Fredrik war mehrere Tage vor Ablauf des genehmigten Sonderurlaubs wieder in Rom. Er hatte das nötige Beweismaterial, um Botschafter Guldéns Johan-Leidenschaft erkalten, nein, gefrieren zu lassen. Sie regelrecht abzuwürgen.
Aber es war alles so schnell gegangen. Er war mit Denken gar nicht mehr hinterhergekommen. Botschafter Guldén konnte Johan nicht nach Lust und Laune einen Posten zuschanzen. Über so etwas wurde in aller Form in Stockholm entschieden. Leider saß Fredriks Chef schon auf seinem vierten Botschafterposten und genoss hohes Ansehen im Außenministerium von Schweden. Wenn er den Entscheidungsträgern sagte, Johan wäre die Patentlösung, würde ihm niemand widersprechen. In Fredriks Augen war die Vorstellung, seinem Volltrottel von einem jüngeren Bruder unterstellt zu sein, unerträglich.
Ein unbeteiligter Beobachter hätte meinen können, Johans intellektuelle Stärken befänden sich andernorts als da, wo sie der schwedische Botschafter in Rom vermutete, und dass Botschafter Guldén – bekannt für sein gutes Urteilsvermögen – in diesem Fall Situation wie auch Person falsch eingeschätzt hätte. Aber Fredriks Maßnahmen gingen noch darüber hinaus. Denn selbst wenn Johan die objektive Antwort auf die Frage gewesen wäre, wie die Menschheit am besten zu Weltfrieden gelangte, gehörte er weg vom Fenster! Seinem großen Bruder wurde fast schwarz vor Augen bei der Vorstellung, dass irgendwo irgendeine Art von Frieden ohne seine, Fredriks, sondern mit Johans Beteiligung zustande käme.
Und dennoch:
Wenn Fredrik postwendend beim Botschafter reinstiefelte und ihm die Fotos auf den Schreibtisch legte, könnte Guldén auf die Frage verfallen, was er in Afrika zu suchen gehabt habe. Er hatte sich ja freigenommen, um seinen im Sterben liegenden Vater in Montevideo zu besuchen, auf einem ganz anderen Kontinent.
Weder konnte er Guldén seine Beweise direkt vorlegen noch verfrüht wieder zum Dienst erscheinen; es gab ja gewisse Tempogrenzen beim Kontinent-Hopping, besonders wenn man sein emotionales Engagement für das gesundheitliche Befinden eines nächsten Angehörigen demonstrieren wollte. Nach Uruguay zu fliegen, seinem im Sterben liegenden Vater Hallo und Tschüss zu sagen und auf dem Absatz kehrtzumachen, ließ nicht auf übersteigertes Mitgefühl schließen.
Der empathielose Fredrik Löwenhult war sehr auf seinen Ruf als empathischer Mensch bedacht. Alle Überlegungen endeten damit, dass er ein paar Tage hinter zugezogenen Jalousien in seiner Wohnung in Rom blieb. Dabei allerdings nicht untätig. Er legte einen Instagram-Account an mit Namen Der kondorische Bluff .
Im Eiltempo veröffentlichte er Bild um Bild vom erbärmlichen Flugplatz in Monrovi und verglich sie mit den Bildern, die der Präsident des Landes der Afrikanischen Union, dem UN -Generalsekretär und dem amerikanischen Präsidenten Obama präsentiert hatte. Besonderen Spaß machte es ihm, den Text zu jedem Bild zu verfassen:
Präsident Aleko galt in der Union schon immer als Witzfigur. Seit er sich einen neuen Außenminister zugelegt hat, Johan Löwenhult, steht es nicht nur schlimm, sondern grottenschlecht um ihn. Verlässlichen Quellen zufolge ist Johan strohdumm. Der Präsident und der Idiot haben sich zusammengetan, um einen ganzen Kontinent zu täuschen. Ach was, die ganze Welt!
Nach vier, fünf Bildern und ebenso vielen Texten legte der anonyme Account des dritten Botschaftssekretärs damit los, so vielen Zeitungen, Fernsehsendern, Politkommentatoren und privaten Meinungsverkündern wie möglich zu folgen. Daraufhin taten es ihm Hunderte höflichkeitshalber im Gegenzug gleich, aus Neugier oder reiner Unachtsamkeit. Damit hatte Fredrik sein Publikum erreicht. Die Wahrheit über den alles andere als vorzeigbaren Flughafen der Kondoren verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
***
Die goldene Herbstsonne schien auf Zürich. Alles war startklar.
Agnes, Aleko, Johan, Petra und Herbert von Toll saßen an einem Außentisch eines Cafés in der Nähe der Bahnhofstraße. Agnes und Herbert, glücklich über das Wiedersehen, fanden das Leben so lebenswert, dass sie sich je ein Glas Weißwein bestellten, während der Rest der Gruppe sich mit Kaffee zufriedengab. Agnes hatte ihr Tablet aufgeklappt.
»Ich klick jetzt auf den Button, okay?«, sagte sie.
Die anderen nickten.
Eigentlich klickte sie auf mehrere Knöpfe. Das Projekt Weltuntergang ging auf drei Social-Media-Plattformen gleichzeitig an den Start; jeweils mit Link zu einer Homepage mit glaubwürdigem Content. Und mit einem Angebot, dem man schwer widerstehen konnte, wenn man mindestens hundert Dollar übrig hatte. Gerne auch mehr.
Nachdem Agnes einmal tief aus- und eingeatmet und den Ball ins Rollen gebracht hatte, prostete sie Herbert mit ihrem Weinglas zu und sagte: »May the force be with us.«
»Star Wars«, sagte Johan. »Der erste Film 1977, der zweite 1980, der dritte 1983. Allerdings heißt es you und nicht us . Aber macht euch nichts draus.«
Agnes begann, darüber nachzudenken, warum Johan bei Essen, Trinken und amerikanischen Filmen über so detaillierte Kenntnisse verfügte und gleichzeitig von allem anderen null Ahnung hatte, aber für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit. Sie saß, das Tablet vor der Nase, dicht neben Herbert, der wiederum direkt mit der Bank vernetzt war.
»Fünfhundert sind schon reingekommen«, sagte er.
»Fünfhundert Dollar in wenigen Minuten«, sagte Präsident Aleko schwer beeindruckt.
»Fünfhundert Wetten. Fünfundneunzigtausend Dollar. Jetzt hunderttausend. Hundertachtzig.«
Während das Geld nur so hereinprasselte, fummelte Johan an seinem Smartphone herum. Er wusste, dass man darauf Nachrichten bekommen konnte, wenn man es richtig anstellte. Aber wie ging das noch gleich wieder? Papa Aleko hatte ihn gebeten, die Nachrichtenströme im Blick zu behalten. Am besten wäre es, wenn das Weltuntergangsprojekt von USA Today und CNN aufgegriffen würde.
Aleko wusste, dass es woanders auf der Welt, etwa in Japan und Indien, größere Medienkonzerne gab, aber nirgends sonst gab es so viele amerikanische Dollar wie in den USA . Vermutlich hatten die Medien von der Weltuntergangsnachricht noch keinen Wind bekommen, aber …
»Guck mal«, sagte Johan. »Wie lustig!«
Er hatte etwas anderes gefunden, einen ganz aktuellen Zeitungsartikel – mit Bild! –, der in der Daily Sun in Johannesburg erschienen war.
»Der kondorische Bluff?«
Das Foto war im Niedrigflug über dem Aéroport Aleko International aus einem reflektierenden Hubschrauberfenster aufgenommen worden. Den Text hatte der Auslandskorrespondent der Zeitung geschrieben, der erst vor wenigen Tagen in Addis Abeba dabei gewesen war und mit eigenen Augen gesehen plus mit eigenen Ohren gehört hatte, wie Präsident Aleko vom Neuaufbau seines Landes berichtet und Aleko International in ganz anderem Zustand präsentiert hatte, als das Foto nun verriet. Jetzt warf der Reporter die Frage auf, ob der kondorische Präsident den restlichen Kontinent nicht ein weiteres Mal nur an der Nase herumgeführt hatte. Worauf eine anonyme Enthüllungsstory auf Instagram schließen ließ.
Aleko war entsetzt, während die Einnahmen ungefähr gleichzeitig die Zwei-Millionen-Dollar-Marke überstiegen.
Wie hatte Johan das gerade genannt? Komisch?
»Was genau soll daran so lustig sein?«, sagte der Mann, der gerade wieder zum Arschloch mutierte.
Und diesmal gab es kein Zurück mehr.
»Siehst du das Grüne, das sich im Fenster spiegelt?«
Johan hatte etwas auf dem Foto entdeckt, das den anderen entgangen war.
»Ja?«
Bei genauem Hingucken konnte man die Hand des Fotografen erahnen. Das Smaragdgrüne war das Gehäuse einer Rolex Oyster Perpetual.
»Genau so eine Uhr hat mein Bruder Fredrik.«
»Von deinem Geld gekauft«, sagte Petra.
***
Das gemütliche Wein- und Kaffeestündchen inklusive Launch des Weltuntergangsprojekts ging in eine Krisensitzung über. Diejenigen am Tisch, die klar denken konnten, vertraten die Hauptthese, dass Johans Bruder Fredrik hinter ihnen her war. Und dass er im Kampf nach Punkten führte.
Agnes kam in der Realität ja ebenso lässig zurecht wie in den sozialen Medien. Sie sagte, das sei überhaupt keine Katastrophe. Und müsse auch zu keiner ausarten.
»Wie das?«, sagte Aleko. »Der Flugplatz sieht doch einfach scheiße aus!«
»Auf Fredriks Bildern schon. Aber nicht auf unseren.«
»Der Unterschied ist, dass seine echt sind, nicht?«
Agnes lachte auf.
»Was hat das damit zu tun?«
Währenddessen pusselte Herbert weiter vor sich hin. Er steckte tief im Finanzsystem der Bank von Toll.
»Was machst du?«, wollte Petra wissen.
»Ich hab in unserer Kundenkartei gesucht. Als ihr den Namen Fredrik Löwenhult gesagt habt, hat es bei mir geschnackelt. Er ist im Sommer bei uns Kunde geworden und wollte, dass wir vierundsechzig Millionen schwedische Kronen bestmöglich verwalten. Die stehen jetzt schon bei siebenundsechzig. Papa ist nicht nur alt und fies, sondern versteht auch was vom Geschäft.«
»Vierundsechzig Millionen«, überlegte Petra laut. »Dann hat er für die Immobilie etwas mehr gekriegt, als wir vermutet haben.«
»Deute ich die Stimmung in der Gruppe richtig, dass wir soeben unseren Geldesel gefunden haben?«
»Geldesel?«, sagte Johan.
»Still jetzt«, sagte Agnes.