40. KAPITEL
Mittwoch, 7. September 2011

Noch drei Stunden

Das Fischgericht wurde vom Meisterkoch mehr oder weniger gutgeheißen, obwohl der Västerbotten-Käse im Pesto fehlte. Aber Eiscreme mit Schokoladensoße zum Nachtisch? Das ging gar nicht.

»Wie heißt der Koch, Papa?«

»Malik, glaube ich. Warum?«

»Ich muss mit ihm reden.«

»Soll ich ihn entlassen? Ein Wort von dir genügt.«

»Das überlegen wir uns morgen. Jetzt kommt es erst mal drauf an, dass ich verstehe, was er sagt, und umgekehrt. Außer allem, was mit Wein zusammenhängt, kann ich nur zwei Wörter auf Französisch. Das eine ist Gérard. Das andere Depardieu. Wie lösen wir das Problem?«

»Man nennt es Dolmetschen«, sagte Aleko.

Nach dem verfeinerten Papayasaft, dem Chablis, dem Fisch, einem perfekt darauf abgestimmten Chardonnay und dem absurd schlichten Dessert zerstreuten sich die Gäste spontan auf der großen Veranda. Agnes mit dem Tablet. Johan analysierte ein Stück weiter weg die Geschmacksnuancen einiger Schokopralinen. Und Petra hatte sich auf einen bequemen Liegestuhl gelegt, die Hände im Nacken verschränkt und ein Lächeln auf den Lippen.

Die Prophetin rechnete damit, in einem ausreichend großen Sekundenbruchteil bei Bewusstsein zu sein, um die Bestätigung zu erleben, dass ihre Gleichung in vierundsechzig komplizierten Schritten stimmte. In diesem Bruchteil würde sie und niemand sonst auf der Welt verstehen, was passierte. Außer vielleicht noch Agnes. Johan wohl kaum.

Präsident Aleko hielt sich im Stehen am Glas süßen Tokaji Eszencias fest, das ihm sein Sohn in die Hand gedrückt hatte, und wunderte sich, wie ihm etwas, das kein Wodka war, so guttat. Der Tag an sich, aber auch das Getränk erfüllten ihn mit menschlicher Wärme.

Er würde sich nun unter den Gästen tummeln und ging zuerst zu Petra im Liegestuhl.

»Du siehst zufrieden aus«, sagte Aleko und versuchte, das Lächeln der Frau zu erwidern, die ihm erst vor Kurzem einen zweifachen Boxhieb verpasst hatte.

»Ich bin zufrieden«, sagte Petra. »Zum ersten Mal im Leben stehen wir kurz davor, alle gleich behandelt zu werden. Und mit alle meine ich alle

Was sagte sie da?

»Bist du Kommunistin?«, fragte der ehemalige Chefberater des letzten Staats- und Parteichefs der Sowjetunion.

Die Prophetin grinste noch breiter: »Ach was. Ich bin die letzte Realistin. Mehr sage ich nicht, weil Agnes mich gebeten hat, den Ball flach zu halten. Wir hätten bis morgen zur Frühstückszeit weiterplaudern können, wenn es nicht mit allem so wäre, wie es ist.«

Aleko entnahm Petras Worten nur, dass sie wahrscheinlich eine Schraube locker hatte. Also wirklich: aufzuspringen und den kondorischen Präsidenten ins Gesicht zu boxen und zur Strafe auf der Gartenterrasse desselben erlesene Weine kredenzt zu bekommen! Petra Rocklund war knapper an einer siebenjährigen Haftstrafe vorbeigeschrammt als irgendwer sonst in der gesamten Gefängnisgeschichte der Menschheit.

Der Präsident schlenderte weiter zum nächsten Gast. Er setzte sich mit dem ungarischen Dessertwein in einer Hand zu Agnes, um sich zu vergewissern, dass es auch ihr gut ging.

Genau wie Petra war die Lilahaarige rundum zufrieden. Aber aus einem anderen Grund. Sie genoss in vollen Zügen, dass das Leben, das so lange stillgestanden hatte, jetzt täglich Hundertachtziggradwenden vollführte. Und sie genoss, dass es momentan wieder stillstand, wodurch sie etwas verschnaufen konnte. Sie war ja kein junger Hüpfer mehr.

Sie hatte sich Günthers Tablet geliehen. Seit der Polizeichef geworden war, hatte er so einiges über Polizeiarbeit gelernt, und er ahnte, dass dieser Spezialagent in Rom wusste, was er tat. Daher hatte Günther Agnes auf die Schulter geklopft und ihr geraten, ihr eigenes Tablet ausgeschaltet zu lassen, damit er sie nicht auf diesem Wege aufspüren musste. Also Günther. Der Spezialagent hatte nichts auf den Kondoren zu suchen, dafür sorgte der Polizeichef schon.

Während Günther sich davonschlich, um nach Angelika und Pocahontas zu sehen, schaltete Agnes sein Tablet an. Zuallererst machte sie sich über das Land schlau, in dem sie und ihre gesamten Millionen gelandet waren. Keine schöne Lektüre. Und jetzt stand derjenige, der die größte Verantwortung dafür trug, vor ihr und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Danke, Herr Präsident«, sagte sie. »Der Wein mundet, ein laues Abendlüftchen weht, und ich informiere mich gerade über Ihr Land. Offenbar haben Sie die Macht über einfach alles, Herr Präsident; es kommt mir so vor, als hätte ich Ihnen mein ganzes Vermögen in den Schoß gelegt.«

»Bitte hör sofort mit dem Herr-Präsident-Quatsch auf. Ich heiße Aleko. Und das schon seit Jahren.«

»Hast du den Namen gewechselt? Wie lautet denn dein alter Name?«

»Lange Geschichte. Darauf kommen wir ein andermal zurück.«

»Dann reden wir stattdessen über mein Geld. Warum wollte mein Bankberater in Zürich, dass ich es hierher transferiere? Übrigens ein ganz reizender Mensch.«

Aleko nahm noch einen Schluck vom Tokajer. Dann wischte er sich über den Mund und beglückwünschte Agnes. Ihr Geld könne in keinem sichereren Schoß aufgehoben sein. Neugier sei der kondorischen Volksseele fremd, niemand wolle wissen, woher ihr Geld komme und wohin es eventuell transferiert werde. Wenn ein anderes Land, eine Organisation oder Behörde Fragen stellen würde, bekämen sie keine Antworten. Die Kondorische Volksrepublik arbeitete mit niemandem zusammen, duckte sich vor keinem. Für dieses schlichte, ehrenwerte Prinzip verlangte seine Nation lediglich einen minimalen Prozentsatz an Gebühren. Bestimmt hatte Agnes’ Schweizer Berater aus diesem Grund die Banque Condorienne empfohlen, deren Direktor Aleko übrigens zufällig selbst war. Oder Geschäftsführer? Irgend so was. Jedenfalls hatte er das Sagen.

Die lilahaarige Dame war dank ihres mittlerweile abgedankten Alias weiter in der Welt herumgekommen als die meisten. Daher erkannte sie ein Scheißland, wenn sie eins sah. Das Geld war bestimmt sicher, aber mit viel mehr Pluspunkten konnten die Kondoren nicht glänzen.

»Ich habe gerade gelesen, dass jeder zweite Erwachsene in deinem Land weder lesen noch schreiben kann«, sagte sie.

Das klang vielleicht vorwurfsvoller als beabsichtigt, denn der Präsident schlug einen neuen Ton an.

»Was ist daran so schlimm? Wo doch überall so viel dummes Zeug geschrieben wird. Wozu sollten die Leute lesen können?«

Agnes ließ sich nicht beirren: »Und die Kindersterblichkeit ist wirklich sehr hoch.«

Jetzt war der Präsident so richtig verärgert.

»Aber das müsste dir doch gefallen? Dann wachsen schließlich nicht ganz so viele Analphabeten heran.«

Einen dümmeren Kommentar hatte Agnes wohl kaum je gehört, obwohl sie in Dödersjö geboren und groß geworden war. Doch schließlich hatten sich an diesem Abend Vater und Sohn gefunden. Wer war sie, Johans Vater ohne triftigen Grund zu verärgern?

Mit dieser Grundeinstellung hätte es zu keinem Präsidentenstreit kommen müssen, wenn Johan sich nicht eingemischt hätte. Er saß nahe genug mit seinen Schokopralinen da, um mitzubekommen, dass es zu einer gewissen Abkühlung zwischen Agnes und Aleko gekommen war.

»Wovon redet ihr?«, sagte er.

»Von nichts Besonderem«, sagte der Präsident. »Außer dass deine Freundin Agnes nicht richtig versteht, wie kompliziert es ist, ein Land aufzubauen, das jahrhundertelang unter dem Joch des Imperialismus geächzt hat.«

Was soll denn der Blödsinn?, dachte Agnes. Tja, wenn er weiter herumgeifern wollte, ihretwegen.

»Obwohl, sind Äthiopien, Liberia und die Kondoren nicht die einzigen afrikanischen Länder, die nie kolonialisiert wurden?«, sagte sie und dankte im Stillen Günther für das Tablet.

Das wusste Aleko natürlich, auch wenn er auf einer Bananenschale der Bananenrepublik ausgerutscht war, in der er jetzt das Kommando hatte. Aber dass die Alte das wusste?

»Genau!«, sagte er. »Darauf wollte ich gerade kommen. Nur drei Nationen haben standgehalten, als der brutale Kolonialismus Afrika unterworfen hat. Leg dich nicht mit den Kondoren an, sage ich immer. Das sagt sogar mein ganzes Volk.«

»Oder aber Äthiopien und Liberia bewiesen Stabilität und ökonomische Tragfähigkeit, während sich kein Mensch um die kleine Insel weit draußen im Meer geschert hat?«

Aleko sah ein, dass die Lilahaarige eine viel zu ernst zu nehmende Diskussionsgegnerin war, als dass sie eine Diskussion verdient hätte. Am besten fuhr er ihr über den Mund.

»Warum stellst du Fragen, wenn du eh schon alles weißt?«

Johan kam nicht mit, worum es ging, war sich jetzt aber ganz sicher, dass Papa und Agnes verschiedener Meinung waren.

»Streitet ihr euch? Um was denn?«

»Frau Agnes hat sich als Expertin bei der Frage erwiesen, wie man ein Land regiert«, sagte Aleko. »Und jetzt will sie es mir beibringen.«

Johan, der überhaupt nichts mit Ironie anfangen konnte, war beeindruckt.

»Ach echt , Agnes? Ich hab gedacht, du bist Expertin fürs Bauen von Holzbooten? Oder waren es Holzschuhe?«

Die Fabrikantin im Ruhestand stärkte sich mit einem weiteren Schluck aus dem Glas mit amerikanischem Chardonnay, der dem Fisch zu gewissem Glanz verholfen hatte.

»Nein, ich hab nur ein wenig Onlinerecherche betrieben. Dein Vater regiert eins der ärmsten Länder der Welt mit einem Durchschnittsalter von achtzehn Jahren, hoher Kindersterblichkeit und fünfzig Prozent Analphabetentum. Der Haupterwerbszweig der Insel war die Forstwirtschaft, bis sämtliche Wälder abgeholzt waren, ohne dass jemand ans Aufforsten gedacht hätte. Seither ernähren sich die Menschen von Fischerei und Ackerbau, aber ohne die Bäume erodiert der Boden, die Wasserläufe verschlammen, und die Korallenriffe werden zerstört. Jeder Bootsbauer oder Holzschuhfabrikant würde das besser hinkriegen. Außer vielleicht mein Mann – der zum Glück auf einen Nagel trat und zu geizig war, zum Arzt zu fahren.«

Harte Worte. Aleko wusste nicht, wo ansetzen.

»Was heißt erodieren?«, fragte Johan.

Polizeichef Günther stieß wieder zu ihnen, nachdem er Angelika ins Bett und Pocahontas in den Stall gebracht hatte. Er spürte sofort die angespannte Stimmung.

»Was ist los?«, fragte er. »Ich dachte, wir wollten feiern?«

»Nichts«, sagte Aleko trotzig. »Außer dass diese Person hier, die so spitzenmäßig Holzschuhe machen kann, das Land von mir übernehmen und regieren will.«

Günther kannte seinen Freund und Seelenbruder gut.

»Na wunderbar«, sagte er. »Ich frag mich schon lange, wann wir es wohl mit einem Putschversuch zu tun bekommen. Der letzte ist sieben Jahre her, und da haben du und ich das ja in die Hand genommen, wenn mich nicht alles täuscht? Wenn du aufhörst, dich mit Wein zu bedudeln, lieber Bruder, und stattdessen zum Wodka zurückkehrst, wirst du bald wieder froh sein.«

Na, wenn das kein Präsidentenlächeln hervorzauberte! Und Wodka stand ja auf dem Tisch, also warum nicht?

»Du hast wie immer recht, Günther.«

Aleko schenkte sich ein und stieß auf Agnes an.

»Lasst uns froh und munter sein. Auf dich, liebe Holzschuhfabrikantin.«

Agnes war nicht nachtragender als nötig.

»Auf dich, liebster Diktator.«

***

Petra verließ bald darauf die Gesellschaft und den Tisch und suchte sich mit einem Rotweinglas in der Hand einen noch schöneren Liegestuhl im Garten unterhalb der Terrasse aus. Dazu mit dem ewigen Lächeln auf den Lippen. Da saß sie nun und zählte die Sterne am Himmelszelt. Aus noch drei Stunden wurden zwei dreiviertel. Bald nur noch zweieinhalb. Eine Serviererin kam vorbei und fragte, ob sie nachschenken dürfe. Petra bejahte und sagte, sie könne ihr ungefragt das leere Glas wieder auffüllen.

»Bis ans Ende aller Zeiten.«

Die Kellnerin nickte und tat, als hätte sie verstanden.