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Polizeirevier Alteneck. Büro Felix Hübler
» S askia, hey«, seufzte Felix, nachdem er abgenommen hatte.
»Das ist alles, was dir einfällt? Echt jetzt? Hey
»Tut mir leid, ich …«
Verdammt , dachte er. Wie kommt es bloß, dass ich immer wieder in eine Situation gerate, in der ich mich bei ihr entschuldige, noch bevor sie überhaupt angefangen hat, an mir herumzukritisieren? Was allerdings unausweichlich folgen würde, das war ihrer Stimme nur zu deutlich anzuhören.
»Du weißt aber schon noch, was wir heute Abend geplant hatten, oder?«, fuhr sie fort, in diesem aufgekratzt lauerndem Ton. Den sie vermutlich nur benutzte, weil sie wusste, wie sehr er das hasste. »Ich meine das, was wir seit zwei Wochen geplant und immer wieder verschoben hatten, und zwar wegen deiner Arbeit.«
»Ja, klar.« Fieberhaft durchforstete Felix sein Gehirn, bis sein Blick auf den aufgeschlagenen Terminkalender auf seinem Schreibtisch hängen blieb. Da stand es, eingekreist, mit neongrünem Textmarker. Direkt neben der Zeitangabe 18 Uhr. Was vor knapp einer Stunde gewesen war. Shit. »Ja, klar, das Abendessen! Hab ich auf dem Schirm, natürlich. Allerdings hat Möller mich noch einmal einbestellt«, log er, doch der Versuch weiterer Ausführungen wurde prompt von Saskia unterbrochen.
»Mann, Felix, in letzter Zzeit hab ich den Eindruck, du bist manchmal gar nicht richtig anwesend.«
»Ja, Mutti.«
»Blödmann«, sagte sie mit einem kleinen Lachen. Immerhin. Kurve noch mal gekriegt. »Aber eingekauft hast du hoffentlich schon?«
»Eingekauft. Äh …«
»Felix!« Er hasste es, wenn sie laut wurde, besonders am Telefon. Der kleine Lautsprecher im Hörer machte daraus eine hohe, quiekende Stimme, was ihn an eine mehrfach verstärkte, bis zum Äußersten gereizte Maus denken ließ. Quiek, quiek, quieeeek! Es war ein Ton, der einem regelrecht in die Knochen fuhr. »Das hatten wir doch alles besprochen. Vor Tagen! Du kaufst ein und ich bereite hier alles vor.«
»Klar, ich … ich hab alles hier vor mir liegen. Bin praktisch schon auf dem Weg nach Hause. Wenn Möller nicht dazwischengekommen wäre, wäre ich längst bei euch.«
»Also, ich hab schon mal den Wein aufgemacht, immerhin sind Tobias und Nadine jetzt schon über eine halbe Stunde hier. Ich weiß nicht, ob davon noch viel übrig sein wird, wenn du hier eintrudelst.«
Als ob ich keine anderen Probleme hätte, dachte Felix und stöhnte innerlich auf. Von mir aus könnt ihr die gesamte Hausbar leer saufen – wenn wir so etwas wie eine Hausbar hätten. Er zwang sich zu einer fröhlichen Stimme, als er erwiderte: »Na, dann ist es ja gut, dass ich noch eine Flasche Rotwein erstanden habe – in weiser Voraussicht, sozusagen.«
»Wirklich?«, fragte Saskia skeptisch.
»Klar«, log Felix im Brustton der Überzeugung, und dachte: Ich setze es ganz oben auf die Liste. Wenn ich den Volvo ordentlich trete, und mich beim Einkaufen beeile, sollte ich das sogar in unter einer halben Stunde schaffen. Eine weitere halbe Stunde, die ich nicht in der Gesellschaft des aufgeblasenen Blödians und seines aktuellen Barbiepüppchens ertragen muss. Der aufgeblasene Blödian , mit dem er Saskias ehemaligen Mitbewohner aus Studientagen meinte, war ihr Freund, natürlich, und das Püppchen daher irgendwie auch. Es waren immer ihre Freunde, die zum Essen kamen. Hauptsächlich deshalb, weil Felix gar keine eigenen Freunde hatte, sah man mal von Jan ab und der zählte nicht, weil er ein Kollege war, der zudem noch auf demselben Revier wie Felix arbeitete. So etwas wie richtige Freunde, rein private, überlegte er, hatte er wohl zuletzt während der Schulzeit gehabt, und an diese Zeit hatte er mittlerweile höchstens noch ein paar verschwommene Erinnerungen. Ein Mal (das erste und zugleich letzte Mal) war er sogar zu einem der jährlich stattfindenden Klassentreffen gegangen, nachdem ihn irgendein ehemaliger Klassenkamerad im Internet ausfindig gemacht und lange genug genervt hatte. Dort hatte er kaum einen der Menschen, mit denen er angeblich jahrelang die Schulbank gedrückt haben sollte, wiedererkannt, aber sehr schnell die Fassade durchschaut, welche fast jeder der dort Anwesenden vor sich hergeschoben hatte, einige außerdem mächtige Bierbäuche. Ein ehemaliger Sitzenbleiber brüstete sich beispielsweise mit seiner angeblich bestens laufenden Firma, die vorgeblich Lackschäden an Autos entfernte und verbeulte Bleche ausdellte. Als Felix aus lauter Langeweile Interesse an diesem Geschäftsmodell geheuchelt hatte, hatte der andere sich zwinkernd zu ihm herübergebeugt und ihm sein wahres Erfolgsgeheimnis anvertraut: In Wahrheit finanzierte sich die Firma über Autoschiebereien nach Osteuropa. Befragt danach, was er denn so beruflich mache, hatte Felix ausweichend etwas von ›Beamter‹ genuschelt, woraufhin der Gesprächsfluss des kriminellen Plappermauls sofort verstummt war. Ein anderer hatte ganz offensichtlich eine Affäre mit einer ehemaligen Schülerin, beide waren jedoch anderweitig verheiratet, wie Felix nach einem Blick auf ihre Ringfinger festgestellt hatte, wo noch die Spuren der Eheringe zu sehen waren, die sie vermutlich just zu diesem Anlass abgenommen hatten. Später waren die beiden gemeinsam aufs Klo verschwunden, aber das hatte Felix kaum noch mitbekommen, weil er bereits Stunden zuvor begonnen hatte, seine Wahrnehmung in Alkohol zu ertränken. Das war es wohl, das verhinderte, dass er mit irgendwem all zu vertraut wurde: Es gelang ihm einfach nie, den Bullen in sich einfach mal abzuschalten. Wie bei dieser Sache mit Saskia und den Pillen. Als ihn dann einer der betrunkenen ehemaligen Klassenkameraden an diesem Abend auch noch zwinkernd darauf angesprochen hatte, was eigentlich aus seiner hübschen Schwester geworden sei, da hatte Felix prompt die Flucht ergriffen. Hätte er das nicht getan, hätte er den Frager vielleicht an Ort und Stelle krankenhausreif geschlagen. Anschließend war er stundenlang ziellos und halb betrunken herumgefahren, und hatte sich dafür verflucht, auf Saskia gehört und sein Segelboot verkauft zu haben. Er hätte die Abgeschiedenheit eines abendlichen Segelturns in diesem Moment gut gebrauchen können.
»Hallo-ho?«, riss die wütende Mäusestimme ihn aus seinen Gedanken.
»Ja, bin noch dran«, sagte Felix. »Ich mach mich jetzt auf den Weg. Bin gleich bei euch.«
»Na hoffentlich. Und lass die Einkäufe nicht wieder im Büro liegen!«
»Natürlich nicht. Bis gleich, ich …«
Aber da hatte Saskia schon aufgelegt. Saskia, die Schöne, die Begehrte und allseits Beliebte, die jetzt den am als hatte, zu dem er nach der Sache in Hamburg geworden war. Saskia, die Pillen unter ihrer Unterwäsche versteckte, in dem Glauben, dass Felix dort als Allerletztes nachsehen würde. Aber er hatte nachgesehen, und seitdem verfluchte er sich dafür. Und dafür, das Segelboot und damit seinen letzten wirklichen Rückzugsort verkauft zu haben. Als er noch gesegelt war, hatte er vom Meer aus manchmal auf die Bucht geschaut, die Steilklippe und die abgebrannte Ruine seines Elternhauses. So war er seinen Gedanken nachgehangen, hatte blicklos auf das Ufer gestarrt und dabei zugesehen, wie es sich immer weiter von ihm zu entfernen schien. Manchmal war er erst Stunden später wieder zu sich gekommen, als die Sonne bereits am Horizont versank, und hatte erschrocken festgestellt, dass er die Zeit völlig vergessen hatte. Aber er hatte sich stets besser gefühlt nach einem solchen Segelturn. Ausgeruht, erfrischt. Und mit dem Gefühl, dass doch alles irgendwie einen Sinn ergeben würde. Irgendwann.
Er schüttelte die Gedanken ab und machte sich auf den Weg. Höchste Zeit.