28. KAPITEL
Sohn eines Zuckerrübenbauern

Teil 4 von 5

Während Gorbatschow immer noch Parteisekretär für Landwirtschaft war, sah sich sein ehemaliger Berater veranlasst, Berlin zu besuchen. Mehrmals fuhr er in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Auf einer dieser Reisen lernte er den dynamischen Günther kennen, einen gleichaltrigen, zukunftsorientierten Typ mit so guten Russischkenntnissen, dass sie sich prima verständigen konnten. Nach ein paar gemeinsamen feuchtfröhlichen Abenden weihten sie einander in ihre Zukunftsvisionen ein. Besonders Günther hatte ein enormes Bedürfnis nach offenem Gedankenaustausch, der mit Ostdeutschen nicht möglich war. Außer den neunzigtausend Angestellten im Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi, gab es mehrere Hunderttausend als Spitzel registrierte inoffizielle Mitarbeiter, IM s, dazu angehalten, Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn auszuspionieren.

Mit Aleksandr – Sascha – war es anders. Er war schließlich Russe.

Günther erzählte, er arbeite für ein staatliches Logistikunternehmen und sei in der Lage, verschiedene Stasi-Register so zu frisieren, dass er vom Anschwärzen seiner Mitbürger profitierte, die ebenso unschuldig wie tot waren. Die Sterbeurkunden wurden nämlich in einem anderen Register geführt, ebenfalls unter Günthers Aufsicht.

Daher suchte die Stasi aufgrund von Günthers Hinweisen nach mindestens dreißig verdächtigen Staatsfeinden, ohne auch nur einen einzigen davon zu finden. Die waren ja alle schon tot und begraben.

»Gut für mich, schlecht für niemanden«, sagte Günther. »Prost, mein Freund!«

Das ging etliche Jahre gut, nicht zuletzt deshalb, weil Günther darauf achtete, dass die verpfiffenen Staatsfeinde keine Angehörigen hatten, die die Stasi verhören konnte. Bis er es dann eines Tages zu eilig hatte, in die Kneipe zu kommen, wo sein Freund Sascha mit vollem Bierglas auf ihn wartete. Günther verwechselte ein paar Dokumente und denunzierte aus Versehen die falsche Frau in Dresden, laut seinem Bericht ein besonders schlimmer Finger. Möglicherweise war sie nach Leipzig gezogen, um sich als Puffmutter durchzuschlagen, aber da war sich der Spitzel nicht sicher.

Ganz anders der höchste und wichtigste Stasi-Chef, der kummerschweren Herzens gerade seine Frau zu Grabe getragen hatte. Jetzt hatte er Günthers Bericht vor sich, der frech behauptete, seine geliebte schneeweiße Heidrun wäre am dritten Tage von den Toten auferstanden und gen Leipzig gefahren, weil sie dort ein Bordell betreiben wollte.

Die Jagd auf die unauffindbaren Dreißig wurde unverzüglich abgeblasen. Stattdessen machten sich alle auf die Suche nach Günther. Der nur überlebte, indem er sich in Saschas Kofferraum bis nach Moskau schmuggeln ließ.

In der sowjetischen Hauptstadt angekommen, gründete er sein eigenes Unternehmen. Will sagen, er verkaufte auf dem Rücksitz eines Taxis gefälschte Lebensmittelmarken. Oder eher von siebzig Taxis aus, als die Organisation ihren Zenit erreichte, kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion. Günther machte sich als Überlebender einen Namen innerhalb der Vory. Er besaß nämlich so viel Verstand, dass er anderen etwas abgab. Und kein Wort darüber verlor, wer in den innersten Kreml-Kreisen sein bester Freund war.

***

So erfuhr Günther keine zwanzig Minuten nach dem Todesurteil über Jelzins Chefberater von den Plänen. Eine Minute später wusste auch Aleksandr Bescheid und packte in aller Eile seine beiden größten Koffer, und zwar randvoll mit drei Unterhosen, ein paar Briefen, die er gerne aufheben wollte, einer Zahnbürste ohne Zahncreme und dicken Bündeln mit Hundertdollarscheinen. Natürlich weder angegeben noch versteuert. Warum sollte er sich korrekt verhalten, wenn niemand sonst es tat? Sicherheitshalber nahm er seinen besten Freund mit auf die Flucht.

Bis zu jenem Tag hatte der Sohn des ehemaligen Zuckerrübenbauern den Namen Aleksandr Kowaltschuk getragen. Das Erste, was er tat, als er in dem Land ankam, das die Russenmafia seiner Meinung nach mit Sicherheit nie finden würde, war, seinen Namen zu ändern. Es kostete ihn hundert Dollar. Für einen weiteren Hunderter war der vornamenlose Aleko außerdem kondorischer Staatsbürger. Ale von Aleksandr. Ko von Kowaltschuk.

Neuer Name, neue Staatsbürgerschaft in einem neuen Land. Mit zwei Koffern voller Geld und umfassenden Kenntnissen, wie man eine gesellschaftliche Spitzenposition erlangt, egal, in welcher Gesellschaft. Aleko startete einen neuen Aufstieg zur Spitze. Diesmal würde er es bis ganz nach oben schaffen.