Noch fünf Tage
Während der walisische Jurist die Zigarette ausdrückte, seinen Vormittagstermin mit George Clooney absagte und sich noch mal aufs Ohr legte, waren Agnes, Petra und Johan bereits meilenweit weg und in Richtung Rom unterwegs.
»Netter Kerl«, sagte Petra. »Und was er alles Spannendes zu erzählen hatte. Wer hätte gedacht, dass sich George Clooney ehrenamtlich gegen die weltweite Korruption engagieren will? Wirklich alle Achtung. Nicht, dass er an den fünf verbleibenden Tagen noch allzu viel ausrichten könnte, aber immerhin.«
Agnes merkte sich, dass die Länder, auf die sich die geplante Clooney Foundation for Justice fokussieren wollte, der Südsudan, Kongo, die Zentralafrikanische Republik – und die Kondoren waren.
»Steckt da nicht mein Geld?«, fragte sie.
»Solange deine Kreditkarte funktioniert, kann es stecken, wo es will«, befand Petra.
»Gordon hat von Osteuropa geredet«, sagte Johan. »Wo liegt das?«
»Direkt östlich von Westeuropa«, sagte Petra.
Johan verzichtete auf die nächste Frage, die sich von selbst verstand.
***
Bis zum Ziel ihrer Reise waren es noch über sechshundert Kilometer. Agnes hatte eigentlich vorgehabt, den Vorabend mit Googeln nach einem geeigneten Parkplatz für ein Wohnmobil in Rom ausklingen zu lassen. Aber als die Prophetin vor dem Einschlafen gesagt hatte, am nächsten Morgen müssten sie besonders früh los, weil ihnen nur noch fünf Tage blieben, hatte es ihr mit diesem Gerede endgültig gereicht. Konnte sie nicht mal in Ruhe und Frieden genießen, dass das Leben sie nach all den Jahren endlich anlachte? Schließlich hatten sämtliche Weltuntergangspropheten von jeher eines gemeinsam: dass sie sich durchweg geirrt hatten.
Die Lilahaarige war schon viel zu lange auf der Welt, um an jeden Quatsch um sie herum zu glauben. Als sie gerade mal Anfang zwanzig gewesen war, hatte sich ihr Mann über die Einführung des Rechtsverkehrs in Schweden beschwert. Seiner Meinung nach hätte man ausgerechnet bei Dödersjö eine Ausnahme machen müssen. Und zwar hauptsächlich deshalb – so seine Worte –, weil er und sein Saab einen Frontalzusammenstoß mit Bauer Fagerlunds Traktor riskierten, wenn sie sich auf der einzigen richtigen Straße der Gemeinde begegneten. Denn wer glaubte schon, dass der Bauer von heute auf morgen die Straßenseite wechseln würde? Besaß der überhaupt ein Radio und wusste, was los war?
In Wirklichkeit gab der Fabrikant zu viel auf das Gerücht, dass einschneidende Lebensveränderungen Stress verursachen und dadurch Krebs auslösen könnten. Er wollte nicht von Links- auf Rechtsverkehr umsteigen, weil er dann womöglich krank würde. Worauf er stattdessen auf einen Nagel trat und starb.
Solche Erinnerungen bewegten Agnes dazu, sich in Petras Hauptthema einzulesen. Sie merkte sich das Wichtigste und notierte sich den Rest zur Gedächtnisstütze auf einen Zettel.
Bis zur italienischen Hauptstadt dauerte es noch Stunden, da konnte sie es sich auch gleich von der Seele reden. Nachdem vorne im Wohnmobil eine Weile Schweigen geherrscht hatte, sagte sie wie aus heiterem Himmel: »Der Weltuntergang? Ganz ehrlich, Petra. Im Netz finde ich niemanden, der felsenfest davon überzeugt ist, dass die Welt am 7. September um 21.20 Uhr untergehen wird.«
Die Prophetin setzte sich auf, als hätte sie auf dieses Gespräch nur gewartet.
»Plus minus ein paar Minuten«, sagte sie. »Warum hättest du was finden sollen? Hast du gedacht, ich hätte es inseriert?«
»Nein, ich dachte, andere hätten vielleicht ebensolche Berechnungen angestellt, aber niemand scheint zum gleichen Ergebnis wie du gekommen zu sein.«
Petra fühlte sich in die Wissenschaftsakademie zurückversetzt. Die Leute waren ja so beschränkt. Na ja, wenigstens redete Agnes mit ihr, das musste man der Fahrerin lassen.
»Also pass auf«, sagte sie. »Die Atmosphäre ist nicht so leicht zu verstehen. Die unterste Schicht der Erdoberfläche ist die Troposphäre, dann kommt die Stratosphäre, danach die Mesosphäre und noch weiter oben die Thermosphäre.«
»Und?«
»Die Sphären liegen auf unterschiedlicher Höhe. Teils im Verhältnis zueinander, aber es variiert auch in jeder einzelnen Schicht, je nachdem, wo auf der Erde man sich befindet.«
»Ich befinde mich in der Gegend um Bologna, du auch. Wie sieht es hier aus?«
»Also, ich habe jetzt nicht speziell zu Bologna geforscht, aber Pi mal Daumen wird die Troposphäre über uns so an die zwölf Kilometer hoch sein. An den Polen verhält es sich etwas anders. Wenn ich sage, dass die ganze Welt gleichzeitig untergeht, ist das mit Vorsicht zu genießen. Aber abhängig vom Ort sollte es höchstens um eine Zehntelsekunde variieren. Wahrscheinlich eher um ein paar Hundertstel.«
»Können wir nicht dorthin fahren, wo die Erde am längsten am Leben bleibt?«, fragte Johan, der aus seiner Küche mitgehört hatte.
»Du meinst, du würdest dir ein Hundertstel mehr wünschen?«
»Am liebsten mehrere.«
»Weißt du, wie viel ein Hundertstel ist?«
Johan, der dachte, ein Hundertstel höre sich nach viel an, schloss dann doch aus Petras Tonfall, dass es wohl eher ziemlich wenig sein musste, und sagte, er sei mit Serviettenfalten beschäftigt.
Petra fuhr fort.
»Wie auch immer, jedenfalls ist nicht die Troposphäre das Problem.«
»Freut mich zu hören«, sagte Agnes.
»Sondern die Thermosphäre. In der die Ultraviolettstrahlung der Sonne eine Ionisierung verursacht. Das Wort Thermosphäre kommt vom Griechischen thermos , das warm oder heiß bedeutet.«
»Hast du nicht von Kälte geredet?«, sagte Johan. »Warm hört sich besser an.«
»Zweitausend Grad?«
Petra seufzte. Mit Agnes und Johan reden? Warum dann nicht gleich mit einem Glas Milch und einem Pappteller.
»Lassen wir mal die technischen Fragen«, sagte Agnes. »Was mich beschäftigt, ist Folgendes: Du bist nicht als Erste draufgekommen, dass eines Tages alles zu Ende geht. Die Menschheit hat ziemlich viele allerletzte Tage von allem Möglichen hinter sich, u nd trotzdem sitzen wir noch hier rum und atmen und reden.«
»Ich stehe«, sagte Johan.
»Du kannst dich setzen, wenn du willst.«
Petra wollte wissen, was Agnes genau meinte.
»Da kann man sich einfach irgendwas aus der Masse rauspicken.«
»Nur zu.«
Zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die am Lenkrad lag, hielt Agnes unauffällig ihren Spickzettel.
»Tja, laut einem spanischen Mönch sollte am 6. April des Jahres 793 finito sein. Was ja nicht so ganz korrekt war.«
»Vergleichst du meine Wissenschaft mit der Prophezeiung eines spanischen Mönchs aus dem achten Jahrhundert? Wetten, dass der auch noch Jesus in den ganzen Quatsch mit reingewurschtelt hat, wie?«
Das musste Agnes zugeben. An dem Tag hätte der Messias tatsächlich wiederkehren, auf dem Absatz kehrtmachen und die ganze Welt gleich mitnehmen sollen. Aber wie sei es denn mit Kolumbus? Der habe mit dem Jüngsten Tag irgendwann im Jahr 1656 gerechnet.
»Du meinst den, der Amerika nicht von Indien unterscheiden konnte?«
Agnes gab sich nicht geschlagen. Und sie hatte ein gutes Gedächtnis. Plus den Zettel.
»Jakob Bernoulli!«
»Wer?«
»Herausragender Wissenschaftler! Nichts Religiöses. Nichts mit ›mein Gefühl sagt mir‹. Reine Analyse!«
»Und was kam bei der Analyse raus?«
»Dass im April 1719 Ende Gelände ist. Da sollte die Erde von einem Kometen getroffen werden. Kawumm!«
»Kometen vorausberechnen ist knifflig. Knapp vorbei ist ja auch daneben. Wenn die Schwerkraft der Erde die Flugbahn von Objekten im Anflug manipuliert, müssen wir anders rechnen. Und ehe wir fertig gerechnet haben, ist der Komet schon vorbeigezischt. Kometenwarnungen haben ihre Berechtigung, aber nur ein Idiot betrachtet sie als in Stein gemeißelt.«
»Hat mich wer gerufen?«, sagte Johan.
»Nein. Was gibt’s zum Abendessen?«
»Das verrate ich nicht.«
Agnes hatte noch mehr auf ihrem Spickzettel.
»Jeane Dixon, 1962. Anerkannte Astronomin, wenn ich es recht verstehe.«
»Nein, eher eine anerkannt durchgeknallte Astrologin«, sagte Petra. »Sonst noch was? Her mit allem, was du hast.«
Agnes dachte an all die armen Zeugen Jehovas, die in den letzten hundert Jahren mindestens zwanzig Weltuntergänge hatten wegstecken müssen. Ob Jehova höchstpersönlich den Zeugen ins Ohr geflüstert hatte, wusste sie nicht, aber wie man sich bloß zwanzigmal hintereinander dermaßen irren konnte!
Weil sie wusste, dass Petra die Weltuntergänge aus religiösen Gründen nicht gelten lassen würde, erwähnte sie sie gar nicht erst. Aber Harold Camping konnte vielleicht durchgehen, der Fernsehprediger und berühmte Numerologe.
»Der lag bisher drei von vier Malen daneben. Das vierte Mal soll dieses Jahr im Oktober sein.«
»Da wird der am siebten September aber ganz schön enttäuscht sein, falls er es bis dahin schafft«, sagte Petra. »Du kommst mir jetzt aber nicht noch mit den Mayas und 2012, oder?«
Agnes hatte zwar daran gedacht, ließ es jetzt aber bleiben. Stattdessen erinnerte sie an den Russen Kusnetsow, der an die dreißig arme Schlucker dazu gebracht hatte, sich in einem Erdloch zu verstecken, um dem Weltuntergang im Mai 2008 zu entgehen. Sie hatten Essen für ein halbes Jahr dabei. Agnes war schleierhaft, wie es danach hätte weitergehen sollen.
»Was für Essen?«, fragte Johan.
Da war sie überfragt.
»Soll ich erläutern, was unter bestimmten Voraussetzungen zu einem von mir wissenschaftlich bestimmten Zeitpunkt mit der Elektrifizierung der Luftpartikel in der Thermosphäre geschieht und wozu das letzten Endes führen wird?«, sagte Petra.
»Nein, danke«, meinte Agnes. »Es wird schon alles werden.«