Die Ehe zwischen Bengt und Kerstin Löwenhult war nicht glücklich. Zumindest einer von ihnen hätte sich das vorher denken können. Zur Verteidigung der Eheleute lässt sich anführen, dass das Streben nach Glück kein Hauptaspekt ihres Bundes war. Sie war aus vornehmer Familie, während er ein dickes Bankkonto mit dem Geld seines Vaters hatte und außerdem am Beginn einer Laufbahn stand, aus der eine einzigartige diplomatische Karriere werden sollte. Kurzum, Bengt und Kerstin profitierten voneinander.
Wenn auch nicht unbedingt im Bett. Obwohl es ihnen gelang, die Ehe zu vollziehen, wurden sie im Schlafzimmer nicht warm miteinander. Überhaupt nicht! Kerstin hatte so einen gewissen Verdacht, bevor sie mit Fredrik schwanger wurde.
Und doch sollte sich der Verdacht erst später bestätigen, als sie von einer Shoppingreise mit ihren Freundinnen zurückkam. Weil die Gruppe einen früheren Zug als vorgesehen erwischt hatte, erwischte Kerstin ihren Mann im Ehebett mit seiner Schreibkraft.
»Es ist nicht, was du denkst, Liebling«, sagte Bengt.
»Es ist mir ein Vergnügen, Frau Löwenhult«, sagte der Sekretär Gunnar.
Bengt und Gunnar waren beide nackt und hatten ein erigiertes Glied. Es war also genau so, wie Kerstin es sich schon lange gedacht hatte.
»Hättet ihr wohl die Güte, euch anzuziehen, alle beide«, sagte sie. »Möglichst, bevor ich mich übergebe.«
Unter der Voraussetzung, dass eine Scheidung für beide nicht infrage kam, traten sie in Verhandlungen ein. Er hatte ja das Geld und seine Karriere. Sie an ihre adlige Herkunft und ihren Ruf zu denken.
Als sie sich geeinigt hatten, stand für Bengt noch das leidige Gespräch mit seinem Dienstherrn an. Da konnte er ebenso gut gleich reinen Tisch machen und sagen, dass er sich nie an das Zusammenleben mit einer Frau gewöhnen würde. Und auch nicht mit einem Mann, außer mit Gunnar! Seine Liebe zum Sekretär würde ewig halten!
»Homosexuell. Das habe ich schon lange geahnt«, sagte der Außenminister. »Gut, dass Sie es mir mitgeteilt haben.«
Für den pragmatischen Minister war die Sache einfach. Er wollte keinesfalls einen seiner begabtesten Diplomaten verlieren. Was er jetzt auch nicht musste, da Bengt sich ja geoutet hatte. Nun musste man die Sache nur noch auf sämtlichen diplomatischen Fluren ausstreuen, in denen Löwenhult verkehrte. Und schon würden fremde Mächte die Sinnlosigkeit jeglichen Versuchs erkennen, ihn abwerben zu wollen. Erpressung funktioniert ja nur, wenn man ein Geheimnis auffliegen lassen kann.
Bengt war einfach brillant und knüpfte Verbindungen wie kein zweiter. Noch bevor er zum Botschafter befördert wurde, hatte er einen ganzen Abend lang mit Richard Nixon Shakespeare rezitiert und mit Leonid Breschnew Wodka aus einem Damenschuh getrunken.
Von da an ging es mit seiner Karriere steil bergauf. Der junge Löwenhult reiste ständig mit neuen Aufträgen durch die ganze Welt. Immer in Begleitung seines Sekretärs, und nie mit seiner Ehefrau.
Trotzdem war es eine etwas peinliche Situation für das Außenministerium. Es stand der Regierung ja nicht zu, die Trennung von Ehepaaren zu begünstigen. Man verfiel auf die Lösung, Frau Löwenhult in regelmäßigen Abständen zu diversen diplomatischen Banketten in Stockholm einzuladen, während sich der Gatte mit seinem Sekretär irgendwo auf der anderen Seite der Erdkugel herumtrieb. Eine durch und durch diplomatische Lösung. Frau Löwenhult erhielt einen Platz an einem nicht zu prominenten Tisch, wo ihr internationaler Flair zu nationalen Speisen geboten wurde. Dafür machte sie nie Ansprüche geltend, ihrem Gatten nachzufolgen, nicht mal, als er nach Paris versetzt wurde. Bengt Löwenhult abzusägen, war keine Alternative. Als er ein paar Jahre nach der Episode mit Breschnew und dem Damenschuh dem ersten russischen Präsidenten, dem dauerfröhlichen Boris Jelzin, davon erzählte, kaufte dieser seiner Assistentin für hundert Rubel einen Schuh ab und forderte Bengt zur Wiederholung auf. Die zweite Damenschuhdiplomatie hatte ein vierhundert Millionen Dollar schweres bilaterales Abkommen zwischen Schweden und Russland zur Folge. Während die russische Assistentin in nur einem Schuh nach Hause in ihren Vorort humpelte.
In all seinen Jahren im Dienste des Königreichs Schweden bearbeitete Bengt Löwenhult nicht weniger als achtzehn Länder und hatte vier verschiedene Botschafterposten inne. Keine Aufgabe war ihm zu schwer, keine zu popelig. Was auch immer ihm zugeteilt wurde, er packte alles mit gleicher Verve an. Und stets war der geliebte Sekretär an seiner Seite.
Das diplomatische Genie hielt sich selten bis nie zu Hause bei seiner Familie auf. Als Fredrik in Stockholm auf die Welt kam, war Bengt in Ägypten damit befasst, acht Jahre nach dem Sechstagekrieg die Wiedereröffnung des Suezkanals zu überwachen. Zwar wäre der Kanal eventuell auch ohne ihn eröffnet worden, aber in der Diplomatie kam es unter anderem darauf an, zur rechten Zeit am Ort des Geschehens zu sein. Also des politischen. Eine private Entbindung konnte schlecht dagegen anstinken.
Als Kerstin zwei Jahre später mit Johan schwanger wurde, befand sich der werdende Vater Bengt mit seinem Sekretär schon länger in Buenos Aires, mit dem hoffnungslosen Auftrag, die Militärjunta irgendwie in Schach zu halten. Als der Diplomat nach elf Monaten aus seltenem Anlass zu einer Konferenz nach Schweden flog, war Sohn Nummer zwei schon geboren. Herr und Frau Löwenhult sahen beide großzügig über Details hinweg, wie etwa die Schwierigkeit, jemanden in Schweden zu schwängern, während man selbst in Argentinien weilte. Bengt erkannte die Vaterschaft an und ging wieder seiner Wege.
Dass es überhaupt so weit gekommen war, lag daran, dass Kerstin auch nur ein Mensch war. Nachdem ihr Bedürfnis nach Nähe fast zwei Jahre lang unerfüllt geblieben war, wurde sie auf einem Außenministeriumsbankett schließlich von einem jungen Diplomaten aus einem fernen Land aufgegabelt. Er war hellhäutig, hatte dunkle Augen und weiße Zähne. Auch wenn er nicht übermäßig charmant war, sprach er Englisch mit französischem Akzent, was Kerstin unter diesen Umständen reichte. Nach drei Stunden zogen sie gemeinsam auf einen Schlummertrunk in die Hotelbar ab. Anschließend mit dem Aufzug ins Zimmer des Diplomaten, um die schöne Aussicht zu bewundern. Dass das Fenster auf den Innenhof hinausging, fiel beiden nicht weiter auf.
Bengt fragte nie danach, wer der andere Vater war. Johan sah außerdem seinem Halbbruder ähnlich; das Abenteuer nach dem Ministeriumsbankett hatte keine auffälligen Spuren hinterlassen. Selbst als ihre Söhne groß genug waren, um zu verstehen, hielt Kerstin es für das Beste, die Kleinigkeit, wer wessen Vater war, unerwähnt zu lassen.
Und Bengt hatte die ganze Sache schon vergessen. Nach einer beispiellosen Karriere ging er in Frühpension und zog der Wärme, des Tangos und der Liebe wegen nach Uruguay. In Montevideo können zwei Männer an der Playa Carrasco Hand in Hand gehen, ohne dass ihnen Steine oder Schimpfwörter nachgeworfen werden.
Der junge Diplomat war der Einzige, der davon erfuhr. Kerstin fand seine Visitenkarte in ihrer Handtasche und schrieb ihm mit den Worten, dass das Ergebnis ihres Tête-à-Têtes im Hotelzimmer ein Junge namens Johan sei, der seinem Vater kein bisschen ähnlich sehe, und dass der Diplomat sich fürderhin aus allem heraushalten möge.
Was ihm auch ganz recht war, er hatte ja genug um die Ohren. Aber er las den Brief, nickte zufrieden ob des Belegs, dass er nicht nur mit Platzpatronen schoss – und verbrannte alle Beweise.
So kam es, dass die Kinder ohne Vater beziehungsweise Väter aufwuchsen. Mama Kerstin erzog sie mit Liebe und Verstand. Was Letzteres anging, stellte sie früh fest, dass der Große erheblich mehr davon besaß als derjenige, der aus ihrer Begegnung mit einem jungen Diplomaten mit dunklen Augen, weißen Zähnen und Englisch mit französischem Akzent hervorgegangen war. Während sich der Zwölfjährige so viele Dezimalstellen der Zahl Pi wie nur möglich einprägte, befasste sich sein zehnjähriger Halbbruder mit dem Versuch herauszubekommen, wie die Klobrille im Bad funktionierte. Der Rekord des Großen lag bei fünfundachtzig Dezimalstellen. Der Kleine kam irgendwann auf des Klo-Rätsels Lösung.
Doch in den Augen ihrer Mutter hatte Johan herausragende Qualitäten. Ihn zeichnete eine tollpatschige Liebenswürdigkeit aus, die sie ungemein schätzte. Wie konnte man nur ein so liebes Geschöpf und zugleich so ahnungslos sein! Fredrik brauchte Kerstin nicht in dem Maße. Er war ein zielorientierter Selbstläufer. Der Große war ein Papakind. So gesehen bedauerte sie es, dass Bengt nie für ihn da war.
Dann wurde sie krank. Und noch kränker. Johan hockte die ganze Zeit an ihrer Bettkante, wenn er nicht in der Schule oder in der Küche war. Er verstand einfach nicht, warum sie sterben musste. Fredrik sagte, sie habe ein Pankreaskarzinom. Davon wurde sein kleiner Bruder auch nicht schlauer.
Papa Bengt kam zur Beerdigung nach Hause. Er wuschelte Fredrik durchs Haar, das Leben könne einem manchmal hart und ungerecht vorkommen, und der Sohn solle sich unbedingt melden, wenn er in Zukunft Hilfe brauche. Das Ministerium wisse, wo er zu finden sei.
»Pass auf dich auf, Junge«, sagte er.
Johan erkundigte sich, ob er auch auf sich aufpassen solle.
»Ja, das kann nicht schaden«, antwortete Bengt.
***
Als Vater war Bengt Löwenhult ein Totalversager. Er brauchte die Bestätigung, die er aus seiner diplomatischen Brillanz bezog. Und er brauchte seinen Gunnar.
Eigentlich brauchte er auch seinen Sohn Fredrik, aber es lief ja von Anfang an alles schief. Und noch schiefer, als der kleine Bruder hinzukam. Der hieß wohl Johan, und in Bengts Augen war bei ihm jeder Einsatz zwecklos.
Was konnte er aus der Ferne denn schon groß für Fredrik tun? Bengt zog natürlich die richtigen Strippen und verhalf ihm zu einem Platz in der Diplomatenausbildung. Und war stolz und froh, als ihm zu Ohren kam, dass der Schüler, der mit väterlicher Hilfe unter der Hand reingerutscht war, genauso gut, wenn nicht besser abschnitt als die, die sich ihre Aufnahme verdient hatten.
Doch dann meldeten sich gewisse Bedenken. Mittlerweile musste den Sohn natürlich der Flurfunk über die väterliche sexuelle Orientierung erreicht haben. Wobei er sich keine Gedanken darüber hätte machen müssen, wenn nicht dieser Johan gewesen wäre, in intellektueller Hinsicht eine Mischung aus Bengts Ehefrau und weiß der Teufel wem. Was, wenn Fredrik einen Verdacht hegte?
Der Stardiplomat sagte sich, er habe nicht das Recht, einen Keil zwischen die Brüder zu treiben.
Daher entschied er sich, den Sohn seinem Schicksal zu überlassen. Die Alternative hätte ihn überfordert: den Diplomatenanwärter Fredrik und den untauglichen Johan in gleichem Maße zu unterstützen.
***
Gemeinsam hatten Bengt und Kerstin einen Jungen und später jungen Mann in die Welt gesetzt, der das Bedürfnis hatte, sich erst vor seiner Mutter, dann vor seinem Vater zu beweisen. Doch die Mutter starb, und der Vater hielt sich weiterhin fern. Alles, was sie ihm hinterließen, war ein Trottel von kleinem Bruder; ob sein Vater bei dem überhaupt mitgemischt hatte? Wie auch immer, Johan durfte sich ihm keinesfalls in den Weg stellen. Wie auch sonst nichts und niemand.
Über Leichen gehen? Aber sicher. Wenn nötig. Über Johan gehen? Herzlich gern!