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Polizeirevier Alteneck
H auptkommissar Felix Hübler schreckte hoch, als sein Chef, Polizeirat Bernd Möller, sich vernehmlich in seine Richtung räusperte. Möller, der sich Einiges darauf einbildete, den größten Teil seiner Arbeit von seinem bequemen Bürosessel aus zu erledigen, was er großspurig als Delegieren bezeichnete, schob einen gewaltigen Schmerbauch vor sich her, was ihm, verbunden mit seiner außergewöhnlichen Körpergröße und dem rauschenden Vollbart, das Aussehen eines gutmütigen Bären hätte verleihen können, wenn da nicht die vorspringende Nase und die stechenden Augen gewesen wären, die sich jetzt in die von Felix Hübler bohrten. Offenbar erwartete er irgendeine Art von Reaktion. Felix bemerkte, dass ihn auch die meisten anderen der im Raum versammelten Polizisten anstarrten.
Mist. Seine Gedanken waren gewandert, während er, eine Hand an sein Ohr gepresst, lauschte, wie man an einer Muschel lauscht, um das Meer darin rauschen zu hören. Vielleicht hatte er auch die Augen ein bisschen geschlossen, um dem inspirierenden Geräusch besser lauschen zu können, schon möglich. Wo bin ich da bloß gerade gewesen, verdammt? , dachte er. Wieso sucht mich dieser ganze Mist ausgerechnet jetzt heim? Und wieso habe ich diesen scheiß Traum jetzt wieder so häufig – wie lange geht das schon so, eine Woche, zwei? Und jetzt offenbar mitten im Briefing, verdammt.
Er schüttelte den Kopf und damit die letzten Spuren seiner Grübelei von sich, wie ein Hund, der sich die Wassertropfen aus dem Pelz schüttelt. Auch in der letzten Nacht hatte er wieder den Traum gehabt und danach war es aus gewesen mit dem Schlafen für den Rest der Nacht. Nicht schön, aber damit ließ sich leben. Aber dass er jetzt schon tagsüber wegknickte, während er über seine Träume nachgrübelte, das war alles andere als normal oder vertretbar. Ich muss mich auf das hier konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Etwas anderes kann ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen.
Dem Gesichtsausdruck seines Vorgesetzten konnte er entnehmen, dass dieser ihm offenbar gerade eine direkte Frage gestellt hat und nun auf die Antwort darauf wartete – ebenso wie alle anderen in dem schmucklosen Raum Anwesenden, namentlich die zwölfköpfige Sonderkommission »Alte Ziegelei«. Diese war vor etwas über zwei Wochen gegründet worden, als die erste Leiche mitten auf einem Feldweg gefunden worden war, der an der namensgebenden Alten Ziegelei vorbeiführte. Nachdem die zweite Leiche gefunden worden war, hatte der Albtraum einer Serienmordermittlung begonnen und das vorher dreiköpfige Team war auf zwölf Ermittler aufgestockt worden.
Zumindest hatten sie das Ganze damals noch für einen Albtraum gehalten – bevor es kurz darauf noch schlimmer geworden war. Und damit ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, überlegte Felix, als dieser verdammte Traum sich wieder regelmäßig in meine Gedanken geschlichen hat. Der Traum, aus dem ich manchmal schreiend erwache. So laut schreiend, dass Saskia beim letzten Mal gedroht hat, dass sie auf die Couch umziehen wird, wenn ich das nicht vorher tue.
»Nun?«, fragte Möller mit gerunzelter Stirn, die buschigen Brauen über seinen Augen zusammengezogen. Das erinnerte an zwei Raupen, die auf der Stirn von Möller ein kompliziertes Paarungsritual durchführten, fand Felix. »Was halten Sie davon, Herr Hübler?«
»Äh … wovon genau, Chef?«
»Mensch, Hübler! Gönnen Sie sich mal ’ne Mütze Schlaf nachts, Sie sehen wirklich besch … ziemlich abgespannt aus.«
»Sorry, Chef, ich war kurz in Gedanken. Aber jetzt bin ich voll da. Versprochen.«
Möller quittierte das mit einem undefinierbaren Grunzen und einem Kopfschütteln. Ein bisschen unterdrücktes Gelächter von ein paar der älteren Kollegen war zu hören. Na prima.
»Also«, sagte Möller und machte keinen Hehl daraus, dass er damit etwas wiederholte, was er soeben schon einmal gesagt hatte und alles andere als erfreut über diesen Umstand war. »Also nochmal für unseren Herrn Hübler, zum Mitmeißeln. Es ging darum, dass wir wohl alle darin übereinstimmen, dass der gestern gefundene Tote ebenfalls auf das Konto des selben Mörders geht, der damit mindestens drei Menschen auf seinem Gewissen hat.«
Felix nickte zustimmend. Mindestens drei Menschen , dachte er, wahrscheinlich aber deutlich mehr. Keiner fängt so an, in diese spezielle Art von Mord muss man sich erst reinsteigern. Üben, gewissermaßen, und nur, wenn man dabei nicht erwischt wird, entwickelt man irgendwann die Kaltschnäuzigkeit und Brutalität, mit welcher dieser Kerl vorgeht. Noch am Tag des zweiten Mordes, der ihm zugerechnet wurd, hatte der Täter bereits einen Spitznamen von der Presse bekommen, und das nicht grundlos. Der Verstümmler von Alteneck . Aber in diesem speziellen Fall untertrieb die nach Aufsehen kreischende Boulevardpresse damit beinahe noch.
»Spaziergänger haben heute morgen eine stark verstümmelte männliche Leiche zwischen den Dünen an der Promenade gefunden«, fuhr Möller fort, »die dritte in diesem Monat, und auf dieselbe Weise zugerichtet wie die beiden vorherigen. Die Spurensicherung hat im Sand des Dünenweges eine Radspur gesichert, inzwischen hatte man sogar das Gefährt gefunden, das dazu passt. Ein Rad samt Anhänger, das man aus dem Radschuppen eines bereits winterfest gemachten Hotels in der Nähe entwendet hat. Offenbar hat der Täter die Leiche da hineingeladen, vermutlich aus dem Kofferraum eines Autos und sie dann zum Strand gefahren, was er mit einem Auto nicht hätte bewerkstelligen können, weil man damit nicht auf diesen Teil der Promenade gelangen kann.«
Ja , dachte Felix, genau diese Art von Kaltschnäuzigkeit meine ich. Beinahe so, als mache es ihm Spaß, mit dem Feuer zu spielen. Vielleicht ist er sogar mit einem breiten Grinsen an ein paar Spaziergängern vorbeigefahren, denen er noch ein fröhliches ›Moin, Moin‹ zurief, während in seinem Anhänger unter einer Plane der stark verstümmelte Leichnam seines letzten Opfers lag. Andererseits mochte das auch nur Felix’ Fantasie entspringen, da sich bisher, wie auch bei den vorangegangenen Morden, keinerlei Zeugen gefunden hatten, die etwas Derartiges berichtet hatten.
»Das bedeutet, es war dem Täter offenbar wichtig, dass wir die Leiche genau dort finden, wo sie gefunden wurde«, schloss Möller seine Zusammenfassung. »Auch die Stelle auf dem Dünenweg muss für den Täter eine besondere Bedeutung haben – vermutlich irgendeine rituelle Sache. Und er kennt sich offenbar bestens hier im Ort aus.«
»Ich weiß nicht«, wandte Felix ein und fing sich prompt einen weiteren stirnrunzelnden Blick seines Chefs ein, samt zuckender Augenbrauen – die Raupen fielen nun förmlich wie im Liebestaumel übereinander her. »Mag sein, muss aber nicht. Und von dem einen auf das Andere zu schließen, ist vielleicht auch ein bisschen vorschnell in diesem Fall.«
»Was soll das nun wieder heißen?«, fragte Möller mit einem lauernden Unterton.
»Ich glaube, es war dem Täter vor allem wichtig, dass die Leichen gefunden werden, und zwar zeitnah. Daher hat er sie jeweils an einen Ort gebracht, an dem bei jedem Wetter Spaziergänger zu erwarten sind. Der Dünenweg liegt zwischen zwei Wellness-Hotels, die ihre Gäste auch im Winter empfangen, und dem beliebtesten Restaurant im Ort, dem Deichhus. Das suchen die Gäste auf, wenn sie sich bei diesem Wetter mal zu einem kurzen Spaziergang ans Freie wagen, auf einen Grog zwischen Fangopackung und Wellness-Schlammbad.«
Möller zuckte mit den Schultern. »Na, danke für diese Aufklärung. Aber damit zeugt die Platzierung ja wohl eindeutig von einer fundierten Ortskenntnis, wie ich sagte.«
»Nicht unbedingt. Das kriegt jeder mit, der sich ein paar Stunden hier im Ort aufhält. So groß ist Alteneck ja nun auch wieder nicht.«
»Ja, Sie sind natürlich alle Arten von Serienmördern und dergleichen gewöhnt, Herr Kollege. Wir sind Ihnen auch überaus dankbar, dass wir von Ihrer reichhaltigen Erfahrung profitieren können. Ihr Einwand ist dankend zur Kenntnis genommen, Herr Hübler. Wenn das okay für Sie ist, Herr Hauptkommissar , würde ich dann mit meinen Ausführungen fortfahren.«
Nun schauten auch ein paar der anderen Kollegen stirnrunzelnd in Felix Hüblers Richtung. Er war erst vor Kurzem wieder nach Alteneck zurückgekehrt, nachdem er vorher fast fünf Jahre in der Hamburger City tätig gewesen war. Es war allen hier im Raum klar, dass seine Versetzung und die gleichzeitige Degradierung vom Ersten Kriminalhauptkommissar zum schlichten Hauptkommissar nicht erfolgt waren, weil er sich im Dienst besonders positiv hervorgetan hatte. Und damit haben sie Recht , dachte Felix. Damals hieß es: Zurück nach Alteneck oder den Dienst gleich ganz quittieren, und beinahe hätten mir meine damaligen Vorgesetzten auch noch diese Wahl abgenommen.
»Natürlich, sorry«, sagte er. »So meinte ich das nicht.«
»Und was meinten Sie dann?«, bohrte Möller nach.
»Ich meinte, dass ich durchaus die Meinung teile, dass der Ort, an dem die Leichen gefunden werden, für den Mörder eine signifikante Rolle spielt. Die erste Leiche lag auf einem Feldweg nahe der alten Ziegelei, und über diesen Feldweg läuft der Bauer Küppers mindestens zwei Mal am Tag, um nach dem Vieh zu sehen, und vermutlich noch mindestens zwei weitere Male, um in der Kogge einzukehren, das ist allgemein bekannt. Es war praktisch abzusehen, dass er die Leiche finden würde.«
Das sorgte für mildes Gelächter im Raum. Küppers war tatsächlich als regelmäßiger Besucher des hiesigen Trinklokals »Zur Kogge« bekannt – ebenso wie die Tatsache, dass er so gut wie nie nüchtern anzutreffen war und den Weg nach Hause in aller Regel stark schwankend bewältigte.
»Das könnte auch der Täter beobachtet haben und dann die Leiche aus diesem Grund auf dem Weg platziert haben, den Küppers zwangsläufig passieren würde. Gleiches gilt für den Kinderspielplatz in der Weidenstraße – auch wenn das in meinen Augen den bislang makabersten Fundort darstellt. Wir können uns ausgesprochen glücklich schätzen, dass der Hausmeister der benachbarten Schule die Leiche fand, die der Mörder auf dem Drehkarussell hinterlassen hat, und nicht irgendein Schulkind. Aber eine besondere Ortskenntnis braucht es da meiner Meinung nach ebenfalls nicht, um sicherzustellen, dass die Leiche gefunden wird.«
Zustimmendes Gemurmel seitens der anwesenden Polizisten erfüllte den Raum.
»Was steckt dann also Ihrer Meinung nach hinter dieser spezifischen Wahl der Leichenfundorte?«, fragte Möller, der noch immer nicht überzeugt zu sein schien.
»Ich glaube, dafür hat er zwei Gründe. Erstens: Er will, dass die Leichen schnell gefunden werden. Spätestens am nächsten Tag, nachdem er sie in der Nacht abgeladen hat. Und ich glaube, er will auch, dass die Leichen in Alteneck gefunden werden – womit er jedes Mal ein erhebliches Risiko eingeht, weil unser Städtchen nun einmal ziemlich überschaubar ist und er bislang zumindest eins der Opfer sogar aus dem Nachbarort hergebracht hat – das dritte wird ja zur Stunde noch identifiziert und …«
»Für diese Städte, sowie acht weitere, ist das Revier Alteneck ja dennoch zuständig«, unterbrach Möller und ließ eine ganze Portion Stolz in seiner Stimme mitschwingen, während er beifallheischend in die Runde blickte. Die Kollegen nickten zustimmend. Was für erbärmliche Arschkriecher , dachte Felix. Wenn die mal nur halb so viel Zeit aufs Ermitteln verwenden würden, wie damit, dem Möller nach dem Mund zu reden, dann gäbe es hier und den besagten weiteren acht Käffern vermutlich bald gar keine Verbrechen mehr.
»Ja«, sagte er. »Und dennoch macht er sich die Mühe, alle Opfer ausgerechnet in die Stadt zu schleppen, in welcher sich das Hauptrevier für den gesamten Landkreis befindet. Fast so, als wolle er uns die Laufarbeit abnehmen.«
»Also, das halte ich ja nun für einen übertriebenen Schnellschuss«, wandte Möller beschwichtigend ein. »Das ist doch völlige Spekulation Ihrerseits!«
»Mag sein, ich halte es jedoch für ein wichtiges Indiz, wie auch die Tatsache, dass er sich seiner Opfer nicht entledigt, indem er sie einfach ins Meer wirft oder sie im Wald vergräbt, obwohl beides uns die Arbeit wesentlich erschweren würde. Er will demnach sichergehen , dass sie gefunden werden. Und zwar in Alteneck, von uns. «
»Wie auch immer«, seufzte Möller und verdrehte die Augen. »Und weiter?«
»Ich sehe noch einen sehr wesentlichen Punkt, und der betrifft die Verstümmelungen, die er seinen Opfern zufügt. Ich glaube, die sind der Grund, warum er sich der Leichen nicht entledigt und möchte, dass sie schnell gefunden werden: Er will sicherstellen, dass die Verstümmelungen nicht für Fischfraß oder Verwesung gehalten werden können.«
Die Erwähnung der Verstümmelungen wurde mit ein paar leisen, würgenden Geräuschen einiger jüngerer Kollegen quittiert, aber Möller nickte Felix zu, damit dieser weitersprach. Dieser Punkt erschien sogar dem ewigen Skeptiker Möller plausibel. Also sagte Felix: »Er möchte außerdem sicherstellen, dass wir bemerken, dass Leichenteile fehlen, und welche genau das jeweils sind. Er will, dass wir wissen, wozu er fähig ist, und was genau er seinem jeweiligen Opfer antut. Er will, dass wir etwas begreifen, dass er uns durch diese spezifischen Verletzungen mitteilt.«
»Sie glauben also die Verstümmelungen dienen nicht nur dazu, die Identifizierung der Opfer zu erschweren oder weil er sich dabei zwanghaft austoben muss?«
»Nein, auch wenn das ebenfalls eine Rolle spielen mag. Die fehlenden Fingerkuppen, die ausgeschlagenen Zähne und das, was er …« Felix musste selbst schlucken, als er an den Anblick dachte, der sie an den Leichenfundorten erwartet hatte. Der Anblick war jedes Mal nur schwer zu ertragen gewesen, selbst für einen Polizisten wie Felix Hübler, der fünf Jahre in den übelsten Vierteln Hamburgs tätig gewesen war und dabei zahlreiche Messerstechereien, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Drogenabhängigen und sogar zwei handfeste Rockerkriege miterlebt hatte. »Und das, was er mit ihren Gesichtern angestellt hat.«
»Ja, und?«
»Das erklärt aber zum Beispiel nicht, warum er außerdem ihre Geschlechtsteile entfernt.«
»Mann, Felix!«, ließ einer der Kollegen ein unterdrücktes Stöhnen hören, vermutlich hatte der Mann die eindringlichen Bilder vom Tatort einigermaßen erfolgreich aus seinem Kopf verdrängt – bis jetzt. Möller warf ihm einen finsteren Blick zu und der Betreffende verstummte sofort.
»Und es erklärt auch nicht, wieso diese entfernten Geschlechtsorgane und andere Leichenteile nicht am Tatort gefunden wurden.«
Das erste Opfer war ein blinder Altenecker von zweiunddreißig Jahren gewesen, dem der Täter in einer Geste höhnischer Verachtung beide Augäpfel entfernt hatte – allem Anschein nach mit einem Kaffeelöffel, den man noch blutbeschmiert in der Nähe gefunden hatte. Das zweite Opfer war ein von einem Schlaganfall halbseitig gelähmter 72-jähriger, dem der Täter neben den üblichen Verstümmelungen außerdem die Zunge mitsamt der Wurzel herausgerissen hatte – und zwar unter Benutzung einer Wasserpumpenzange, das blutbeschmierte Werkzeug hatte ebenfalls noch neben dem Opfer gelegen – natürlich frei von Fingerabdrücken. Nach der Identifizierung des Mannes, der in einem Pflegeheim in einem Nachbarort gewohnt hatte, hatte sich herausgestellt, dass dieser seit seinem letzten Schlaganfall stumm gewesen war. Dem Blinden die Augen, dem Stummen die Zunge genommen , dachte Felix. Aber warum, wo ist da der Sinn, selbst für einen schwer gestörten Geist?
»Hm«, machte Möller. »Aber genau das ist ja der Grund, warum mir die Idioten von der Presse seit Tagen die Hölle heißmachen. Die haben sogar schon einen Namen für den Kerl – den ›Verstümmler von Alteneck‹ nennen sie ihn, wie finden Sie das? Haben Sie eine Ahnung, was ich mir beinahe stündlich vom Bürgermeister anhören darf? Nicht mehr lange, und er wird die Wintergäste aus dem Stadtsäckel bestechen müssen, damit die nicht allesamt die Flucht ergreifen. Also die paar jedenfalls, die das nicht schon längst getan haben.«
»Ist vielleicht nicht die dümmste Idee«, murmelte Felix nachdenklich.
»Blödsinn!«, rief Möller mit erhobener Stimme und streckte seinen fleischigen Zeigefinger nach Felix aus. »Wir schnappen den Kerl. Umgehend, und damit basta! Alteneck ist nach wie vor sicher!«
»Das klingt in der Presse aber ganz anders«, sagte Felix niedergeschlagen. »Erst heute Morgen habe ich gelesen, dass die Polizei noch völlig im Dunkeln tappt, während der Verstümmler weiterhin Angst und Schrecken im gesamten Landstrich verbreitet. Genauso stand es da.«
»Ach, Scheiße, Hübler!«, brüllte Möller nun fast. »Hören Sie mir bloß auf mit diesen Schmierfinken! Das Maul verbieten sollte man denen – nichts als Panik verbreiten können die, und uns damit bei den Ermittlungen behindern. Und Sie stellen sich jetzt noch auf deren Seite, oder wie?«
»Das tue ich nicht«, sagt Felix sachlich. »Aber wir sollten sie einweihen, zumindest in einen Teil unserer Ermittlungen, und zwar in den – wie ich finde – wesentlichen Teil, was das Täterprofil betrifft. Wir sollten ihnen sagen, nach welchen Kriterien die Opfer bisher ausgewählt wurden, damit die Presse dafür sorgen kann, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, anstatt waghalsige Mutmaßungen anzustellen.«
Möller verdrehte die Augen und warf in einer vielsagenden Geste die Hände in die Luft.
»Der Täter hat es ausschließlich auf pflegebedürftige Menschen abgesehen«, sagte Felix. »Und er verhöhnt ganz bewusst deren Behinderung. Ich finde, die Leute sollten davon erfahren. Insbesondere die Angehörigen von Menschen mit Behinderung.«
»Aber das wissen Sie doch gar nicht!«, ereiferte sich Möller. »Bloß weil zwei von den Opfern Krüppel waren! Da kann doch sonst was dahinter stecken, vielleicht persönliche Motive oder was weiß ich.«
»Vor allem würde ich die Opfer der Presse gegenüber nicht als Krüppel bezeichnen«, empfahl Felix. Möller klappte den Mund zu und starrte Felix nun mit geblähten Nüstern an, als sei er ein Stier und bereit, sich jeden Moment auf seinen Untergebenen zu stürzen. »Es ist ganz sicher kein Zufall, dass zwei der drei bisher gefundenen Opfer behinderte, pflegebedürftige Menschen waren. Ich finde, die Presse sollte das wissen, um …«
»Um uns die Ermittlungen so richtig zu vermasseln, meinen Sie wohl?«, zischte Möller. »Wenn das einmal raus ist, werden die uns bis in alle Ewigkeit drauf festlegen. Und alles, was der Täter dann machen muss, um uns wie komplette Deppen dastehen zu lassen, ist, sich ein nicht verkrüpp… sich einen Menschen ohne Behinderung als das nächste Opfer auszusuchen. Mal ganz davon zu schweigen, was in den Hotels passieren würde, wenn das die Runde macht. Oder den Pflegeheimen. Alteneck ist ein Kurort, verdammt noch mal!«
»Und was ist, wenn wir den Täter nicht fassen?«, wand Felix ein. »In den nächsten Wochen? Monaten? Wenn wir ihm noch immer hinterherjagen, wenn die Sommersaison beginnt? Dann haben wir hier gar keine Touristen mehr, höchstens noch Schaulustige.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, brauste Möller auf. »Dazu wird es nämlich nicht kommen, weil …«
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und ein junger Polizist stolperte in den Raum. Offenbar war er außer Atem, was in starkem Kontrast zu seiner Gesichtsfarbe stand, die mit einer frisch gekalkten Kellerwand zu konkurrieren schien.
Der Mann war Kriminalhauptkommissar Jan Lange, Felix’ langjähriger Freund und im Moment einziger Verbündeter hier auf dem Revier Alteneck – der einzige, der auch noch zu ihm gehalten hatte, als Felix degradiert aus Hamburg zurückgekehrt war.
»Es gab … soeben eine … Vermisstenmeldung«, hechelte Jan und schnappte zwischen den Worten nach Luft.
»Und?«, brummte Möller und ein Grinsen machte sich auf den Gesichtern einiger Anwesender breit. Die waren vermutlich nur all zu froh darüber, dass Möllers unausgeglichenes Gemüt zumindest kurzzeitig eine andere Zielscheibe gefunden zu haben schien.
»Es geht um einen … Mann«, fuhr Jan fort. »Geistig behindert, er braucht täglich Medikation, deshalb sitzt er den ganzen Tag zu Hause, bis auf seine täglichen betreuten Spaziergänge. Und nun ist er verschwunden. Seine Schwester hat angerufen und …«
»Ja, was und?«, keifte Möller. »Was hat das mit uns zu tun? Herrgott, Lange, Sie wissen doch wohl, was in einem solchen Fall zu unternehmen ist, oder? Anzeige aufnehmen, wenn vierundzwanzig oder mehr Stunden vergangen sind, …«
»Sind Sie nicht«, sagte Jan. »Aber die Schwester des Mannes sagt …«
»Zum Teufel damit, was die Schwester sagt. Wir beackern hier gerade einen Serienmordfall, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist. Wir kümmern uns hier nicht um Vermisste, verdammt noch mal!«
Jans Blick schweifte hilfesuchend zu Felix, aber der konnte lediglich mit den Schultern zucken. Wie alle hier war er gut genug mit Möllers Launen vertraut, um zu wissen, dass jede weitere Diskussion an diesem Punkt keinen Zweck mehr hatte. Er gab dies Jan mit einem knappen Kopfschütteln zu verstehen.
»Okay«, sagte dieser daraufhin. »Dann entschuldigen Sie bitte, dass ich so reingeplatzt bin.«
Felix schmunzelte ein wenig in sich hinein. Nur jemand, der Jan sehr gut kannte, hätte den sarkastischen Unterton dieser Entschuldigung heraushören können. Für einen Machtmenschen wie Möller musste es geklungen haben wie ein Eingeständnis der Unfähigkeit seines Untergebenen. Absurderweise neigte Möller dazu, solche Menschen eher zu befördern als welche, die ihm Paroli boten, wie sich hervorragend am Beispiel Felix Hüblers festmachen ließ. Je mehr man sich Möller unterwarf, desto größer die Aussichten, selbst eine führende Position zu übernehmen. Toller Führungsstil.
»Schon gut«, brummte Möller in erwartungsgemäß versöhnlicheren Ton. »Und nächstes Mal klopfen Sie gefälligst an, bevor Sie hier so ungefragt reinstürmen!«
Als Jan die Tür von außen zuzog, erhaschte Felix einen Blick auf dessen Gesicht und meinte, darin seine eigenen Gedanken gespiegelt zu sehen. Diese Sache war möglicherweise mehr als ein Vermisstenfall. Der Vermisste passte einfach zu gut in das Opferprofil des Serienkillers, auch wenn Möller es aus politischen Gründen vorzog, ein solches Opferprofil überhaupt nicht erst zur Kenntnis zu nehmen.