32. KAPITEL
Dienstag, 6. September 2011

Noch ein Tag

Die International Criminal Police Organization, gemeinhin Interpol genannt, hat ihren Hauptsitz im französischen Lyon. Im Jahr 2011 hatte die zwischenstaatliche Organisation beeindruckende hundertsiebenundachtzig Mitgliedsländer vorzuweisen. Drei weitere waren im Anmarsch: Curaçao, Sint Maarten und der Südsudan.

Interpol ist auf Kriminalität spezialisiert, die sich nicht um Landesgrenzen schert. Aber innerhalb ihrer Grenzen ist jede Nation souverän. Es gibt keine Superpolizisten, die von Lyon aus losgeschickt werden, um Übeltäter zu verhaften, wo auch immer auf der Welt sie gesichtet werden.

Sagen wir mal, so einer würde zufällig in Rom auftauchen. Da alarmiert Lyon die Spezialeinheit der italienischen Polizei, die der verlängerte Arm von Interpol ist. Diese Einheit heißt NCB , National Central Bureau. Code rot bedeutet: Verdächtige Person nach Möglichkeit verhaften. Code gelb: Fragliche Person aufspüren. Code blau: Ermitteln, was vor sich geht. Code grün: Dieses Schlitzohr könnte eventuell auf dem Weg zu euch sein, um etwas anzustellen. Code orange: Warnung vor Bomben, Granaten und anderen destruktiven, schädlichen Dingen. Sowie Code schwarz: Dieser Verbrecher ist schon tot, aber wir möchten mehr über ihn erfahren. Wisst ihr was?

Nun ist die Welt manchmal so klein, dass man es im Kopf kaum aushält. Der Vize-Geschäftsführer von Louis Vuitton SE -Moët Hennesy (LVMH ) in Paris stammte nicht nur aus Lyon, sondern war auch noch ein ehemaliges Mitglied im selben Tennisclub wie die rechte Hand des Generalsekretärs von Interpol. Um den Schaden für die Marke Bvlgari zu begrenzen, musste die Person hinter dem Fake-Account Travelling Eklund aufgespürt und verklagt werden. Tenniskumpel 1 setzte Tenniskumpel 2 unter Druck, der die angemessene Position hatte, einen dreifarbigen Vorgang auszulösen (blau, gelb, rot). Was bedeutete: »Findet raus, was passiert ist, schnappt euch das Miststück und verhaftet es.«

Manchmal ist die Welt so klein, dass man es im Kopf gar nicht mehr aushält. Zufällig war der Finanzdirektor von Bvlgari in der italienischen Hauptstadt auch Präsident des angesehensten Fliegenfischereivereins im Süden der Hauptstadt. Auf dem dritten Platz der Warteliste für exklusive Mitgliedschaft stand Sergio Conte, Spezialagent des verlängerten Arms von Interpol, kurz NCB , in Rom.

Wie es der Zufall wollte, saß dieser Conte nun auf einem dreifarbigen (wie er fand) Scheißvorgang, der sich nicht vom Tisch wischen ließ. Er bekam von zwei Seiten Druck: erstens von einem Tennisspieler in Lyon, zweitens von einem Fliegenfischer mit der Macht, den Spezialagenten in den Verein, in dem er unbedingt Mitglied werden wollte, aufzunehmen – oder ihn auf ewig daraus auszuschließen.

Ab Punkt elf Uhr erstattete der Spezialagent seinem schwer erträglichen Chef und einem Grüppchen NCB -Kollegen Bericht. Zielperson war eine Agnes Eklund, geboren 1936, schwedische Staatsbürgerin. Ein Instagram-Account, indirekt gekoppelt an Frau Eklund durch Verbindung mit einem Konto bei der Schwedischen Handelsbank in Schweden, deutete darauf hin, dass sie sich in Rom aufhielt. Zumindest war dies vor siebenundzwanzig Stunden beim letzten Login in fragliches Konto der Fall gewesen (Interpol in Lyon und das NCB hatten ihre Ressourcen koordiniert und wussten, wer sich wo aufhielt, solange die Person, die ihr Interesse geweckt hatte, unvorsichtig genug war, ihren Laptop oder ihr Tablet einzuschalten).

Spezialagent Conte gab seinem Chef gegenüber zu, dass es wirke, als könne man den Fall vernachlässigen. Er erzählte ein wenig darüber, dass Lyon Druck machte, und gar nichts über sein Eigeninteresse an seinem heiß begehrten Fliegenfischereiverein. Stattdessen argumentierte er auf prinzipieller Ebene: Instagram war ein neues Phänomen. Das ganze Internet an sich war noch einigermaßen neu. Das NCB konnte mit reihenweise ähnlichen Fällen in Zukunft rechnen, total grenzüberschreitend, denn das war ja der ganze Witz mit dem Internet. Quasi sein Lebensnerv.

»In Anbetracht dieser Ausführungen lautet meine Empfehlung, dass wir auf Lyon hören und Ressourcen für den Fall bereitstellen. Stufe: blau, gelb, rot.«

Sergio Contes Chef schob seine Brille auf die Nasenspitze und sah ihn über das Gestell hinweg an. »Ich muss mich über Sie wundern, Herr Spezialagent«, sagte er. »Aber meinetwegen. Da Sie so scharf auf die schwedische Schwindlerin sind, Herr Conte, steht es Ihnen frei, sie aufzuspüren. Aber die einzige Ressource, die wir dafür einsetzen, sind Sie, Herr Spezialagent. Wir anderen kümmern uns weiter um unseren Kleinkram wie Menschenhandel, globalen Terrorismus, Gefährdung der Demokratie und milliardenschweren Währungsbetrug.«

Conte kam sich dumm vor.

»Danke«, sagte er. »Ich lege sofort los, wenn Sie gestatten. Nach meiner Einschätzung wird die verdächtige Person noch vor Ende des Tages gefasst sein.«

Binnen zwanzig Minuten war der Fall vorgetragen, besprochen und entschieden. Eine Minute später löste sich die Gruppe auf. Nach weiteren vier Minuten hatte Conte seine hoch entwickelten Suchmaschinen angeworfen.

Das war um 11.25 Uhr. Um 11.26 war klar, dass die Verdächtige Rom Richtung Addis Abeba verlassen hatte, zum Weiterflug nach Daressalam, mit Endziel Monrovi auf den Kondoren.

Die Kondoren, eine Scheindemokratie im Indischen Ozean, gehörten zwar zu den hundertsiebenundachtzig Mitgliedsländern von Interpol, aber nur auf dem Papier. Frau Eklund musste also allerspätestens in Daressalam gefasst werden.

Stellte Spezialagent Conte zwei Minuten nach dem Start des Flugs 865 vom Julius Nyerere International Airport zu den äußerst unkooperativen Kondoren fest.

»Scheiß Julius Nyerere«, sagte er.

Jetzt wurde es fummelig.