Wie sich herausstellte, waren Malte und Petra noch eindeutiger füreinander geschaffen, als sie hatten ahnen können. Hinsichtlich der Zukunft des Planeten waren sie zum selben Schluss gekommen, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen.
Kurz nachdem sie die fünfzehn Jahre aufgeschobene Liebesbeziehung in Maltes Schlafzimmer besiegelt hatten, beichtete Petra ihm die Wahrheit. Sie ertrug es nicht, Geheimnisse vor ihrem Liebsten zu haben.
Die schlechte Nachricht war, dass sie keine fünf Jahre mehr miteinander hatten, weil dann alles zu Ende ging. Die gute, dass sie dank eines einfachen Rechenfehlers ihrerseits fünf Bonusjahre, anstelle von gar keiner Zeit mehr, geschenkt bekamen, einschließlich der soeben gemeinsam verbrachten Nacht.
Malte ging felsenfest davon aus, dass Petra diesmal richtig gerechnet hatte, sie hatte ja schon in der Oberstufe fast immer alles richtig gehabt. Obwohl natürlich die Konkurrenz im Klassenzimmer nicht besonders groß gewesen war. Sicher wusste er nur nicht, ob die Welt überhaupt die Gelegenheit zum Untergang bekam, da sie ja ohnehin unterging.
Petra fragte bescheiden an, was er damit meine.
Denn der Golf und Baseball spielende Malte war nämlich hauptberuflich Betriebswirtschaftler. Als solcher hatte er eine Scheißarbeit in einem Scheißbetrieb und fühlte sich dort keine Sekunde wohl. Doch da er der Arbeit nicht mehr Zeit als unbedingt nötig widmete und sich schließlich dazu überwunden hatte, Vicka rauszuschmeißen, hatte er Gelegenheit zum Nachdenken gehabt.
»Keine Ahnung, ob es wirklich bloß fünf Jahre dauert, aber dass alles den Bach runtergeht, da bin ich mir sicher.«
Malte zufolge war der Kapitalismus, den er stets mit offenen Armen empfangen hatte und dem er zugetan gewesen war, auf bestem Wege, den ganzen Planeten zu zerstören. Die Lohnungleichheit in den USA befand sich auf dem gleichen Niveau wie beim Börsenkrach an der Wall Street im Oktober 1929. Er sagte eine ähnliche Entwicklung für Schweden und den Rest der Welt voraus. Auf die Kommunisten Marx und Engels gab er nicht viel, aber sie hatten zumindest die Vision gehabt, dass sich die Massen mit Blick auf ein höheres Ideal vereinigten. Jetzt hieß es irgendwie jeder gegen jeden, und alle gaben den anderen die Schuld.
»Wer gibt wem die Schuld woran?«, fragte Petra, die sich Sorgen machte, die Welt könne auf Maltes Art untergehen und sie nicht ein für alle Mal recht behalten.
Der frisch gebackene feste Freund verhedderte sich in einem psychologisch-ökonomischen Gedankengang, den er selbst nicht mehr so recht durchschaute. Aber offenbar hatte das Apartheidregime in Südafrika vor ein paar Jahrzehnten Spaltung gesät, indem es an schwarze Gefängnisinsassen drei Fleischklößchen zum Mittagessen austeilte und an farbige fünf. Damit hatte die weiße Herrschaftsschicht die Bevölkerungsmehrheit gespalten, die sich sonst womöglich zusammengetan hätte.
»Fleischklößchen?«, sagte Petra.
Ihrer Meinung nach hörte sich das eher schwedisch als südafrikanisch an.
»Oder Kartoffeln. Weiß ich nicht mehr genau.«
Malte wollte darauf hinaus, dass sich der vorherrschende Schuldzuweisungsmodus in rasendem Tempo ausbreitete. Schwarz gegen Weiß, Mittelschicht gegen Mittellose, Einheimische gegen Einwanderer, links gegen rechts, rauf gegen runter, hier gegen dort und die Reichen gegen den Rest der Welt. Er beteuerte, er sei ein Freund der Marktwirtschaft, doch durch das vorherrschende globale Jeder-gegen-jeden-Denken laufe sie gerade aus dem Ruder.
»Wenn niemand dem Kapitalismus einen Dämpfer verpasst, ist es bald mit allem aus«, sagte er.
Mit einem Schlag fühlte sich Petra ruhiger. Malte hatte nur ein bisschen zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ihr wissenschaftlicher Weltuntergang würde garantiert vor seinem emotionaleren stattfinden. Im Unterschied zu ihrer kollabierten Atmosphäre hatte der Kapitalismus außerdem schon immer nötigenfalls die Fähigkeit zum Umdisponieren besessen.
Doch noch immer rumorte die etwas bodenständigere und konkrete Sorge in ihr, wie Malte wohl reagieren würde, wenn sie ihm ihre ganze Geschichte erzählte.
»Kann ich dir eine hypothetische Frage stellen?«
»Selbstverständlich, Liebling.«
»Stellen wir uns mal rein hypothetisch vor, wir würden die Russenmafia um … sagen wir … eine halbe Milliarde Dollar prellen …«
Ihr Freund kicherte.
»Dann würde die Russenmafia wohl ziemlich wütend werden.«
Petra wand sich. Wollte sich nicht unterbrechen lassen.
»Rein hypothetisch, wie gesagt. Würdest du das als eine schreckliche Tat ansehen, die uns alle dem Untergang näher bringt?«
Malte liebte seine Petra wirklich. Was für eine interessante Frage! Wenn er an all die Jahre mit Victoria dachte, in denen er seine kleinen grauen Zellen fast überhaupt nicht anstrengen musste! Jetzt ging es darum, hochmoralische Haltung zu wahren.
»Wir gehen ja wahrscheinlich davon aus, dass die Mafia das Geld einfachen Leuten abgeknöpft hat«, überlegte er laut. »Solange wir etwas Gutes für die tun … ja, dann helfen wir der Welt doch eher, als dass wir ihr schaden, oder?«
Petra nickte. Etwas Gutes hörte sich vernünftig an. Aber wo zog man die Grenze?
»Käsefabrik in den USA . Superleckerer Käse! Hunderte neue Arbeitsplätze. Gute Arbeitsbedingungen. Was sagst du dazu?«
***
Petra blieb bei Malte im Vorort, während der ehemalige Aleko und der ehemalige Johan die Verhandlungen mit Direktor Granlund und halb Burträsk zum Abschluss brachten.
»Wegen mir keine Eile«, gab sie ihnen Bescheid.
Es kostete auch Zeit, ehe die endgültigen Dokumente feierlich im Grand Hôtel, Stockholm, unterzeichnet werden konnten. Zum Multimillionen-Abschluss gehörte ein ganzes Frachtschiff mit der speziellen Erde der Gegend um Burträsk. Sicherheitshalber auch zweihundert Kühe, denn der amerikanische Västerbotten-Käse sollte dem Original ja so weit wie möglich ähneln. Granlund ließ auch in den Vertrag aufnehmen, dass die amerikanische Variante in ihrem Markenzeichen die beiden Pünktchen über dem zweiten Buchstaben weglassen musste. Dadurch bereitete es ihm weniger Kopfschmerzen, dass die Kopie eventuell nicht ganz das Niveau des Originals erreichen könnte.
Doch vor allem hatten sich die Vertragspartner an Paragraf 4.9 zu halten: Falls nämlich die Amerikaner die Malteser, die Erde und die Kühe nicht einreisen ließen, wurde aus der ganzen Sache nichts.
An dem Unterpunkt arbeitete Agnes parallel. Sie meldete sich bei dem amerikanischen USCIS (United States Citizenship and Immigration Services) und stellte sich als Repräsentantin eines fortschrittlichen maltesischen Lebensmittelherstellers mit weit gediehenen Plänen vor, der sich in Randolph, Vermont, niederzulassen gedenke, wofür fürs Erste ein Budget von neunzig Millionen Dollar und hundertachtzig örtliche Mitarbeiter eingeplant seien.
Da die fragliche Fläche in Randolphs direktem Umland bisher aus nichts als Äckern, vereinzelten Häusern, einer Straßengabelung, einer Tankstelle und einem stillgelegten Lebensmittelgeschäft bestand, nahm die Einwanderungsbehörde den Antrag positiv auf und versprach eine zeitnahe Bearbeitung. Im Paket enthalten waren Green Cards für sechs stolze EU -Bürger (von denen fünf kürzlich ihren Namen geändert hatten. Der sechste, Malte Magnusson, konnte weiter so heißen wie gehabt).
»Bist du dir sicher, dass du mitkommen möchtest, Liebling?«, sagte Petra eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück. »Wir haben ja … ich meine, es sind ja bloß noch ein paar Wochen … na ja, es ist schließlich eine weitreichende Entscheidung … also wegen Interpol, der Mafia und allem.«
Malte antwortete, er sei sich noch nie im Leben bei irgendwas sicher gewesen. Jetzt schon.
***
Die USCIS konnte man nicht mit Dollars, Autos oder anderem bestechen. Eine Zeit lang verlangten sie täglich eine ergänzende Angabe. Jede einzelne Kuh brauchte ein tierärztliches Gesundheitszeugnis. Die Erde musste im amerikanischen Hafen in Quarantäne verbleiben, bis genügend Proben genommen und analysiert waren. Zudem brauchten die Behörden Gewährleistungen und enorme Hinterlegungssummen. Der Beton, sämtliche Transportfahrzeuge und vierzehn weitere aufgelistete Produkte mussten regional beschafft und eine kleine, dreiköpfige Wachmannschaft vom Antragsteller finanziert werden.
Agnes stimmte allem und noch etwas mehr zu. »Vielleicht würde eine fünf köpfige Wachmannschaft allen ein größeres Sicherheitsgefühl geben?«
Nach zwei Monaten kam der Bescheid.
Herzlich willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika .
»Hättet ihr mich bloß Obrama ohne R anrufen lassen, dann wäre das in einer Viertelstunde erledigt gewesen«, sagte Johan.
Derjenige, welcher nicht mehr so hieß, wie er hieß, weil er seinen Geburtsnamen nicht mehr verwenden konnte, war gerührt.
Aleksandr Kowaltschuk war der Sohn eines Müllabfuhrgenerals im Süden der Sowjetunion. Durch die gegebenen Umstände hatte er als Erwachsener das ganze riesige Land zum Erliegen gebracht. Woraufhin er in Boris Jelzins Russland so viele einander widersprechende Steuergesetze einführte, dass fast sämtliche korrupten Subjekte weit und breit seinen Kopf auf einem Silbertablett sehen wollten.
Unter dem Namen Aleko startete er eine neue Laufbahn auf einer Insel im Indischen Ozean. Das klappte so gut, dass er sich wenig später ganz an die Spitze des Landes setzte. Nachdem er der Sowjetunion den Todesstoß versetzt und sich in Russland unmöglich gemacht hatte, brachte er ganz Afrika gegen sich auf. Bis auch das nicht mehr ging. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als der am meisten gefürchteten Mafia der Welt eine halbe Milliarde Dollar und fünf Millionen Wettspielern noch mal den gleichen Betrag abzuluchsen.
Aus Aleksandr Kowaltschuk wurde Präsident Aleko wurde Herr Kevin Church. Jetzt wollte er den dritten Kontinent in ebenso vielen Jahrzehnten in Angriff zu nehmen.
»America, here we come!« , sagte er.
Wenn Papa zufrieden war, war Johan es auch.
»This is America, babe, you gotta think big to be big.«
»Wie, was?«, erwiderte Aleko.
»Christopher Walken in einem Film, hab vergessen, wie der heißt. Aber an alles andere kann ich mich erinnern. Meisterkoch und Genie. Und Cineast. That’s me! «