber seinem Bruder wiederherzustellen. Oder besser: ihm die Ehre zukommen zu lassen, die er nie gehabt hatte.
Petra genoss es, dass eine richtige Fahrerin am Steuer saß. Endlich Schluss mit dem Gefühl, dass ihr bis zur letzten Minute in gut einer Woche ein verfrühter Tod im Straßenverkehr drohen könnte.
Als Johan wieder nüchtern war, wusste auch er die Absprache in vollem Ausmaß zu schätzen. Während Agnes und Petra vorn saßen, werkelte er hinten in der Küche herum. Er wusste nicht, dass er von Rechts wegen während der Fahrt angeschnallt am Platz sitzen musste. Petra sah sich nicht veranlasst, ihn aufzuklären, schon gar nicht, als die Düfte seiner neuesten Küchenkreationen bis zu den Vordersitzen zogen. Agnes sah es auch nicht so eng. Sie war lange vor der Zeit der Sicherheitsgurte aufgewachsen.
***
Der Abstand zwischen dem Wohnmobil und der schwedischen Hauptstadt vergrößerte sich. Nach etwa zwei Stunden Fahrt Richtung Süden hatte Petra den Eindruck, dass der Stockholmer Arm des Gesetzes sie nicht mehr erreichte. Was ihr genügend Ruhe zum Nachdenken verschaffte.
Vor drei Tagen hatte sie versucht, sich aufzuhängen. Vor zwei Tagen ihrem bis dahin sinnlosen Leben einen neuen Sinn gegeben. Der tags darauf in Bausch und Bogen neu definiert worden war. Daher war Petra jetzt Richtung Ausland unterwegs, wo sie mit keinem einzigen Menschen Ungeklärtes oder Unausgesprochenes aufzuarbeiten hatte.
Das bedeutete ja, dass Carlshamre und die Schnösel in der Wissenschaftsakademie ungeschoren davonkamen. Mit denen sie wahrscheinlich noch so einiges auszudiskutieren gehabt hätte. Oder auch nicht.
Agnes merkte, dass die Prophetin auf dem Beifahrersitz über irgendwas ins Grübeln geraten war.
»Was bedrückt dich?«, fragte sie.
Vielleicht sei es gar nichts. Es sei bloß alles so schnell gegangen. Jetzt würden sie all jene auslassen, die sie sich eigentlich habe vorknöpfen wollen.
»Kannst du dir nicht mich vorknöpfen?«, sagte Agnes. »Ersatzweise, mein ich.«
Die Prophetin schüttelte den Kopf. Dann ginge es nur wieder mit ihrem Zweifel an Petras Berechnungen los. Aber es lohnte sich nicht, sich über die allgemeine Ahnungslosigkeit unter Nicht-Astronomen aufzuregen, da käme man aus der Aufregung ja gar nicht mehr raus.
Besser, sie machte sich vollkommen davon frei. Eigentlich war es doch ganz einfach. Johan hatte Petra bei Malte geholfen, und das hatte ihr Leben verändert. Jetzt war sie an der Reihe, Johan bei Fredrik zu helfen. Im Grappa von gestern Abend hatte die Wahrheit gelegen.
Jetzt ging es nur darum, den großen Bruder rechtzeitig zu fassen zu kriegen. Die Reise war schließlich lang, und ihnen blieben immer weniger Tage. Unterwegs durften sie nicht unnötig trödeln.
***
Johan hatte es schon auch ein bisschen sich selbst zuzuschreiben. Nach dem eher unterdurchschnittlichen Frühstück bei Agnes auf Ekerö (für das er nichts konnte!) hatte er ein zweites Frühstück hingezaubert und der Fahrerin und der Prophetin während der Fahrt serviert. Damit war eine Unsitte eingerissen, die ihm eigentlich gegen den Strich ging. Essen war mit Respekt und Liebe zu behandeln, das absolut Mindeste, was es dafür brauchte, waren ein Tisch und ein Tischtuch.
Das zweite Frühstück bestand aus etwas so Einfachem wie Dinkelmuffins mit Sonnenblumenkernen, Fetakäse und sonnengetrockneten Tomaten. Im Ofen gebacken und in der Originalbackform serviert. Petra fütterte Agnes mit Häppchen, ließ sich zwischendrin ihre eigene Portion schmecken – und freute sich, dass die Gruppe Zeit sparte, weil sie nicht anhielten.
Als es auf Höhe von Ödeshög am Europaweg 4 Zeit fürs Mittagessen war, schlug Petra eine Neuauflage der Muffin-Mahlzeit vor. Johan sagte, er hätte sich gleich denken können, dass sie die ganze Hand wolle, wenn man ihr den kleinen Finger reiche. Ihr Argument, der Weltuntergang nähere sich in solchem Tempo, dass jede Minute zähle, führte zu einem Kompromiss: Die Mittagsravioli mit cremigem Ricotta, Spinat und gerösteten Haselnüssen ließen sich in der Lunchbox nur mit Gabel auftragen, aber unter zwei Bedingungen. Erstens: Chauffeurin und Beifahrerin genossen dazu Johans handverlesenen und schon belüfteten Italiener mit Noten von Schwarzkirschen, Pflaumen, Vanille und Röstkaffee. Sowie zweitens: dass das Abendessen in klassischer Manier eingenommen wurde, mit stillstehendem Auto, aufgeklapptem Tisch und den fünf Gängen, die Johan schon so allmählich vorbereitete. Gefolgt von kollektivem Schlaf die ganze Nacht lang. Johan war sich sicher, dass sie rechtzeitig ankommen würden, egal, ob Rom nun in Italien oder in Spanien lag.
Petra ließ sich auf die Bedingungen des Kochs ein, unter dem einen Vorbehalt, dass Agnes beim Fahren vielleicht besser keinen Wein bechern sollte.
Doch die Lilahaarige nahm Johan in Schutz. Erstens ging es hier nicht ums Bechern. Ein Tröpfchen Alkohol hatte noch niemanden umgebracht. Mit ihren fünfundsiebzig Jahren hatte sie keine Zeit für sämtliche Feinheiten der schwedischen Gesetzgebung. Gerieten sie in eine Polizeikontrolle, war sowieso alles aus. Schon allein, weil das Nummernschild zu einem anderen Fahrzeug gehörte und Agnes zwar eine gewiefte Autofahrerin war, sich aber noch nie um die Notwendigkeit eines Führerscheins geschert hatte.
Drei Personen ohne Führerschein im Auto durch Europa. Petra gab nach, ein Gläschen Wein am Steuer machte nun auch nichts mehr aus. Aber ordnungshalber sah sie sich bemüßigt, darauf hinzuweisen, dass Alkohol im Lauf der Jahre durchaus den einen oder anderen umgebracht habe. Was nicht unbedingt immer von Nachteil gewesen sei.
***
Nördlich von Jönköping legte die Gruppe einen kurzen Zwischenhalt ein, um aufzutanken.
»Haben wir noch Zeit, uns rasch die Beine zu vertreten?«
»Nein. Nur noch neun Tage«, sagte Petra.
»Oder auch nicht«, sagte Agnes. »Ich geh rein zum Bezahlen.«
Weiter unterwegs Richtung Süden, brachte Petra das Gespräch auf Finanzfragen. Sie konnten sich doch wohl Diesel, Essen, Getränke und etwaige sonstige Reiseausgaben leisten? Selber konnte sie nicht direkt mit Tausendern wedeln. Sie hatte Bankkarte und Pass nur bei sich, weil beides zufällig gerade in ihrer Jeans-Gesäßtasche steckte, als sie mit dem Versuch, sich aufzuhängen, gescheitert war.
Johans Kassenbestand war annehmbar, mehr aber auch nicht.
»Mein ehemals geliebter Bruder hat mir fünfzigtausend zum Leben gegeben. Und natürlich das Wohnmobil. Davon ist jetzt vielleicht noch die Hälfte übrig, mit gut gefülltem Weinkühler und einer Hausbar, die sich nicht zu verstecken braucht. Ich muss anfangen, mir Alternativen zum Küchenbudget einfallen zu lassen.«
»Bloß nicht!«, brach es aus Petra heraus.
Welch furchtbarer Gedanke!
»Ich hab genug für uns alle«, sagte Agnes.
Beide Hände am Steuer und die Augen auf die Straße gerichtet, begann Agnes, von ihrer Finanzlage zu berichten. Sie hatte einen guten Preis für die Bootsfabrik bekommen, sehr viel weniger für die Holzschuhe und fast nichts für die Wohnung in Dödersjö. Alles zusammen hatte mit einem kleinen Puffer für Haus und Bootsschuppen auf Ekerö gereicht. Als sie sich ein wenig mit dem Internet als Hobby beschäftigt hatte, hatte sie das neue Phänomen Instagram entdeckt. Zum Spaß hatte sie sich einen Account eingerichtet, Travelling Eklund , ein Porträtfoto von sich als gerade mal Neunzehnjähriger eingescannt, in ihrem Bildbearbeitungsprogramm bearbeitet und Körperteile von überallher zusammengeklaut, bis sie sich selbst unversehrt und in strahlender Jugendfrische neu erschaffen hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe«, sagte Johan.
»Vergiss es«, sagte Petra ungeduldig. »Erzähl weiter, Agnes!«
Travelling Eklund begab sich auf ihre erste Reise, ohne dass Agnes dafür ihre Küche im roten Holzhaus auf Ekerö verließ. Ihr erstes Erlebnis lag auf der Hand: der Eiffelturm.
»London«, sagte Johan.
Nach Paris zog es die neunzehnjährige Agnes weiter nach Berlin. Dann Moskau, Mailand, Budapest … Als sie erst in Fahrt gekommen war, nahm sie sich den Rest der Welt vor. Hollywood, Hawaii, Tokio, Seoul, Hongkong. Von da weiter nach Neuseeland und Australien, nach China rauf und wieder runter nach Indonesien. In Afrika hielt sie sich an die Städte, die wilden Tiere waren ihr auch schon in Photoshop zu gefährlich. Von Nairobi nach Johannesburg und weiter nach Kairo. Mindestens ein Update pro Woche, manchmal mehrmals täglich. Aber nie so, dass die Fantasiereisen den Kontakt zur Realität verloren. Man kann nicht vormittags in Südafrika sein und später am Tag vor den ägyptischen Pyramiden posen.
Agnes war in ihrem schönen neuen Reiseleben angekommen. Sie flog stets Businessclass, kleidete sich modebewusst (manchmal geradezu aufreizend). Wenn sie sich eine Uhr ans linke Handgelenk bildredigierte, sah sie keinen Grund, sich etwas zu Billiges zu nehmen.
Eigentlich war sie mit allem zufrieden, wie es war. Es schmeichelte ihr, dass sie offenbar Tausende Follower auf der ganzen Welt hatte. Ihre kurzen Kommentare schrieb sie auf Englisch. Na ja, »Englisch«. Die Texte waren so holperig verfasst, wie man es von einer pensionierten Holzschuhfabrikantin aus Dödersjö, Schweden, erwarten würde.
»I can help you «, sagte Johan. »Am Herd bin ich nicht unbrauchbar, hab ich so allmählich kapiert. Oder wenn’s ums Putzen geht. Sonst bin ich zu nichts nütze, außer dass ich so viele Filme geguckt hab, dass ich doch glatt mehr Wörter auf Englisch als auf Schwedisch weiß.«
Petra stellte ein wachsendes Selbstwertgefühl bei Johan fest, nicht unähnlich ihrer eigenen kürzlichen Wandlung dank Malte und einem Baseballschläger.
»Danke, mein Lieber«, sagte Agnes. »Aber es geht auch so.«
Zu ihren Followern gehörte ein Amerikaner, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte. Er hatte jedenfalls etwas Nettes über Travelling Eklund in etwas geschrieben, das »Blog« hieß, und auf dem Gebiet war er anscheinend Weltspitze (im Übrigen war er dafür bekannt, selten etwas Nettes zu schreiben). Das Nette und (überwiegend) Gemeine, das er schrieb, lockte acht Millionen Besucher an – täglich. Das hatte Agnes zu denken gegeben. Außer auf Instagram stieg Travelling Eklund auf Twitter sowie Facebook ein – und verlinkte alle zusammen mit einem eigenen Blog. Was der Amerikaner konnte, konnte sie ja wohl schon lange!
Instagram, Twitter, Facebook, Blog. Das waren keine Wörter, die in Vom Winde verweht vorkamen. Vielleicht war Johans Englisch doch nicht so fließend, wie er gedacht hatte? Blieb ihm ja noch Putzen. Und all die freundlichen Lobesworte der Prophetin, wie sein Essen schmeckte. Sie bissen sich mit Fredriks Bemerkungen, aber auf wen von beiden sollte man eher hören?
Er entschied sich für Petra.
Im Blog konnte Agnes so richtig vom Leder ziehen. Als Travelling Eklund wurden ihre Kommentare zu jedem Foto immer ausführlicher. Sie erzählte, wo sie das Kleid gekauft hatte, das sie trug. Und wie schwer sie sich mit ihrer Entscheidung für die dunkelblaue statt der pinken Luxusuhr getan hatte. Sie gab Tipps zu Ohrringen, Reisezielen, Speisen, Handtaschen und fast allem anderen. Alles immer in lückenhaftem, charmantem Englisch.
»Instagram hast du gesagt?«, fragte Petra.
Davon hatte sie schon gehört.
»Da hat es angefangen. Aber mit dem Blog ging es erst so richtig los.«
»Haben dich viele Leute gefunden?«
»Nicht ganz so viele wie den Amerikaner, dessen Namen ich vergessen hab. Aber mehr, als ich damals auf den Kirchenstufen in Dödersjö anzulocken versuchte.«
»Wie viele?«
»Vor der Kirche? Siebzehn, glaub ich.«
»Nein, auf der ganzen Welt.«
»Vier Millionen täglich.«
»Oha! Bezahlen die was dafür?«, erkundigte sich Johan.
»Nicht nötig«, sagte Agnes.
Denn plötzlich hatten sich die Marken bei ihr gemeldet. Nicht die allergrößten, aber die, die ins Rampenlicht wollten. Zuerst ein Gucci-Konkurrent.
»Die haben geschrieben, sie wollten mir gern eine Uhr schicken, wenn ich ihnen versprach, sie anzuziehen.«
»Und haben sie eine geschickt? Eine teure?«
»Was sollte ich damit? Ich hab sie gebeten, mir stattdessen fünfzigtausend zu schicken. Die Uhren hab ich mir gratis aus dem Netz gezogen.«
»Wie viel hast du bis jetzt eingenommen?«, wollte Petra wissen.
Agnes entschied sich lächelnd für eine indirekte Antwort.
»Johan, dein Budget für Essen und Trinken in den nächsten neun Tagen ist nach oben offen. Nach dem Weltuntergang treten wir in neue Verhandlungen ein.«
»Träum weiter«, sagte Petra angesäuert.
»Prima!«, sagte Johan. »Können wir dann an einem gut sortierten Lebensmittelgeschäft halten, und gerne auch an einem Getränkeladen? Ich hab da so eine Eingebung.«
Das Fünf-Gänge-Menü des Abends rief nach angemessener Begleitung.
***
Es wurde Nachmittag, dann früher Abend. Das Wohnmobil näherte sich dem Öresund mit seiner fünfzehn Kilometer langen Brücke und dem Tunnel, der Schweden seit der Jahrhundertwende mit Dänemark verband.
Die Fünfundsiebzigjährige war zum ersten Mal auf bestem Wege, ihre Heimat hinter sich zu lassen, etwas, worüber sich ihr Internet-Alias Travelling Eklund kaputtgelacht hätte.
Während der letzten Kilometer auf schwedischem Boden kam Johan mit Einzelheiten aus seiner Vergangenheit mit dem großen Bruder Fredrik und ihrer Mutter Kerstin an, bevor diese krank wurde und irgendwann von ihnen gegangen war. Jetzt sah er die Dinge mit anderen Augen. Zum Beispiel, dass es jedes Mal der Kleine gewesen war, der bei Wind und Wetter Mamas Medikamente aus der Apotheke holen musste, weil Fredrik angeblich beim Anblick von Menschen in weißen Kitteln Panikattacken bekam.
Worüber allerdings weder Johan noch Fredrik Bescheid wussten, war, wie ihre Eltern sich kennengelernt hatten, warum ihr Papa nie zu Hause gewesen war, und – das Geheimnis ihrer Mutter!