Polizeirevier Alteneck. Büro Felix Hübler
F
elix Hübler war inzwischen zum Revier zurückgekehrt, das um diese späte Stunde allerdings so gut wie verlassen dalag. In seinem Büro hatte er sich in seinem knarrenden Drehstuhl so weit nach hinten gelehnt, wie es ging und die Füße auf der Schreibtischplatte abgelegt. Seine Denkerposition nannte er das. Dann hatte er sich das Mobilteil des Telefons aus der Schale geangelt und eine Telefonnummer gewählt, die von seiner Kopie der Vermisstenanzeige stammte, die Jan Lange vor wenigen Stunden entgegengenommen hatte. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.
»Hallo?«, meldete sich die Stimme einer Frau. »Wer ist denn da bitte?«
Eine Stimme, wie Felix fand, die überraschend jung und irgendwie vorsichtig klang. Er kannte diese Art von Vorsicht. Zum Beispiel von Frauen, die wussten, dass ihre Ehemänner etwas ausgefressen hatten und die praktisch schon den halben Tag damit verbracht hatten, auf den Anruf der Polizei zu warten und sich intensiv, wenn auch vergeblich, darauf vorbereitet hatten, den Beamten am Telefon die Lügengeschichte aufzutischen, der werte Ehegatte sei in der fraglichen Zeit daheim gewesen. Einige dieser Frauen begannen sofort zu weinen oder verhedderten sich schon nach wenigen Sätzen komplett in den Details ihrer erfundenen Geschichte – andere atmeten erleichtert auf, wenn man ihnen klarmachte, dass ihr Mann ihnen und den Kindern für die nächsten Monate oder Jahre nicht gefährlich werden konnte, wenn sie bei der Wahrheit blieben. Aber in diesem Fall war es vermutlich einfach nur die Sorge um ihren Bruder, die diese Frau so klingen ließ.
Eine angenehme Stimme
, dachte Felix außerdem. Sanft und klar. Eine Stimme, der man gern länger zuhören möchte. Fatal, falls diese Stimme dazu noch etwas vom Lügen verstand.
»Hier ist Hauptkommissar Felix Hübler, Frau Seeger.«
»Ah«, sagte die Stimme, und nun war echte Erleichterung darin zu hören, da war sich Felix sicher. »Na endlich. Ich warte hier schon ziemlich lange auf den versprochenen Rückruf, wissen Sie?«
»Ja, da muss ich mich wohl entschuldigen«, sagte Felix in unverbindlichem Ton. »Einmal für die späte Störung, und dafür, dass sie erst so spät erfolgt.«
Die Frau am anderen Ende lachte nicht über diesen Wortwitz, aber vielleicht lächelte sie wenigstens. Oder auch nicht
, dachte Felix, als ihm unwillkürlich die Bilder der zerstückelten Opfer des ›Verstümmlers‹ wieder in den Sinn kamen. Immerhin hat diese Frau gerade ihren Bruder vermisst gemeldet, und ich nehme an, dass sie auch die Zeitung liest.
»Es geht um Ulrich, nicht wahr?«
»Ihren Bruder, ja«, sagte Felix.
»Ist er aufgetaucht … ich meine, haben Sie ihn gefunden?«, fragte die Stimme am anderen Ende, und jetzt war deutlich zu hören, wie schwer es ihr fiel, ihre Emotionen im Zaum zu halten.
»Leider nein, Frau Seeger. Offengestanden habe ich den Fall gerade eben erst auf den Tisch bekommen und wollte gern von Ihnen noch einmal die Fakten hören, aus erster Hand sozusagen.« Genaugenommen hast du diesen Fall mitnichten auf den Tisch bekommen
, dachte Felix, sondern strikte Anweisung von Möller, dich im Moment um nichts Anderes als den Fall ›alte Ziegelei‹ zu kümmern. Wenn da nur nicht dieses nagende Gefühl wäre, dass das eine vielleicht mit dem anderen zu tun hat, so sehr sich Möllers Verstand auch dagegen sträuben mag. Etwas stinkt hier einfach, und ich muss wissen, was.
»Ah«, sagte sie. »Verstehe.«
»Also, wären Sie so freundlich, mir alles noch einmal ganz genau zu erzählen? Und lassen Sie kein Detail aus, erwähnen Sie bitte jede Abweichung von der Normalität – und machen Sie mich bitte auch erstmal mit der Normalität vertraut, Frau Seeger. Ihr Bruder ist ein Pflegefall, nicht wahr?«
»Er ist ein Mensch
«, sagte sie. »Der manchmal auf ein bisschen Hilfe angewiesen ist, also ja.«
»Entschuldigung, so meinte ich das nicht.«
»Schon gut, Herr Hauptkommissar. Ich bin weit Schlimmeres gewohnt. Wie vermutlich jeder, der sich um Pflegebedürftige in der Familie kümmert.«
Für einen Moment sagte Felix gar nichts, und er hatte alle Mühe, sich weiter auf dieses Telefongespräch zu konzentrieren. Da schoben sich Bilder vor seine Augen, von einem Mädchen, das seine Hand hielt und ihn schwören ließ, bei allem, das heilig ist, dass er sie nie verlassen dürfe. Die seine Hand hielt, ganz fest, und dann …
»Sehen Sie, Ulrich ist auf seine Medikamente angewiesen. Wenn er die nicht regelmäßig bekommt, verschlechtert sich sein Zustand rapide. Seine Medikation sieht vier Einheiten verschiedener Medikamente vor, über den Tag verteilt. Wir haben so ein Pillendöschen …«
»Eins mit Wochentagen drauf?«, fragte Felix in dem Bemühen, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, das er gerade führte, was ihm allerdings immer schlechter gelang. Versprich es! Sag, dass du immer für mich da sein wirst!
»Ja, genau. Alle drei Monate muss er wieder in die Klinik, wird komplett durchgecheckt, und da wird seine Medikation angepasst, Einstellen nennen die es da. Es ist aber sehr wichtig, dass er dabei nicht außer Tritt kommt, sonst ...«
»Verstehe, Frau Seeger. Und heute kamen Sie nach Hause und er war verschwunden?«
»Ja, aber die Pillen lagen noch da.«
»Und da haben Sie nicht zunächst angenommen, dass er vielleicht nur einen Spaziergang macht?«
»Ulrich?«, ein humorloses Lachen war zu hören. »Nein, ganz bestimmt nicht. Der würde nie allein nach draußen gehen. Wenn wir Spaziergänge unternehmen, dann nur gemeinsam. Er … er fürchtet sich davor, allein nach draußen zu gehen, wissen Sie? Die fremden Leute, die ihm da begegnen könnten, das würde ihn viel zu sehr aufregen. Das weiß er, deshalb bleibt er immer drin, wenn ich nicht da bin. Das macht ihm nichts aus, es gefällt ihm sogar.«
Schwer vorstellbar
, dachte Felix, aber was weiß ich schon von Menschen, die Angst vor Dingen haben, die für die meisten von uns ganz alltäglich sind?
»Verstehe«, sagte er wieder. »Und deshalb waren Sie also gleich alarmiert. Weil er nicht da war, und außerdem seine Medikamente zurückgelassen hatte. Verständlich.«
»Ja. Aber da ist noch etwas.«
»Und das wäre?«
»Haben Sie Geschwister, Herr Hauptkommissar?«
Felix dreht hastig den Kopf zur Seite, vom Hörer weg, dann schnappte er ein paar Mal nach Luft, bis es ihm gelang, sich einigermaßen zu beruhigen. Einatmen, ausatmen, einatmen. Langsam und gleichmäßig …
»Herr Hauptkommissar?«, klang die Stimme der Frau aus dem Hörer. Aus weiter Ferne. Wie das Rauschen des Meeres, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält. »Sind Sie noch dran?«
»Ja«, sagte Felix, nun betont fröhlich. »Da war nur ein Kollege, der mir eine Akte reingebracht hat. Entschuldigung.«
»Ich hatte Sie gefragt, ob Sie Geschwister haben«, saget Helene Seeger. Verdammt
, dachte Felix. Wer führt denn dieses Verhör eigentlich? Und überhaupt ist das doch überhaupt nicht als Verhör gedacht.
»Nein«, sagte er dann. Die kürzere der beiden möglichen Antworten, und eine, die ihm weitere Fragen und Schwindelanfälle ersparte, so hoffte er zumindest.
»Dann verstehen Sie das vielleicht nicht, aber zwischen Geschwistern gibt es manchmal so etwas wie eine geistige Verbindung … oh je, ich hoffe, Sie halten mich jetzt nicht für übergeschnappt oder so.«
»Durchaus nicht, Frau Seeger. Ich habe mal davon gelesen. Ein Psychologe hat das sogar nachgewiesen, glaube ich. Bei Zwillingen.« Einatmen. Ausatmen.
»Ja, also jedenfalls – ich spüre, dass es Ulrich nicht gut geht. Dass er …« ihre Stimme brach ab, und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Dass er Angst hat. Ich kann das fühlen, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Felix. »Das verstehe ich durchaus, und glauben Sie mir, ich möchte Ihren Bruder genauso sehr finden wie Sie. Aber sicher sehen Sie ein, dass ich so etwas nicht als Indiz in die Ermittlungen aufnehmen kann. Wir können uns hierbei lediglich auf die harten Fakten stützen.«
Was für eine jämmerliche Vorstellung
, dachte er. Du weißt sehr genau, was sie meint mit dieser Verbindung zwischen Geschwistern. Du weißt, dass so etwas sehr wohl existiert – oder wieso, glaubst du, hast du jede Nacht diesen Traum?
»Natürlich«, sagte sie. »Das ist mir klar. Ich wollte nur … ich musste das loswerden, damit Sie verstehen, warum ich mir solche Sorgen um ihn mache.«
»Natürlich, und ich habe es zur Kenntnis genommen. Besteht denn die Möglichkeit, dass ihn vielleicht jemand anders mitgenommen hat? Ein weiteres Familienmitglied, zum Beispiel? Ein … ich weiß nicht, ein Nachbar oder so? Würde er den Personen im nächsten Umfeld vielleicht vertrauen?«
»Nein«, sagte Helene Seeger. »Familie haben wir nicht in der Nähe, unsere Eltern leben nicht mehr, und die Nachbarn … also, ich darf schon froh sein, wenn die mal mit mir ein Wort wechseln. Aber mit Ulrich? Nein, mit ihm würden sie bestimmt nicht reden. Die Nachbarn kann man ausschließen, ich bin sicher.«
»Gut. Hören Sie, Frau Seeger. Eine polizeiliche Suche können wir leider frühestens vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden des Vermissten einleiten, aber …«
»Aber Ulrich braucht seine Medikamente. Wenn er die nicht bekommt …«
»Das sind die Vorschriften«, sagte Felix. »Da kann ich leider bei allem Verständnis für Ihre Situation nichts machen.« Vielmehr ist das Möllers Vorstellung von vorbildlicher Polizeiarbeit
, dachte er, aber das kann ich der Frau ja schlecht erzählen.
»Was ich aber machen könnte, wäre gleich morgen früh bei Ihnen vorbeizuschauen. Ich würde mich gern ein wenig im Haus umsehen, nach verwertbaren Spuren suchen. Und ich brauche natürlich eine Fotografie des Vermissten. Wäre Ihnen das recht?«
»Ja, klar. Aber Sie sagten doch gerade, vierundzwanzig Stunden müssten vergehen, bis Sie etwas unternehmen können.«
»Ich würde das vor Dienstantritt erledigen, Frau Seeger, Ihr Haus liegt auf meinem Weg zur Arbeitsstelle.« Was zwar nicht stimmte, was aber die arme Frau auch nicht unbedingt erfahren musste. »Aber ich muss Sie warnen, ich bin ein Frühaufsteher.«
»Das macht mir nichts. Ich glaube sowieso nicht, dass ich heute Nacht ein Auge zubekomme. Um wie viel Uhr würden Sie denn dann vorbeikommen?«
»So gegen sechs, halb sieben.«
»Verstehe. Ist mir recht. Und vielen Dank, Herr …«
»Hübler, Hauptkommissar Hübler. Noch etwas, Frau Seeger. Falls Ulrich inzwischen von allein auftaucht oder es sonstige Neuigkeiten gibt, rufen Sie mich bitte umgehend an. Nicht im Revier, sondern gleich bei mir, ich gebe Ihnen mal meine Privatnummer durch.«
»Ja, das mache ich, danke.«
Felix sagte die Nummer an, sie verabschiedeten sich und dann legte er auf. Natürlich hätte die Frau auch im Revier anrufen können, aber dann wäre unweigerlich herausgekommen, dass Felix ihr seine Hilfe zugesichert hatte – gegen den strikten Befehl von Möller, und das hätte vermutlich kein gutes Ende genommen, zumal er dann auch Jan in diese Sache hätte verwickeln müssen.
Felix schüttelte den Kopf und griff nach der Kaffeetasse auf seinem Schreibtisch. Er wog sie in der Hand, während er sich wieder dem Denkbrett zuwandte, das an der Stirnseite des Raumes stand. Das war eine große Magnettafel, die Felix an der Wand seines Büros hatte anbringen lassen – anstatt der von Möller angeordneten Motivationsplakate (»Gemeinschaft sorgt für Spitzenleistung«, »Selbstvertrauen ist das erste Geheimnis des Erfolges«, oder, Felix’ Lieblingsspruch: »Wer neue Wege gehen will, braucht Starthilfe«). Zumeist diente diese Tafel den Kollegen dazu, irgendwelche Witzchen oder nur mit einiger Mühe als solche erkennbare Geschlechtsteile darauf zu kritzeln, welche Felix jeden Morgen wegwischen musste, bevor Möller in sein Büro stürmte. Felix hegte sogar den Verdacht, dass der Chef es inoffiziell angeordnet hatte, die »Idiotentafel« zu verunzieren, weil er sie als unnütze Erfindung hirnloser Autoren von amerikanischen Krimiserien erachtete.
Doch nun war diese Tafel voller Fotos, die Felix mit Hilfe von Magnetpins dort befestigt hatte, und angesichts der dort dargestellten Grausamkeiten war den Kollegen jede Lust auf Kritzeleien auf Grundschulniveau vergangen. Sogar Möller, der sich nie im Leben dazu herabgelassen hätte, der Tafel ihre unbestrittene Nützlichkeit bei komplexen Fällen zuzugestehen, hatte in letzter Zeit hin und wieder einen Blick drauf geworfen.
Allerdings
, dachte Felix seufzend, weitergebracht hat uns das alles bislang leider auch noch nicht.
Er nahm einen Schluck des inzwischen vollkommen erkalteten Kaffees, stellte die Tasse dann mit angeekeltem Gesicht auf seinen Schreibtisch zurück und schnappte sich eins der Karteikärtchen, die auf dem Kreidebrett unter der Tafel lagen. Mit einem Marker schrieb er den Namen ›Ulrich Seeger‹ darauf, und ›Vermisst‹. Nach kurzem Zögern malte er noch ein Fragezeichen dazu, dann heftete er es ebenfalls an die Tafel. Vielleicht würde Möller ja einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das am nächsten Morgen sah, aber vermutlich würde ihm das Schicksal nicht derart gnädig sein.
Dann vertiefte er sich wieder in die Bilder an der Wand, nämlich die der grausam zugerichteten bisherigen Mordopfer. Was im Moment auch so ziemlich alles war, das sie hatten. Keine verwertbaren Spuren am Tatort, keine Hinweise aus der Täterkartei auf einen sogenannten Zurückgekehrten
, der schon vorher mal so gewütet hat. Kein Motiv, das die Gemeinsamkeiten zwischen den Taten oder den Opfern erklären würde – abgesehen von der Tatsache, dass zumindest zwei von dreien nachweislich auf fremde Hilfe angewiesen waren, um zu überleben. Was eine neue, erschreckende Idee in Felix auslöste: Vielleicht sucht er sich diese Opfer auch nur, weil sie so leicht zu überwältigen sind? Vielleicht ist das schon alles und unsere Suche nach einem tieferen Sinn wird sich nur als eine weitere Sackgasse entpuppen?
Aber warum dann diese ungewöhnliche Brutalität? Warum verhöhnte der Täter seine Opfer noch und nahm dabei ganz bewusst Bezug auf deren Behinderung? Die Augen des Blinden, die Zunge des Mannes, der seit seinem Schlaganfall nicht mehr hatte sprechen können. Was ist die Botschaft dabei, was verstehen wir nicht? Verdammt, wenn wir doch nur die Ergebnisse vom dritten Mord endlich hätten. Irgendeinen Anhaltspunkt, wer das war und ob er vielleicht auch an einer irgendwie gearteten Behinderung litt.
Aber nein. Es ist fast so, als würden wir immer nur exakt das zu sehen bekommen, was der Täter uns sehen lassen will. Und kein bisschen mehr. Damit er uns Stück für Stück seinen Plan enthüllt, und wenn wir es endlich begriffen haben, wird es viel zu spät sein. Aber zu spät wofür? Was plant der Kerl, was treibt ihn an? Wie kann man so jemanden stoppen?
Wütend hieb Felix auf den Schreibtisch. Einmal, zwei Mal. Das war nutzlos und schmerzhaft, aber es tat gut, irgendwie, wenn auch nur für den Moment.
»Scheiße!«, rief er, und dann noch einmal. Es war ja nicht so, dass ihn jemand hören würde, denn die anderen – bis auf Jan draußen am Tresen – waren längst nach Hause gegangen. Was er jetzt auch tun sollte. Seinen Schreibtisch zu zertrümmern, würde vermutlich keinen weiterbringen.
Da klingelte sein Telefon. Als er die Nummer auf dem Display erkannt, wünschte er sich, er hätte mit dem Fluchen noch ein bisschen gewartet, denn dann hätte es sich mehr gelohnt.