Manchmal fragte Ban Ki-moon sich schon, worauf er sich da eigentlich eingelassen hatte.
Geboren auf der koreanischen Halbinsel während der japanischen Besatzungszeit, war er als kleiner Junge mit seiner armen Familie in die Berge geflohen, wo sie sich während des gesamten Koreakriegs versteckt hielten.
Nachdem sich der Norden und der Süden jeder auf seiner Seite des achtunddreißigsten Breitengrads verschanzt hatten, wagten seine Eltern, nach Chungju zurückzukehren. Der neunjährige Sohn konnte endlich eine richtige Schule besuchen.
Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Wurde ein Eliteschüler. Gewann bei einem Englischwettbewerb eine Reise in die USA . Machte seinen Bachelor in Seoul, den Master in Harvard. Politische Karriere. Wurde Außenminister. Und – eher unerwartet – Generalsekretär der ganzen UN .
Jetzt saß er mit Botschafter Thorne und Präsident Obama persönlich in der amerikanischen Botschaft in Rom beisammen. Zwar war Sonntag und alles, aber Präsidenten und Generalsekretäre hatten keine Zeit für derlei Nichtigkeiten.
Einmal, als Highschool-Schüler in den USA , hatte Ban Ki-moon John F. Kennedy treffen dürfen. Jetzt traf er sich mit dem achten oder neunten Nachfolger von Kennedy. Wie ein Gleichrangiger. Und mit dem amerikanischen Botschafter Thorne, der den Kaffee servierte und nachschenkte. Oder noch besser Tee.
Wie so oft in Gesprächen zwischen dem Präsidenten und dem Generalsekretär ging es um Korruption, die globale Volksbewegung und ständig wachsende Geißel der allgemeinen ökonomischen Entwicklung, Demokratie und Umwelt. Diesbezüglich stimmten Obama und Ban Ki-moon restlos überein.
Der amerikanische Präsident kam direkt von einer Sitzung mit Angela Merkel in Berlin und musste schon am nächsten Tag weiter nach Warschau, um den Ministerpräsidenten Donald Tusk zu treffen. Polen hatte in diesem Herbst die EU -Ratspräsidentschaft inne. Laut Obama zählten sowohl Merkel als auch Tusk zur schrumpfenden Schar von Politikern, die in erster Linie etwas Gutes bewirken wollten. Auch wenn sie deshalb noch lange nicht immer einer Meinung waren.
Ban Ki-moon seinerseits hatte sich mit dem Chaos in Syrien zu befassen, das Anfang des Jahres ausgebrochen war. Oder irgendwann im siebzehnten Jahrhundert, wenn man es philosophisch betrachten wollte. Sicherlich hatte auch Frankreichs knallharte Kolonialherrschaft seit den 1920er Jahren ihren Teil dazu beigetragen. Oder dass die Sowjetunion Hafiz al-Assad unter die Arme gegriffen hatte, der nicht nur den Mittelfinger, sondern gleich die ganze sowjetgestützte Hand in die Luft gestreckt hatte, bis er starb und sein Sohn die Macht übernahm.
Der Sohn Baschar al-Assad war der Meinung, die Menschen hätten kein Recht auf irgendwelche Menschenrechte. Er verspottete die USA und spuckte auf Israel. Er zeigte den Islamisten den Stinkefinger und – für viele das Allerschlimmste – propagierte, Frauen seien auch Mensche n. Parallel dazu stellte sich heraus, dass seine selbst gestrickte Version von Sowjetsozialismus nicht funktionierte. Im Unterschied zur Korruption.
Jetzt geriet er aus allen Richtungen gleichzeitig unter Beschuss. Geschah ihm recht, erlaubte sich der Generalsekretär zu denken. Was die UN noch lange nicht von der Pflicht einzugreifen entband. Denn weit unter jedem politischen, religiösen oder territorialen Machtkampf krebsten immer Tausende, Hunderttausende oder Millionen von einfachen Menschen herum, die keine andere Lebensphilosophie hatten, als dass es doch schön wäre, wenn morgens beim Aufwachen, nachdem sie sich tags zuvor gehörig abgerackert hatten, ein Frühstück auf dem Tisch stehen würde. Und später zum Mittagessen möglichst keine Granaten auf einen herabregneten.
Grob vereinfacht könnte man sagen, dass der Kampf in Syrien zwischen einem Mann ohne Religion, der meinte, dass niemand ein Recht auf irgendwas hatte, und einer Gruppe Islamisten tobte, die meinten, der Mann habe ein Recht auf alles. Keine der beiden Parteien scherte sich darum, was die Privatleute und Bürger eigentlich wollten.
Obama und Ban Ki-moon hatten den Ehrgeiz, Ende Oktober, Anfang November beim G20-Gipfeltreffen im französischen Cannes etwas Bedeutendes zu erreichen. Der wichtigste G20-Gipfel seit Jahren! Der Syrienkrieg würde sich sicher bald legen, der stand nicht mal auf der Tagesordnung. Aber es gab so viel anderes, bei dem es sich lohnte, die Ärmel hochzukrempeln. Beide wussten, dass man niemanden von der Notwendigkeit einer Reform des globalen Währungssystems überzeugen kann, wenn man eine Viertelstunde vor Sitzungsbeginn eintrudelt. Ebenso wenig gelingt es einem, strengere Regeln für Transaktionen oder neue Wege zur Bekämpfung der Korruption einzuführen. Daher gab es eine Reihe anbahnender Gespräche.
Zwischen diesem Sonntag und dem anstehenden G20-Gipfel sollte außerdem eine Sondersitzung der Versammlung der Afrikanischen Union stattfinden. Obama und Ban Ki-moon waren beide als Beobachter und Ehrengäste geladen.
Die ausufernde Korruption in Afrika würde der in Russland bald in nichts mehr nachstehen. Deswegen war sie aber noch lange nicht eines der Hauptthemen in der Sitzung. Eigentlich war sie überhaupt kein Thema. Auf der Agenda standen die globale Finanzkrise (die den Kontinent, der am wenigsten daran schuld war, am härtesten traf), die Unruhen vor allem in Libyen (dessen Führer Gier und Eigennutz ein paar Umdrehungen zu weit getrieben hatte) und die Umwelt (weil die Versammlung wusste, dass der Amerikaner und der Südkoreaner gerne darüber redeten).
Barack Obamas und Ban Ki-moons nachmittäglicher Gedankenaustausch verlief sensationell offen hinsichtlich der Frage, welche Staatsoberhäupter mehr Verantwortung übernehmen konnten und sollten und welchen sie beide nur Schlechtes an den Hals wünschten, wenn solche Wünsche nur nicht so unpassend gewesen wären.
»Also eine meinungsbildende Front«, sagte Ban Ki-moon. »Gegen alle Steueroasen der Welt.«
Obama nickte.
Genau in solchen Steueroasen landete nämlich der größte Teil aller auf korrupte Manier zusammengerafften Gelder. Daraus wurden schlimmstenfalls terroristische Aktivitäten finanziert. Bestenfalls wollte sich die korrupte Person vom Geld nur etwas Tolles kaufen, wie etwa eine ganze Fußballmannschaft. Während das Land, aus dem das Geld kam, verarmte. Bald hatte ein strebsamer Mitbürger nur noch eine Überlebenschance, wenn er es allen anderen gleichtat und so viel wie möglich an sich raffte.
Obama und Ban Ki-moon kamen nicht umhin, auf den widerlichen Aleko zu sprechen zu kommen, den Präsidenten des Liliputlandes Kondoren im Indischen Ozean. Die Gefahr bestand, dass sie bei der anberaumten AU -Sondersitzung auf das Ekelpaket treffen würden.
Während die OECD , die WTO , die EU und andere die Steueroasen bekämpften und deren Möglichkeiten zu beschränken versuchten, setzte Aleko alles daran, die Kondoren zum Schlusslicht von allen in der Klasse zu machen. Die einzige Regel, an die sich das Land bei internationalen Finanztransaktionen zu halten bereit war, war offenbar die, dass Regeln für die Kondoren nicht galten.
***
Aleko hatte sich schon vor dem Steueroasenkurs der Kondoren bei einem ganzen Kontinent unbeliebt gemacht. Sieben Jahre lang hatte er ausnahmslos jede Sitzung der Afrikanischen Union boykottiert. Von den Sitzungen ausschließen konnte man ihn nicht, da seine Inselgruppe unglücklicherweise formell zu Afrika gehörte. Und nach den Statuten der Union hatten alle afrikanischen Staats- und Regierungschefs ein Stimmrecht.
Die Versammlung legt die Richtlinien für ganz Afrika fest: welche Prioritäten für Friedensarbeit, Sicherheit, Wirtschaft und Umwelt gelten sollen. Die Beschlüsse sind oft bereichsübergreifend, und es besteht eine historische Verpflichtung zum Konsens.
Letzterer hatte sich seit 2004 nicht mehr ergeben, als die Kondoren von einem Tag auf den anderen einen neuen Präsidenten bekommen hatten.
Anfangs hatten die anderen den Neuen noch herumzukriegen versucht.
»Aber Aleko, bitte, was hast du für ein Problem mit der Formulierung, dass wir ›keine Anstrengungen scheuen werden, um HIV und AIDS auszurotten?‹«
»Das sage ich nicht.«
Als wäre er neun Jahre alt und schlechter Laune.
Nach ein paar solcher Sitzungen änderte der neue Versammlungsvorsitzende seine Taktik.
»Bleibt zum Schluss nur noch die Deklaration. Präsident Aleko, was schlagen Sie vor, wie wir sie formulieren sollten?«
»Dass die Fischerei unterschätzt wird.«
»Aber hier geht es doch um einen kontinentalen Anti-Aggressionspakt.«
»Wenn alle Fisch essen würden, gäbe es weniger Streit.«
»Aber Aleko, bitte …«
»Präsident Aleko, wenn ich bitten darf.«
Die Versammlung, die sich in den Jahrzehnten vor Aleko ans Festklopfen konsensfähiger Formulierungen gewöhnt hatte, einigte sich rasch darauf, wie sie den Emporkömmling von den Kondoren nennen wollten. Offiziell natürlich Präsident . Aber inoffiziell etwas Anschaulicheres, nicht ganz so Stubenreines. Die Anführer der vierundfünfzig Länder nannten ihren Kollegen des fünfundfünfzigsten von nun an nur noch:
Das Arschloch.
***
Ban Ki-moon und Obama hatten sich beide auf dem langen Flug aus ihrer jeweiligen Richtung in die italienische Hauptstadt gründlich vorbereitet (ausgerechnet dort trafen sie sich, weil der Generalsekretär ein Jahr zuvor eine Einladung Papst Benedikts zum Vormittagstee am Folgetag angenommen hatte). Deshalb dauerte ihr Sonntagstermin in der Botschaft nicht lange; beide wussten ja, was sie wollten, und stimmten in allen wesentlichen Punkten überein.
Einverstanden. Hand drauf. Und es war noch nicht mal vier Uhr nachmittags.
»Vielleicht ein frühes gemeinsames Abendessen?«, schlug Ban Ki-moon vor.
»Gerne«, sagte Barack Obama.
»Oder wir schmuggeln uns in die schwedische Botschaft«, schlug Botschafter Thorne vor. »Die haben heute ihren jährlichen Botschafterempfang, der gleich anfängt. Ich bin eingeladen und kriege euch beide bestimmt auch mit rein.«
Der Präsident und der Generalsekretär lächelten. Botschafterempfang, das hörte sich nett an.
»Sieben Minuten mit dem Auto«, sagte Botschafter Thorne.
Der Secret Service hatte keine Einwände.