Noch fünf Tage
Die Fahrerin am Steuer dachte sich, dass man diese Kröte angesichts alles Positiven halt schlucken musste. Petra ließ das ganze Dasein auf eine Gleichung in vierundsechzig Schritten hinauslaufen, die kein vernünftiger Mensch nachvollziehen konnte. Und Johan … schwer zu fassen, dass jemand so unbegabt und begabt zugleich sein konnte.
Beide zusammen hatten Agnes aber doch ein funkensprühendes Leben beschert. Wie sagten die jungen Leute noch mal dazu? »Passt schon.«
In anderthalb Stunden Entfernung von der italienischen Hauptstadt wollte sich die Lilahaarige die Beine vertreten. Außerdem musste das Auto aufgetankt werden.
Auf Höhe von Orvieto fuhr sie an einer Tankstelle ab, tankte und parkte. Bekam Appetit auf einen Happen zu essen.
»Hast du ein belegtes Brot, Johan? Oder sonst irgendwas?«
»Wie wär’s mit fichtengeräucherter und im Ganzen gegrillter Knollensellerie mit Foie gras und Äpfeln? Eine värmländische Spezialität. Wo liegt Värmland?«
Von wegen begabt und unbegabt zugleich, dachte Agnes.
»Värmland liegt nicht weit von Dalsland, das nicht weit von Bohuslän liegt, das nicht weit von Göteborg liegt. Ein einfaches Butterbrot hätte es auch getan.«
Derweil stand Petra am Auto und führte mithilfe des Baseballschlägers ein paar Fitnessübungen aus. Vom vielen Sitzen wurde man so leicht steif.
Ein italienischer Porschefahrer hupte sie an, weil er fand, dass sie ihm im Weg stand. Danach beging er den Fauxpas, das Fenster zu öffnen und ihr Unverschämtheiten an den Kopf zu werfen. Auch wenn die Prophetin nicht verstand, was er sagte, war der Tonfall doch eindeutig.
Petra wurde von dem neu entdeckten Bedürfnis erfasst, die Dinge geradezurücken. Sie ging zu dem Autofahrer, entschuldigte sich vielmals, falls sie ihn an der Weiterfahrt gehindert habe, und fragte, ob er noch mehr loswerden wolle. Sprach er übrigens Englisch? Wenn nicht, könne er das ganze Gespräch vergessen.
Die Fremdsprachenkenntnisse des Porschefahrers waren zwar bescheiden, aber nicht inexistent. Er war Vertreter für Zahnprothesen, unter anderem in Großbritannien. Dadurch hatte er die englischen Ausdrücke für Vollprothese, Teilprothese und Implantatberatung gelernt. Um etliche andere Wörter stand es nicht ganz so gut. Und am allerschlechtesten um seine Laune. Er hatte sich nämlich gerade mit seiner Frau gestritten. Beziehungsweise sie mit ihm. Zum tausendsten Mal. Am liebsten hätte er ihr die Zähne ausgeschlagen, wenn er sich getraut und wenn er nicht gewusst hätte, was das kosten würde.
»Können Sie nicht woanders rumturnen?«, schnauzte er sie an. »Ich hab’s eilig.«
Petra legte lächelnd das dicke Ende des Baseballschlägers auf ihre Schulter.
»Verzeihen Sie meine Ahnungslosigkeit«, sagte sie. »Ich hätte mich natürlich auf die andere Seite des Wohnmobils stellen sollen. Aber wie kommen Sie eigentlich mit Ihren Aggressionen klar? Und wie würden Sie mit der ganzen Situation umgehen, wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch wenige Tage zu leben haben?«
Die Prophetin stand neben dem Porsche, während der verärgerte Fahrer ein gutes Stück tiefer am Steuer saß. Das brachte ihn in eine Lage, bei der ihm ganz und gar nicht wohl war. Und dann dachte er auch noch, die Frau mit der Keule auf der Schulter habe ihm soeben mit dem Tode gedroht. Was hatte sie gesagt, wie lange er noch zu leben hatte?
Außer in seinen ehelichen Beziehungen hatte sich der Zahnprothesenvertreter stets an die Devise gehalten: Angriff ist die beste Verteidigung. Und deshalb rief er »Cazzo!«, und riss seine Tür so schwungvoll auf, dass die Frau und ihr Baseballschläger zu Boden gingen. Im nächsten Moment stand er da und beugte sich über die ausgeschaltete Bedrohung. Sicherheitshalber beschlagnahmte er ihre Waffe.
Während er noch nach den richtigen englischen Wörtern suchte, um sie der offensichtlich lebensgefährlichen, wenn auch entwaffneten Frau am Boden zu sagen, wurde er von einer Bratpfanne am Kopf getroffen. Johan hatte sich gerade mit Volldampf an seiner fichtengeräucherten Sellerieknolle zu schaffen gemacht, als er durchs Wohnmobilfenster einen fremden Mann erspähte. Der Fremde stand über seine liegende Freundin und Begleiterin gebeugt, den Baseballschläger in der Hand. Wenig später lag der Italiener am Boden, während Petra sich aufrappelte.
»Danke«, sagte sie. »Gute Bratpfanne.«
»Gusseisen«, sagte Johan. »Ronneby Bruk. Qualität hat ihren Preis.«
Agnes kam raus und entdeckte die Bescherung. Ihr war, als sprühte das Leben genau hier und da besonders viele Funken. Mit falschem Nummernschild am Wagen und fehlendem Führerschein wollte sie nicht vorrangig wissen, was Chaot 1 und Chaot 2 angestellt hatten, sondern schnellstmöglich weg.
»Alle Mann an Bord, und zwar dalli!«, sagte sie. »Abfahrt in zehn Sekunden.«
Es gab Petra ein gutes Gefühl, als sie im Rückspiegel sah, wie der Italiener auf seinen Porsche gestützt aufstand. Natürlich würde er mit dem Rest der Menschheit in ein paar Tagen draufgehen, aber Johan und ihr kam es ja nicht zu, das Verfahren zu beschleunigen.
Travelling Eklund war schon dreimal in der italienischen Hauptstadt gewesen, aber für Agnes stellte es eine Premiere dar. Nervös hielt sie im Rückspiegel Ausschau nach der italienischen Polizei. Petras Schilderung hörte sie nur mit halbem Ohr zu; irgendwas von einem Mann, mit dem sie freundlich geredet und der sie bei ihren Fitnessübungen unterbrochen habe, worauf der Mann unerklärlicherweise zum Angriff übergegangen sei.
Stattdessen fasste sie ihre Sicht der letzten Woche zusammen. Petras und Johans Europareise auf Friedensmission hätte bis dato ein zerdeppertes Auto, einen per Kopfstoß außer Gefecht gesetzten Sicherheitspolizisten, einen angefahrenen britischen Rechtsanwalt und einen auf einem Parkplatz ausgeknockten Italiener gezeitigt. Und dabei seien sie noch nicht mal bei dem Mann angekommen, der seine Strafe wirklich verdiene. Agnes sagte, sie könne sich zur Not damit abfinden, dass die Welt schon bald unterginge, das geschähe ihr ja auch recht. Aber deswegen bräuchten sie sie doch nicht schon vorher auseinanderzunehmen?
Petra meinte, sie habe Dietmar in Bielefeld vergessen. Den Fall hätten sie doch wohl auf die denkbar friedlichste Weise gelöst. Johan sagte nichts, weil er damit beschäftigt war, die gusseiserne Pfanne von Ronneby Bruk einzufetten, während er sich bei ihr entschuldigte.
Nachdem die italienische Polizei sich lange genug nicht im Rückspiegel gezeigt hatte, beruhigte Agnes sich wieder. Und sagte, sie wisse es zu schätzen, dass kein Tag auch nur im Mindesten ereignislos gewesen sei, seit sie Petra und Johan getroffen habe, aber dass eine, die Gleichungen in vierundsechzig Schritten aufstellen könne, sich vor der nächsten Begegnung mit einem beliebigen Repräsentanten der Menschheit vielleicht mal die richtigen Wörter in der richtigen Reihenfolge zurechtlegen könne, damit sie nicht allesamt noch vor ihrer Ankunft im Gefängnis landen würden.
Petra fand immer noch, sie könne nichts für den Vorfall auf dem Parkplatz. Aber was Agnes da gesagt habe, höre sich irgendwie spannend an. Eine fehlerfreie Gleichung, wenn auch mit Wörtern statt Ziffern.
»Ich glaub, ich werde eine Art Checkliste erstellen«, sagte sie. »Damit die Sätze ganz sicher richtig zusammengesetzt sind. Das könnte auch für Johan nützlich sein, wenn er seinem Bruder begegnet. Vor der schwedischen Botschaft wollen ja alle keine Bratpfannen durch die Luft sausen sehen, was?«
Agnes wusste nicht, ob sie die Lage verbessert oder verschlimmert hatte. Doch da nichts darauf hindeutete, dass ihnen die italienische Polizei auf den Fersen war, rang sie sich zum nächsten »Passt schon« durch. Insbesondere, weil sie in den rückwärtigen Wohnmobilregionen gewisse Aktivitäten erahnte. Wie es aussah, hatte Johan die jüngsten Aufregungen bereits vergessen und ging voll und ganz in seinen Plänen für den Abend auf.
***
Petra übernahm das Lenkrad von der Beifahrerseite aus, während Agnes auf dem Tablet nach einer Wohnmobil-Abstellfläche in Rom suchte. Sie fand einen relativ zentral gelegenen Campingplatz.
Dort gab es zwar noch einen Platz für das Wohnmobil, aber es war eng und pickepackvoll. Petra versprach, nicht mit den Nachbarn zu diskutieren, jedenfalls nicht, bevor die anvisierte Checkliste fertig war.
»Was meinst du, fangen wir immer an mit ›Sehr geehrter Herr‹, alternativ ›Sehr geehrte Dame‹? Obwohl, Letzteres klingt nicht ganz so gut. Muss ich mir noch mal durch den Kopf gehen lassen.«
Johan nahm sich Zeit in der Küche. Sagte, morgen sei der Große Tag, und deswegen sei etwas Besonderes auf dem Tisch gefragt.
Petra fand, dass sie jeden Tag »etwas Besonderes« serviert bekam, seit Johan ihr begegnet war, verstand aber, dass sie in eine neue Dimension aufbrachen. Sie war sich nicht sicher, ob sie je im Leben ein Gedeck mit so viel Besteck gesehen hatte.
»Wenn schon, denn schon«, sagte Johan und reichte seinen beiden Freundinnen eine handschriftliche Menükarte. »Da müsst ihr zusammen draufschauen, denn ich hab eine Viertelstunde zum Schreiben gebraucht.«
Restaurant Wohnmobil heute Abend
Eis von kalt gepresstem Rapsöl mit russischem Kaviar und frischen Walnüssen
Knusprige Birnenrolle mit mariniertem Kohlrabi und Meerrettich
Krosse Kartoffeltüte, gefüllt mit geräuchertem Heilbutt und Seehasen-Kaviar.
Dazu Charles Heidsieck Blanc des Millénaires 1995
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Kaninchen-Confit mit gebratener Entenleber, Zitronenthymian und gerösteten Fenchelsamen
Consommé von ofengebackener und fermentierter Tomate, mit fermentiertem Aji-Amarillo-Chili und kalt gepresstem Rapsöl
Gemüseragout von Ofentomate, eingelegter Zwiebel, Gurke, grünen Erbsen und Mandeln, garniert mit Kräutern und einem Tomatenkeks.
Dazu Würzburger Stein Silvaner Erste Lage Juliusspital 2008
Roh gebratener Hummerschwanz mit Karotten-Beurre blanc und Fenchelcrudité, garniert mit frisch gepflücktem Dill.
Dazu Domaine Langlois-Château, Saumur Blanc Vieilles Vignes 2001.
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Zart geräuchertes Zanderfilet mit eingekochten weißen Rüben, Kresse-Zabaione, garniert mit Kaviar.
Dazu Joseph Drouhin Chassagne-Montrachet 2004
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Gebackene Bluttaube am Knochen mit Blutorangenglasur, eingerieben mit gerösteten Fenchelsamen und Koriandersamen.
Gelber Endiviensalat, in Apfelsaft, Honig und Zitrone gebacken, mit Bärlauch gefüllt.
Leicht karamellisierte Apfelcreme auf roten Äpfeln.
Soße aus frisch geröstetem Knoblauch mit Blutorangen, Lorbeerblättern und Hühnchen.
Salat von roten Endivien und Bärlauch.
Dazu Ciacci Piccolomini Brunello di Montalcino 1998
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Kräutersorbet mit Zitronenbaiser und eingewecktem Pfirsich, abgeschmeckt mit Champagner und Zitronenverbene.
Dazu Château Suduiraut 2002
Der Autodidakt entschuldigte sich nochmals dafür, dass Agnes und Petra nicht je eine eigene Menükarte bekämen, aber er habe noch einen Haufen Arbeit vor sich, bevor er sie zu Tisch rufen könne.
»Einen Haufen Arb eit?«, sagte Petra. »Wann hast du mit all dem angefangen? Vor einer Woche?«
Johan meinte, wer sich die Gerichte etwas genauer ansehe, könne wohl die eine oder andere Zweitverwertung finden. Stellenweise auch die reinste Schummelei. Eins räumte er bereitwillig gleich ein: »So wahnsinnig frisch gepflückt kann der Dill ja nun auch wieder nicht sein, wenn man bedenkt, dass ich ihn vor zwei Tagen gekauft hab.«
Alles in allem fand er aber doch, dass er sich kaum zu schämen brauchte. Bei Gelegenheit würde er ihr gern seine Ideen zu weitsichtiger Küchenplanung erläutern, aber jetzt gerade rief ihn besagte Küche.
»Bin in einer Viertelstunde wieder da. Kippt euch so lange nicht zu viel Wein hinter die Binde.«
***
Das Trio war noch nicht weiter als bis zum Kaninchen-Confit gekommen, als Petra es einfach noch mal loswerden musste: »Wie machst du das bloß? Die Geschmacksrichtungen und Aromen so zu kombinieren, dass alles so gut zusammenpasst?«
Agnes, ganz Petras Meinung, nickte.
»Da war ich all die Jahre auf meinen Hähncheneintopf stolz, aber das hier … das ist nicht von dieser Welt.«
»Wirklich?«, sagte Johan, ehe ihm aufging, dass es das gleiche Lob wie zuvor war, nur mit anderen Worten.
Erst in diesem Moment stand für ihn fest, dass es sich nicht bloß um leere Worte handelte. Die beiden meinten es wirklich so!
»Meisterkoch und Genie. Genau das bin ich«, sagte er stolz und erhob sein Glas mit dem Würzburger Silvaner.
»Ui«, machte Agnes, als sie vom Wein gekostet hatte.
»Fruchtig und einen Hauch blumig«, sagte Johan. »Wenn ihr weitersucht, findet ihr gelbe Birnen, Honigmelone und noch ein bisschen was anderes. Das Kaninchen hätte sich über die Begleitung gefreut, wenn es nicht … na ja. Es ist halt tot.«
Pausenlos von seinem Bruder unterdrückt von dem Tag an, da er Laufen lernte, war Johan so gründlich eingeredet worden, er sei nicht gemacht zum Lernen, dass er es gar nicht erst versucht hatte. Stattdessen war er ganz in der Welt der Gaumenfreuden und Aromen aufgegangen.
Doch seit er Petra kannte, hatte ihn niemand mehr als Idioten, dumm oder schwachsinnig bezeichnet. Außer als Fredrik angerufen hatte, während sie an Agnes’ Küchentisch saßen. Johans Selbstwertgefühl nahm täglich zu.
Wodurch seine Wissenslücken aber nicht abnahmen.
Als Johan das Kräutersorbet mit Zitronenbaiser auftrug, kam das Gespräch der drei Freunde auf ihre Strategie für den nächsten Tag – ihr Treffen mit Fredrik, das eigentlich erst die Ursache fast aller Ereignisse der vergangenen Woche war. Es musste in der schwedischen Botschaft stattfinden, denn schließlich wussten sie nicht, wo er wohnte. Der kleine würde dem großen Bruder den Marsch blasen, dass es sich gewaschen hatte. Aber wie?
»Ich hab so viel zu sagen, seit ich allmählich dahintergekommen bin, jedenfalls mehr oder weniger. Ich glaub, ich werd mit den Wochenendsüßigkeiten anfangen. Solange Mama lebte, gab es jeden Samstag weiße Schaumzuckermäuse und Himbeergeleebonbons. Fredrik hat sich alles unter den Nagel gerissen. Ich weiß immer noch nicht, wie eine weiße Maus schmeckt, aber ein Himbeerbonbon hab ich einmal beim Staubsaugen auf dem Boden gefunden.«
»Und hast du es dir genommen?«, fragte Agnes.
Johan nickte.
»Zu viel Glukosesirup.«
Worauf Johan hinauswollte: Auch wenn er sonst nichts verstanden hatte, war ihm doch klar gewesen, dass Kinder weiße Mäuse und Himbeerbonbons mochten. Und dass Fredrik ihn mit der Behauptung reingelegt hatte, er meine es nur gut mit seinen Zähnen, wenn er ihm alles wegesse.
Aber der Reingelegte hatte sich gedacht, dass er ja doch nie eine Himbeerbonbondebatte gegen Fredrik gewinnen könne. Der große Bruder war einfach zu wortgewandt. Der hatte ja die Macht über die Sprache für sich gepachtet.
Während Johan sich über seine entgangenen Süßigkeiten ausließ, kosteten Agnes und Petra das Dessert.
»Himmel, Arsch und Zwirn!«, sagte Petra.
»Interessante Formulierung«, sagte Agnes. »Aber ich stimme dir zu.«
»Im Hintergrund schmeckt ihr Champagner und Zitronenverbene«, sagte Johan.
»Du musst verrückt sein«, sagte Agnes.
Johan sah sie traurig an. Petra sprang ihr bei und erklärte ihm, was Agnes gemeint hatte. Dass er da etwas irrsinnig Leckeres kreiert hatte. Nicht, dass er deswegen irrsinnig wäre. Eher … ja, ein Meisterkoch und Genie.
Johan lächelte wieder. Sein neues, selbstsicheres Lächeln.
Zurück zum Problem. Petra überlegte laut, wie es wäre, wenn sie die ganzen historischen Details wegließen und den genialen Aspekt herausstellten? Wenn Johan in Fredriks Augen schon immer der »Idiot« gewesen war, konnte ihn der Jüngere dann nicht einfach mit einem anspruchsvollen Rezept übertrumpfen?
Agnes sagte, sie könne Petras Gedanken nachvollziehen.
»Ich nicht«, sagte Johan.
Petra dachte weiter nach und machte damit ihre eigene Idee madig. Fredrik eine Menükarte vor die Nase zu halten, wäre keine Hilfe. Wäre dann nicht der ganze Campingtisch für all die Gänge erforderlich? Und woher nähmen sie die Überzeugung, dass Fredrik sich davon beeindrucken ließe, ganz gleich, wie himmlisch es duften und schmecken würde? Er hatte ja jahrelang Feinschmeckerkost zu essen bekommen und es Johan mit Gemecker und Ohrfeigen gedankt.
So kamen sie nicht weiter.
Petra fühlte sich dafür verantwortlich, dass die Begegnung zwischen Johan und Fredrik von Erfolg gekrönt war. Schließlich sollte der große Bruder etwas daraus lernen. Doch nachdem sie gehört hatte, wie Fredrik am Telefon mit dem »Idioten« umgesprungen war, während sie noch auf einer Insel im Umkreis von Stockholm festsaßen, würde das nächste Gespräch wohl kaum besser laufen. Und Johan bestand darauf, dass er und niemand sonst mit seiner Vergangenheit aufräumen werde. Eine hämisch grinsende Petra mit Baseballschläger auf der Schulter einen halben Schritt hinter ihm war also keine Option.
Jetzt bereute sie schon fast ihre Anmaßung gegenüber dem Gülleunternehmer Preben. Er hatte dem dummen Dietmar die Fresse polieren, sie ihn zurechtweisen wollen. Nichts davon hatte dem Realitätstest standgehalten. Fredrik war zwar kein Kugelstoßer, würde sich aber trotzdem wohl kaum von Johan den Marsch blasen lassen.
Wie sich zeigte, dachte Agnes ähnlich. Sie sagte, einerseits habe Johan aus den zahlreichen Schlägen mit der flachen Hand aufs Ohr in all den Jahren nichts gelernt. Das bestätige Petras Theorie, dass die Menschen in erster Linie miteinander reden und nicht sich prügeln sollten.
Andererseits führte sie gern ihren verstorbenen Gatten als Beispiel ins Feld. Er war ein grässlicher Geizhals gewesen, der Agnes jahrzehntelang unglücklich gemacht hatte. Er hatte sich absolut nicht sagen lassen, dass sie auch leben, nicht bloß schuften mussten.
»Ich hab’s wirklich versucht, bin aber einfach nicht zu ihm durchgedrungen.«
»Bereust du jetzt im Nachhinein, dass du ihm keine runtergehauen hast? Oder was willst du mir damit sagen?!«
Petra wunderte sich über ihre eigene Frage.
Agnes quittierte das mit einem Grinsen: »Er hat sich ja sozusagen selbst eine reingehauen, als er auf einen Nagel getreten ist, der ihm den Fuß durchbohrt hat. Er hat zwar nicht direkt was daraus gelernt, aber ich weiß noch, dass er sich im Fieberwahn Vorwürfe gemacht hat, weil er kein Geld für die drei Liter Benzin bis zum Krankenhaus in Växjö hatte ausgeben wollen.«
Letzteres stimmte eigentlich nicht. Der Fabrikant blieb bis ins Grab eisern geizig, aber im Krieg und in der Liebe war alles erlaubt, nur das Ergebnis zählte. Agnes wusste jetzt nämlich, welchen Ausgang dieses Gesprächs sie sich wünschte. Damit hinten das Richtige herauskam, konnte man sich schon mal einen etwas kreativen Umgang mit der Wahrheit gestatten. Sogar so tun, als glaubte man an die Weissagung der Prophetin.
Agnes setzte ihren Gedankengang fort.
»Dank deiner wissenschaftlich fundierten Weltuntergangsberechnung, Petra, wissen wir mit Sicherheit, dass Fredrik sich bis zu sechs Jahre Gefängnis erspart, das würde er nämlich für schweren Diebstahl von Johans Millionen aus dem Wohnungsverkauf bekommen. Verschafft uns das nicht einen gewissen Handlungsspielraum im Geiste Prebens?«
Petra dankte der Lilahaarigen für ihren konstruktiven Diskussionsbeitrag. Sie wusste es besonders zu schätzen, dass Agnes indirekt die unumstößliche Wahrheit über den bevorstehenden Weltuntergang akzeptiert hatte. Unter den gegebenen Umständen tendierte sie dazu, ihr zuzustimmen. Aber erst mal wollte sie wissen, was die Hauptperson von der ganzen Sache hielt.
Johan hatte sich schweigend an Fredriks zahllose Ohrfeigen erinnert.
»Zwei, drei in der Woche in fünfzehn, zwanzig Jahren«, sagte er. »Wie viele macht das?«
Er wandte sich an die Prophetin, die sagte, dass die Ausgangswerte, die Johan angegeben hatte, ihr keine exakte Antwort ermöglichten. Aber Pi mal Daumen sähe es ganz so aus, als habe Fredrik seinen Bruder weit über zweitausendmal geschlagen.
»Worauf willst du hinaus, mein Lieber? Außer dass es natürlich sehr schlimm ist.«
Agnes und Petra hofften beide auf etwas, ohne so recht zu wissen, was.
Johan sagte, er habe in der Fantasie geübt, den großen Bruder zurückzuohrfeigen, was aber nicht mal in Gedanken geklappt habe. Fredriks Schläge seien irgendwie mehr von oben gekommen, da er zehn Zentimeter größer sei. Wenn er es in umgekehrter Richtung versuchte, würde er den Bruder wohl eher am Kinn treffen.
»Du hältst also nichts von der Idee, es ihm heimzuzahlen?«
Petra merkte selbst, wie enttäuscht sie sich anhörte.
»Das hab ich nicht gesagt. Ich hab gehört, was ihr vom Nagel im Fuß erzählt habt, aber wo nehmen wir einen Nagel her, und wie kriege ich ihn dazu draufzutreten? Was, wenn ich ihm stattdessen mit der Faust eins auf die Nase verpasse?«