22. KAPITEL
Sohn eines Zuckerrübenbauern

Teil 3 von 5

Aleksandr Kowaltschuk ließ Gorbatschow rechtzeitig hinter sich, brachte sich auf die Schnelle selber bei, Wodka in größeren Mengen zu vertragen, und machte sich damit bei Boris Jelzin beliebt, dem ersten Präsidenten des neuen Russland.

Jelzin imponierte das Trinktalent des jungen Kowaltschuk so sehr, dass er ihm noch mehr Verantwortung für Neuerungen übertrug als Gorbatschow. Eines Tages bekam Aleksandr beim Vormittagswodka den Auftrag, so viele Schlupflöcher wie möglich in der überhastet zusammengeschusterten, wackeligen russischen Verfassung zu stopfen. Eine freie Marktwirtschaft in Verbindung mit Gesetzen und Vorschriften, die nicht darauf vorbereitet waren, bedeutete für jeden mit einem halbwegs fähigen Anwalt an seiner Seite, dass er sich eigentlich unmöglich strafbar machen konnte. Und falls doch, blieb einem immer noch die gute alte Bestechung. Auf den Straßen Russlands sah man immer mehr schicke Autos aus dem Westen. Ein beträchtlicher Anteil gehörte höherrangigen Vertretern der Gerichtsbarkeit. Wobei die meisten nur so viel Gehalt bezogen, dass es zum Auftanken dieser Gefährte reichte, und das nicht allzu oft.

Im Vergleich dazu war der amerikanische Wilde Westen seinerzeit ein wahres Wunder an Ruhe und Ordnung gewesen.

Während der Staat mit Privatisierungseifer in einem hoch komplizierten Verfahren, das nur die Allerschlauesten und Gewieftesten begriffen, Hunderttausende seiner Einrichtungen verschleuderte, machte sich Aleksandr an eine Reform des russischen Steuersystems. Er flickte zusammen und besserte aus, aber es gab eine Menge Zahlen gegeneinander abzuwägen. Zum ersten Mal bereute er, dass er sich sein Universitätsdiplom in Wirtschaftswissenschaften ergaunert hatte.

Daher ging das Ganze so gründlich schief, dass alle, die sich streng an die neuen Vorschriften hielten, unter Einbeziehung sämtlicher Ausnahmen und Zusätze in Aleksandrs Reformversuch hundertachtzehn Prozent Steuern auf ihre Einkünfte zahlen mussten.

So dumm war natürlich niemand. Also verzichteten die Superreichen darauf, überhaupt irgendwelche Steuern zu zahlen, und kauften sich stattdessen vom Geld neue Anwälte. Sofern sie nicht selbst zur Mafia gehörten, achteten sie darauf, die Vory zum Schutz der eigenen Gesundheit bei Laune zu halten.

Mütterchen Russland ging es immer schlechter. Mittlerweile konnte man genau wie in Paris alles kaufen, und doch auch wieder nicht. 1992 stiegen die Preise für Waren und Dienstleistungen um das Fünfundzwanzigfache. Wer schon zuvor Kummer und Sorgen gehabt hatte, das Leben am Laufen zu halten, hatte in nicht einmal zehn Monaten fünfundzwanzigmal mehr Sorgen.

Die Führungsriege der Vory erkannte, dass sie dabei waren, das Land zu großen Teilen zu übernehmen, aber sie brauchten die Loyalität der regionalen Mafiaanführer, und die beschwerten sich lauthals. Wie viel Schutzgeld sollte man von einem einfachen Frisörsalon verlangen, wenn sich der Preis für einen Haarschnitt alle zwei Wochen verdoppelte? Und durfte man überhaupt irgendwas verlangen, wenn sich die Leute keinen Frisörbesuch leisten konnten?

Die Köpfe der Mafia hielten eine Strategiesitzung ab. So ging es nicht weiter.

Nach reiflicher Überlegung kam man zu dem Schluss, Jelzin nicht herauszufordern. Sicherlich war der Staat in desolater Verfassung, aber die Vory wusste, dass einen auch ein verwundeter Wolf in die Kehle beißen konnte. Die alten Kommunisten hatten jahrelange Erfahrung mit der Mafia, die sie ausreichend in ihre Schranken zu weisen wussten. Sie jetzt unterschätzen, nur weil sie angeschlagen waren? Nein, das wäre töricht.

Aber Jelzins verfluchter Berater! Der mit den hundertachtzehn Prozent Steuern. Der alles dermaßen vermasselt hatte, dass sich Korruption schon bald nicht mehr lohnte, und der Vory einfach keine Audienz geben wollte, egal, wie sie sich nannte.

Was für ein dummer Sack, der nicht kapierte, mit wem er es zu tun hatte.

Eben deshalb: bald genauso tot wie dumm.

Der Beschluss wurde einstimmig gefällt.

Die Abneigung der Vory gegen Jelzins neuen Chefberater könnte einem etwas unbegründet vorkommen. Immerhin hatten dessen muntere Perestroika-Ratschläge dazu geführt, dass achtzig Prozent des neuen kapitalistischen Russland in Händen der Vory und ihrer Kooperationspartner lagen. Nach Glasnost und Perestroika wurde es Zeit, dass die Welt das Wort Oligarch lernte.

Doch das Todesurteil war gesprochen, und damit hatte sich die Sache erledigt. In neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen.

Und deshalb kam es viel später mit Agnes, Johan und Petra, wie es kommen musste.