24. KAPITEL
Sonntag, 4. September 2011

Noch drei Tage

Der Italiener bleibt abends gerne länger auf als der Schwede. Zudem war Sonntag, auch deshalb zockelte das Wohnmobil mit Agnes am Steuer um fünf vor sechs am Morgen so gut wie allein auf der Ringstraße dahin. Um Viertel nach war das Trio an der Botschaft angelangt. Dass Fredrik oder sonst wer ihnen zuvorgekommen sein könnte, hielten sie für ausgeschlossen.

Aus Viertel nach sechs wurde ohne auch nur ein einziges Lebenszeichen Viertel nach sieben. Und Viertel nach acht. Petra wurde immer unleidlicher – bis gegen halb neun, o Wunder, tatsächlich ein Beschäftigter eintrudelte. Bald darauf noch einer. Dann noch zwei weitere.

»An einem Sonntag?«, sagte Petra ebenso verwundert wie von leiser Hoffnung erfüllt.

Agnes überlegte laut, ob sie sich nicht einen von denen krallen und nach Fredrik befragen sollten, aber Petra riet ihr davon ab. Wenn drei gekommen waren, konnten sie sicher mit noch mehr rechnen. Ansonsten klingelten sie einfach und sahen weiter.

Vom Auto hatten sie einen guten Blick auf den Eisenzaun vis-à-vis. Aber nur Johan erkannte die Zielperson.

»Da!«, rief er plötzlich um 08.56 Uhr aus.

»Wo?«

»Drüben auf dem Bürgersteig, am roten Auto.«

Fredrik war hundert Meter entfernt. Neunzig. Fünfundachtzig.

»Was machen wir jetzt?«, sagte sein kleiner Bruder.

Petra sah ein, dass sie die Details am Vorabend hätten durchsprechen können, statt sich in einen Wettbewerb zu stürzen, wer am meisten Wein trinken konnte. Den sie im Übrigen gewonnen hatte, da war sie sich ziemlich sicher.

Noch fünfzig Meter. Bald würde der große Bruder durchs Tor verschwinden und dem Trio neue Probleme bereiten. Petra übernahm das Kommando und traf eine schnelle Entscheidung.

»Raus mit dir! Raus und hau ihn. Mitten auf die Nase. Los, beeil dich! Und komm schnell wieder zurück.«

Johan stolperte aus dem Wohnmobil und auf die andere Straßenseite. Er kam gleichzeitig mit seinem Bruder am Eisentor der Botschaft an.

»Hallo, Fredrik«, sagte er.

Der große Bruder war total baff.

»Idiot? Was um alles in der Welt machst du hier?«

Johan büßte etwas von seiner mühsam aufgebauten Entschlusskraft ein. Dass Fredrik ihn ausgerechnet so wie immer nannte, versetzte sie beide in die Vergangenheit zurück.

»Willst du dir Geld leihen, oder worum geht’s? Wie hast du überhaupt hergefunden? Wo du doch nicht mal Deutschland auf einer Karte von Mitteleuropa erkennst.«

»Ich weiß, wo Bielefeld ist«, sagte Johan, »und dass Westeuropa westlich von Osteuropa liegt.«

Er ballte die rechte Hand zur Faust. Sollte er erst zuschlagen und es hinterher erklären? Oder andersrum? Oder zweimal zuschlagen, ohne Erklärung? Was hätte Petra getan?

Es geschah weder das eine noch das andere, weil die Brüder von einer dritten Person unterbrochen wurden.

»Guten Morgen, Fredrik. Mit wem plauderst du da, wenn ich fragen darf?«

Fredrik hatte seine Zunge verschluckt …

»Willst du uns nicht vorstellen?«

… aber auch keine andere Wahl, als sie wieder hervorzuholen.

»Selbstverständlich … das hier ist mein Bruder … Johan. Aus Schweden angereist. Und das ist Botschafter Ronny Guldén, mein Vorgesetzter.«

»Sehr erfreut, Johan.« Der positiv denkende, beliebte Botschafter gab ihm die Hand. »Was führt dich nach Rom? Einzig und allein Geschwisterliebe, oder bleibt noch etwas Zeit für Sightseeing?«

Johan sagte es, wie es war. Man soll ja möglichst nicht lügen.

»Ich bin hier, um meinem Bruder eins auf die Nase zu verpassen. Ein- oder zweimal, darüber hab ich grade nachgedacht, als Sie gekommen sind, Herr Botschafter.«

»Hä?«, sagte Fredrik.

Botschafter Guldén war begeistert.

»Geschwisterliebe! Ihr zwei seid ja goldig! Ich habe selbst einen süßen kleinen Bruder. Den ich nie anders genannt habe als Scheißhaufen.«

Ronny Guldén musste über sich selbst kichern. Doch dann fiel ihm etwas ein: »Fredrik, ich und ein paar müde Herrschaften und Damen haben gleich um neun eine Planungssitzung. Heute ist ein besonderer Tag. Aber, Johan, kannst du nicht um vier Uhr nachmittags wiederkommen? Dann geben wir unseren jährlichen Botschafterempfang. Sonntag, ich weiß, aber die Tradition will es so. Es gibt den halben Abend lang Häppchen, Sekt und drögen Diplomatentalk, oder schlimmstenfalls den ganzen Abend. Möchtest du dich nicht zu uns gesellen? Gesetzt den Fall, dass du dich mal so richtig langweilen willst?«

Der Botschafter kicherte wieder über sich selbst.

»Nein, das will er bestimmt nicht«, versuchte es Fredrik, während er die nackte Panik in sich aufsteigen spürte.

Sollte sich einer der dümmsten Menschen Schwedens mit seinem Chef und dem gesamten diplomatischen Corps von Rom treffen dürfen?! Das konnte Fredriks ganze Karriere gefährden.

»Ja, gern«, antwortete Johan und sagte danach im Ernst, was sich wie ein Scherz anhörte: »Die Nase kann ich ihm dann ja immer noch zu den Häppchen einschlagen. Sie haben nicht zufällig das Rezept, Herr Botschafter?«

»Du bist zu drollig«, sagte Botschafter Guldén. »Hat mich mächtig gefreut, dich kennenzulernen, wir müssen heute Abend weiterplaudern. Komm um vier Uhr. Ich setz dich auf die Gästeliste. Lass mich raten: Du hast denselben Nachnamen wie dein Bruder? Dresscode: Jackett. Komm, mein lieber dritter Botschaftssekretär, ich habe eine Planungssitzung zu leiten und du einen Kopierer zu bedienen.«

***

»Was ist passiert?«, fragte Petra. »Wer war der Typ, der alles verdorben hat?«

»Was ist ein dritter Botschaftssekretär?«, sagte Johan.

»Hm, das wird wohl ein diplomatischer Titel sein.«

»Und was heißt Dresscode Jackett?«

»Dass man ein Jackett anhaben soll. Oder vielmehr einen Anzug. Warum fragst du?«