Hör ich das Liedchen klingen,
Das einst die Liebste sang,
So will mir die Brust zerspringen
Vor wildem Schmerzendrang.
– Heinrich Heine
D
ie Geschwister halten sich an den Händen und starren auf die tosende Brandung zu ihren Füßen. Das Mädchen, hoch aufgeschossen, schlaksig, am Übergang vom Kind zum Teenager. Der Junge kräftig, muskulös – das kommt von dem vielen Sport. Fußball ist seine große Leidenschaft, aber er stemmt auch Gewichte und hat einen Freund, der mit ihm ein bisschen Kampfsport trainiert. Haltegriffe, Fallübungen, Blocken, Schlagen. Das macht ihm Spaß, schon als kleiner Junge wollte er immer ein Ninja sein, der anonyme, dunkle Rächer der Schutzlosen, versteckt hinter einer schwarzen Maske. Katzenhafte Bewegungen, so schnell, dass ihn niemand je erwischen kann. Inzwischen sind diese Kinderspiele natürlich längst nichts mehr für ihn, oder zumindest würde er nie zugeben, dass er manchmal noch denselben Traum hat. Den vom maskierten, katzenhaften Rächer.
Einmal hat der Junge das Mädchen zum Kampfsporttraining mitgenommen, aber die hat das schon nach ein paar Minuten langweilig gefunden, sich ins Gras gehockt und ihre Füße angestarrt. Ihr ist oft langweilig, und dem Jungen gehen langsam die Ideen aus, womit er seine Schwester noch unterhalten soll. Wenn ihr langweilig ist, wird sie oft traurig und wenn sie traurig ist, stellt sie manchmal merkwürdige Dinge an. Beängstigende Dinge. Einmal hat er sie ertappt, wie sie mit einer von Vaters Rasierklingen vor dem Badezimmerspiegel stand, die Rasierklinge tief in die weiche Haut auf der Innenseite ihres Unterarms gedrückt, fasziniert von dem kleinen, tiefroten Rinnsal, das sich dort bildete. Tiefrote Tropfen, die fallen und auf dem Porzellan des Waschbeckens zerplatzen. Plitsch, platsch! – wie rote Tränen. Dabei hatte sie dieses abwesende Lächeln gelächelt, er hat es im Spiegel gesehen. Es hat ihm Angst gemacht.
Früher, aber das ist jetzt schon viele Jahre her, da waren sie noch kleine Kinder, haben sie manchmal auch hier gestanden, auf dem Felsen über dem Meer und Vater hat ihnen gezeigt, wie man eine Muschel ans Ohr halten muss, um darin das Rauschen des Meeres zu hören.
Die Muschel erinnert sich auf diese Weise an das Meer, aus dem sie kommt, hat Vater gesagt. Sie hat so viel Zeit darin verbracht, dass sie das Rauschen der Wellen nie wieder vergessen kann. So ist es auch mit der Familie, man darf nie vergessen, woher man stammt. Vermutlich hat er gelogen, und das Rauschen hat einen ganz anderen Grund. Es ist trotzdem ein schönes Bild, das die Muschel immer noch an das Meer denken muss und vielleicht mit ihm spricht, in seiner ganz eigenen Sprache.
Vielleicht hätte der Junge seiner Schwester damals die Rasierklinge wegnehmen und ihre selbst zugefügte Wunde behandeln sollen, aber irgendwas hat ihn aufgehalten. Irgendwas hat dafür gesorgt, dass er die Tür leise wieder zudrückte und sich auf Socken davongeschlichen hat. Vielleicht war es Angst – Angst vor dem, was seine Schwester sich da antat. Angst vor dem, was aus ihr werden würde, wenn sie so weitermachte – dass sie werden würde wie die Muschel, die das Meer nicht mehr vergessen kann. Er war davongeschlichen, aus Angst vor den nächsten Wunden, die tiefer sein würden, und die sie sich vielleicht nicht nur mit einer Rasierklinge beibringen würde. Was vielleicht passieren würde, wenn sie andere Menschen fand, die ihr bereitwillig Wunden zufügten – körperliche und seelische. Vor allem aber dieses abwesende Lächeln. Das hatte er nicht ausgehalten.
Unter ihnen wütet jetzt der wogende Schlund, die bleigraue Masse ist in Aufruhr, hin und her und hin und her – nicht klein und bezwingbar wie in der fragilen Muschelschale, sondern wild und echt und ungezähmt – gischtige Schaumkronen auf den Wellen, an den Strand gespült, der jetzt auch ganz grau aussieht, wie die Haut eines Toten, und sie, viele Meter über dem Strand, auf der Klippe, auf dem Rand, nur einen Schritt entfernt von dem Sog zu ihren Füßen, dem man sich nicht entziehen kann. Den man nicht vergessen kann, wie die Muschel nie das Meer vergisst, aus dem sie stammt.
Am Horizont haben sich schwere Wolken zusammengebraut, der Sturm peitscht sie vor sich her, und wenn das Gewitter die Küste erreicht, wird es die Erde fluten mit Regengüssen wie aus den geöffneten Schleusen des Himmels, wird ein Geschützfeuer aus Wassertropfen herabjagen auf den Strand, das Meer und die Klippe, und die beiden kleinen Gestalten darauf.
Aber noch nicht jetzt. Jetzt ist es ist der windstille Moment, kurz, bevor das Chaos losbricht. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die beiden halten sich an den Händen, Junge und Mädchen, Bruder und Schwester.
»Sag, dass du immer für mich da sein wirst«, sagt sie, mit seltsam tonloser Stimme, die nicht erkennen lässt, ob es sich dabei um eine Forderung oder eine Bitte handelt. »Für immer und ewig.« – Oder vielleicht ist es gar keine Frage, sondern eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldet?
Er will es versprechen, natürlich will er das, denn dafür sind Geschwister ja da, oder nicht? Das ist die Aufgabe einer Familie, wie das Rauschen des Meeres in der kleinen Muschelschale. Also macht er den Mund auf, um es ihr zu sagen. Um ein bisschen zu lügen, vielleicht, denn damals, als die roten Tränen auf das weiße, kalte Porzellan fielen – wo war er da? Davongeschlichen hat er sich, wie ein Feigling. Alleingelassen hat er sie, mit der Klinge, und dem Blut. Aber jetzt will er es wieder gutmachen, will sagen, dass das früher war, aber jetzt, jetzt wird er für sie da sein. Für immer.
Aber aus seinem Mund kommt kein einziges Wort. Er bewegt die Lippen und dann geht eine seltsame Wandlung in seinem Gesicht vor sich. Seine Lippen werden weich, sein Gesicht beginnt, zu zerlaufen, wie der Käse auf einer Pizza – lange Fäden lösen sich von der Oberlippe und verbinden sich mit der unteren Gesichtshälfte und dann ist es, als seien seine Züge gar nicht mehr seine eigenen, sie zerlaufen, als ob sie ein irrer Künstler mit seinen Fingern in den zähen Lehm einer Plastik drückt und dann – hat der Junge plötzlich keinen Mund mehr, um damit zu sprechen. Nicht mal mehr ein Stöhnen kommt aus diesem mundlosen Gesicht, das jetzt nur noch aus entsetzt aufgerissenen Augen zu bestehen scheint, groß und dunkel wie das, was mit den Sturmwolken kommen wird; das auf sie zugerast kommt, wütend, als hätte es ein Bewusstsein, und jeden Moment über sie hereinbrechen wird. Sie verschlingen wird mit Sturm und Regen und Dunkelheit.
»Versprich es«, sagt sie noch einmal.
Aber natürlich kann er das nicht, der Junge ohne Mund. So sehr er das auch will. So laut er es auch hinausbrüllen will, er bleibt ungehört, der einsame Gedanke in der tosenden Brandung. Ohne jede Bedeutung. Stumm.
Sie nickt, als habe sie ihn trotzdem verstanden.
Ein letzter Blick auf die Brandung zu ihren Füßen, den regengrauen Strand, die Wolken – ganz nah sind sie nun heran, und tiefschwarz und wütend. Dann lässt sie seine Hand los, und der Junge fällt, tiefer und tiefer hinab und rast auf den schmutziggrauen Strand zu, und die Wellen und die Gischt, und kein Laut kommt aus seinem mundlosen Gesicht, während er fällt. Und dann …