74. KAPITEL
Letzter Arbeitstag eines Bankdirektors

Die Freunde hatten so viel zu tun, da kamen sie gar nicht groß zum Nachdenken darüber, dass plötzlich der 18. Oktober 2011 war, 21.20 Uhr (und die Welt ihren Untergang ein weiteres Mal verbockte), und gleich darauf einen Tag später, 16.00 Uhr, wobei nicht ein einziger Wettspieler sein Geld zurückbekommen hatte.

Dagegen hatte eine große (große! ) Anzahl Menschen auf der ganzen Welt die Zeit im Blick. Bald hagelte es bei der Polizei auf sämtlichen sieben Kontinenten Anzeigen gegen einen gewissen Professor Smirnoff, darunter zwei Anzeigen aus der Antarktis.

Interpol in Lyon sammelte alle diese Anzeigen und kontaktierte routinemäßig das regionale NCB , in diesem Fall die Fedpol in Bern, wegen des Verdachts auf Betrug in Multimillionenhöhe. Das genaue Ausmaß ließ sich noch nicht absehen, doch die Zahl der Anzeigen hatte binnen kurzer Zeit die Zwanzigtausendermarke passiert und ging auf die dreißigtausend zu.

Zwei Schweizer Spezialagenten, ein Mann und eine Frau, machten sich nach Zürich auf, um bei der Bank vorbeizuschauen, die als Beteiligte am Betrug identifiziert worden war.

Sie klopften. Sie klingelten. Und klopften abermals.

Nach einer Weile erschien ein sehr alter Mann hinter der Panzerglastür. Mit einem Kopfschütteln gab ihnen der Alte zu verstehen, dass er nicht zu öffnen gedenke.

»Hören Sie mich?«, rief der Spezialagent mit lauter Stimme durch die Tür.

»Nein«, antwortete Konrad von Toll.

Der Spezialagent wurde noch etwas lauter. Erzählte, wer er war und woher er kam. Und stellte die Kollegin neben sich vor.

Der Greis blieb eisern. Machte nicht auf. Da zog die Frau ein Dokument aus der Innentasche. Durch die Glasscheibe zeigte sie einen ausgestellten Durchsuchungsbeschluss.

Als auch das nichts half, wurden beide Agenten noch einen Tick lauter und verkündeten, dass die Bank kurz vor dem Entzug ihrer Banklizenz stehe.

Das saß. Der Alte öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte er.

»Vermutlich alles«, sagte der Mann. »Wir sind Spezialagenten von der Fedpol Bern. Möchten Sie uns nicht vielleicht auf eine Tasse Kaffee hereinbitten? Es gibt einiges zu besprechen.«

Das konnte Konrad von Toll nun nicht gerade. Der sich um die Kaffeemaschine kümmerte, war nämlich durchgebrannt.

»Darf es ein Whisky sein?«

Die Spezialagentin, die IT -Spezialistin war, umrundete Firewalls wie nichts. Zu Konrad von Tolls größtem Entsetzen saß sie jetzt vor einem Monitor und blickte direkt ins Allerheiligste der Bank. Konrad bemerkte, dass ihr Kollege seinen Whisky nicht angerührt hatte, während sein eigener schon längst geleert war. Der Agentin hatte er keinen angeboten; in Konrad von Tolls Welt tranken Frauen nichts Hochprozentiges.

»Möchten Sie Ihr Glas nicht, Herr Spezialagent?«, sagte er zu dem, der nicht mit der Nase am Monitor klebte.

»Nein danke. Aber bitte bedienen Sie sich. Wär doch schade drum, wenn der Whisky umkäme.«

»Meinen hätten Sie auch haben können«, sagte die Spezialagentin, ohne die Augen von dem Computer abzuwenden. »Wenn ich einen angeboten bekommen hätte.«

Bankdirektor von Toll kippte prompt den Drink des Polizisten hinunter, entschuldigte sich aus strategischen Gründen bei der Frau und schenkte auch ihr einen ein.

»Danke«, sagte sie. »Sehr freundlich. Ich werde mir jetzt Ihr Logfile ansehen. Hier steht mein Glas, wenn Sie das zu arg mitnimmt.«

In der Logdatei war ersichtlich, dass im Lauf der letzten Wochen über eine halbe Milliarde amerikanische Dollar auf einem Sperrkonto bei der Bank von Toll eingegangen waren. Ebenfalls zu sehen, der aktuelle Kontostand: dreihundertzwanzig Dollar.

»Wären Sie wohl so freundlich, dieses Konto für mich freizuschalten, Herr von Toll?«

Der Sechsundneunzigjährige war verzweifelt. Jeder Nerv in seinem Körper schrie, dass niemand – niemand!  – auf die Art an seine Konten herandurfte. Und in diesem Fall nicht mal er selbst, denn es war der verschwundene junge Großkotz, der es sowohl eingerichtet als auch gesperrt hatte.

»Nein!«, sagte er. »Ich verbiete es. Das heißt, ich kann nicht. Das heißt, ich will nicht. Bitte sagen Sie mir, was los ist.«

»Das sollten wir wohl eher Sie fragen, Direktor von Toll«, sagte der Spezialagent. »Ein ungeschultes Auge könnte auf den Gedanken kommen, dass Sie sich des schweren Betrugs schuldig gemacht haben. Aber Sie haben ja bestimmt eine Erklärung für uns, nicht wahr?«

Der Sechsundneunzigjährige hatte sich nicht mehr so in der Bredouille gefühlt, seit er irgendwann in den späten Dreißigerjahren erfahren hatte, dass die zeitweilige Zerstreuung, mit der er sich ein einziges Mal eingelassen hatte, schwanger geworden war. Er schnappte sich auch den Whisky der Frau und stürzte ihn hinunter. Drei rasche Gläschen als Zugabe zu den üblichen zwei am Morgen. Wurde allmählich etwas viel. Doch das letzte Glas flößte ihm Mut ein.

»Der Bank von Toll geht nichts über die Integrität ihrer Kunden«, sagte er. »Sie müssen schon entschuldigen, Herr Spezialagent und … meine Dame …, aber …«

Weiter kam er nicht.

»Mit Verlaub, es ist rein theoretisch durchaus möglich, eine weibliche Spezialagentin zu sein«, unterbrach ihn die IT -Expertin. »Und gesetzeskundig obendrein, ob Sie es glauben oder nicht.«

Sie kannte die Gesetzestexte diverser Länder mehr oder weniger auswendig und pickte sich einen aus der Masse heraus, um den Alten vor sich aufzurütteln.

»›Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren.‹ Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Direktor von Toll.«

Möglich, dass Konrad von Toll auf sie hörte und es sich hinter die Ohren schrieb. Vielleicht kam er aber auch nicht mehr dazu, weil sein Herz nach sechsundneunzig anstrengenden Jahren mit Schlagen aufhörte. Der Blutkreislauf kam ins Stocken, und alle Organe – so auch das Hirn – wurden von akutem Sauerstoffmangel befallen. Der Sechsundneunzigjährige kippte vornüber auf seinen Schreibtisch, mit dem Kopf auf die amerikanische Rechenmaschine, die er schon seit Jahren nicht mehr benutzt hatte und die ihren Platz als ein Denkmal vergangener Zeiten behauptete. Da Konrad von Tolls ganzer Körper seinen Dienst bereits eingestellt hatte, machte die Stirn auf der Rechenmaschine auch nichts mehr.

»Verfluchte Scheiße!«, sagte der Spezialagent. »Gibt es hier irgendwo einen Defi?«

»Hätte er nicht warten können, bis er uns das Konto entsperrt hätte?«, sagte die Spezialagentin mit dem Gefühl, dass ein Whisky in dem Moment gar nicht so verkehrt gewesen wäre.

Es dauerte eine volle Stunde, bis ein Arzt zur Stelle war, um das festzustellen, was allen klar war, woraufhin der Leichnam abtransportiert werden konnte. Unterdessen kämpfte die Spezialagentin mit ihrem Problem. Genau zum richtigen Zeitpunkt, als sie mit dem Kollegen wieder allein war, hatte sie es gelöst. Sie war endlich im Konto drin. Fünfhundertvierzehn Millionen Dollar waren vor wenigen Tagen auf die Kondoren transferiert worden. Und zwar nach einer Konversation zwischen dem Kontoinhaber, einem Fredrik Löwenhult in Rom, und einem noch unbekannten Empfänger.

»Ich ruf Italien an«, sagte der Kollege der IT -Expertin.

***

Spezialagent Sergio Conte wurde ein Wochenende auf Sizilien gewährt, als die Lage sich endlich beruhigt hatte, einige Zeit nachdem es Agnes Eklund geglückt war, bei einem Zusammenstoß zwischen einem Auto und einem Pferdewagen zu Tode zu kommen. Conte, der selbst daran glaubte, erreichte mit großem Einsatz eine gewisse Akzeptanz bei den bissigen Anwälten von Bvlgari und LVMH , während sich der Vorsitzende des Fliegenfischereivereins nicht so leicht abspeisen ließ.

Und das verfluchte Internet war offenbar gekommen, um zu bleiben. Jetzt halste man ihm einen Multimillionen-Betrugsfall in einer Schweizer Bank auf. Mit einem in Rom stationierten schwedischen Diplomaten als Hauptverdächtigen. Der das gesamte geklaute Geld offenbar weitergeschickt hatte, und zwar nach …

Sergio Conte seufzte tief.

»Immer diese Kondoren.«

***

Gut zehntausend Kilometer weiter südlich verfolgte Herbert von Toll die Arbeit der IT -Expertin an seinem eigenen Laptop. Wer das war, wusste er nicht, aber auf jeden Fall verstand er oder sie etwas von der Sache.

»Ich glaube, jetzt haben sie unseren Geldesel gefunden«, sagte er nach einem entscheidenden Durchbruch. »Mein Vater hatte mittlerweile bestimmt einen Herzinfarkt.«

In den ersten fünfzig seiner insgesamt einundsechzig Jahre im Dienste seines Vaters war es Herberts Hauptaufgabe gewesen, das Büro sauber und die Kaffeemaschine in Schuss zu halten sowie die Zigarrenschublade aufzufüllen und für Nachschub im Whiskyschrank zu sorgen. Mit der Digitalisierung hatte Konrad von Toll den Verantwortungsbereich des Sohnes notgedrungen ein Quäntchen erweitert. Im folgenden Jahrzehnt hatte Herbert Fähigkeiten entwickelt, die weit über den Verstand des Alten hinausgingen.

Jetzt hatte er Fredrik Löwenhults Namen und Nummer in einer hochanspruchsvollen Verschlüsselung versteckt, die sich dem Anschein nach unmöglich knacken ließ. Und doch war Herbert sich sicher, dass Interpol soeben genau das vor seinen digitalen Augen getan hatte. Damit sah er eine Theorie bestätigt, die er schon eine Weile mit sich herumtrug.

»Diffie Hellman«, sagte er selbstzufrieden vor sich hin.

»Das musst du näher erklären«, sagte Petra.

»Willst du die kurze oder die lange Version?«

»Ich hab keine Eile.«

Herbert und auch sein Vater Konrad waren gar nicht gut auf die Einheitsfront europäischer Regierungen zu sprechen, auf die OECD und am allerschlechtesten auf die USA . Gemeinsam waren die allesamt feste dabei, die Bankenpforten per Gesetz aufzubrechen, sodass Zehntausende erfahrener Steuerflüchtlinge endlich ins Schwitzen kamen.

Aber Herbert erkannte auch, dass das Schweizer Bankgeheimnis noch von anderer Seite bedroht war. Mehrere Schweizer Finanzjongleure hatten erst kürzlich zwischen fünf und fünfzehn Jahren aufgebrummt bekommen für Sachen, mit denen sich jede Schweizer Bank mit dehnbarer Moral befasste. Herbert grübelte lange darüber nach, warum die einen damit durchkamen und die anderen nicht.

Nach monatelangem Grübeln gelangte er zu dem Schluss, dass die NSA und Interpol mehr wussten, als die Finanzjongleure ihnen zutrauten. Die Banken gaben ausnahmslos beträchtliche Summen zur Sicherstellung aus, damit keine Unbefugten (einschließlich der OECD ) in ihre Systeme eindringen konnten. Zugleich musste es Inputs und Outputs geben, denn wie sonst sollte das lichtscheue A mit dem ebenso lichtscheuen B interagieren? Die Lösung lautete Schlüsselaustausch . Oder ein hoch entwickeltes Kryptosystem. Die Banken verwendeten unterschiedliche Lösungen für den gleichen Zweck. Allerdings fand der Papierkorbleerer und Kaffeemaschinenbetreuer Herbert schließlich vor allen anderen heraus, dass die Jongleure, die erwischt worden waren, ein und dieselbe einbruchsichere Schlüsselaustauschmethode benutzten.

Diffie Hellman.

Unglaublich, dass die NSA und Interpol das Diffie-Hellman-Protokoll überlistet haben sollten. Ebenso gut hätte jemand in Fort Knox, wo die USA ihre Goldreserven verwahrten, ein und aus gehen können. Aber falls sie wirklich Diffie Hellman überlistet hatten, brauchten sie bloß ins System einzusteigen, um Dialoge und Vereinbarungen, die sich hinter Passwörtern mit mindestens fünfundzwanzig Zeichen versteckten, zu lesen.

Herbert kam zu zwei Schlüssen:

  1. In die Schlüsselaustauschmethode Diffie Hellman konnte man unmöglich eindringen.
  2. Die NSA und Interpol waren dahintergekommen, wie man das Unmögliche möglich machen konnte.

Bislang hatte die Bank von Toll Diffie Hellman nicht benutzt, aber Herbert setzte das nun sofort in die Tat um. Anschließend erfand er die fiktive Person X, die er an vermeintlich unerreichbarer Stelle platzierte, in diesem Fall in der Banque Condorienne. Die Person Y musste er nicht mal erfinden. Fredrik Löwenhult war kürzlich von Schweden nach Italien gezogen – und hatte die Bank von Toll in Zürich als Verwalter eines hübschen Millionensümmchens gewählt. Schlau von ihm, aber dann auch wieder nicht, als nämlich Herbert X eine Nachricht an Y (also an Fredrik) schicken ließ mit dem Code zum innersten Kern des angeblich einbruchsicheren Sperrkontos bei der Bank von Toll. Wenn Diffie Hellman nur genug Primzahlen verwendet hätte, hätte das Knacken des Codes eine halbe Ewigkeit gedauert. Aber in dem Punkt waren sie nachlässig gewesen. Zum Vorteil von NSA und Interpol.