Alteneck. Dünenforst
D
er Mann hatte sich eingenässt.
»Los, vorwärts!«, zischte die Stimme in seinem Rücken, also stolperte er weiter voran. Er wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, sich umzudrehen, um herauszufinden, wer ihn da vor sich her bugsierte – und das hätte auch gar nichts gebracht. Das Gesicht der Gestalt war komplett hinter einer grauenerregenden Maske mit riesigen Augen und einer Art Rüssel verborgen, was ihr das Aussehen eines überdimensionalen Insekts verlieh. Sie trug einen schwarzen Regenponcho, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte, schwarz glänzend wie der Chitinpanzer eines Käfers.
»Weiter! Da rein!«
Die Maske dämpfte die Stimme der Gestalt, sodass diese jetzt kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Der Mann kam jedem der gezischten Befehle trotzdem sofort nach, denn er spürte bei jeder Bewegung die Spitze des langen Bratenmessers in seinem Rücken, und das trieb ihn zu noch größerer Eile an. Die Beine seiner Hose klebten an den Innenseiten seiner Schenkel fest, doch er bemerkte es kaum, während er immer weiter watschelte. Er hatte jede Orientierung längst verloren. Sah nur die Bäume, die ihre toten Zweige in den grauen Nachthimmel reckten wie skelettierte Leichenfinger. Spürte nur das Messer in seinem Rücken.
Und die Angst, die schreckliche Angst.
Er hatte sich immer noch nicht mit der Tatsache abgefunden, dass das hier wirklich passierte. Noch immer versuchte er, sich mit dem Gedanken zu trösten, lediglich einen schrecklichen Albtraum zu durchleben. Einen sehr intensiven, ja – von den Medikamenten passierte das manchmal – , aber nichtsdestotrotz nur ein Traum, aus dem er irgendwann wieder erwachen würde.
Aber es war kein Traum, denn er war geweckt worden. Jemand hatte ihm die Hand auf den Mund gehalten. Als er nach Luft schnappend aus dem Schlaf hochgefahren war, hatte die Gestalt neben seinem Bett gestanden, schwarz und hoch aufgeschossen, wie eine böse Spukgestalt. Er hatte den Mund weit geöffnet, um die so dringend benötigte Luft in seine Lungen zu saugen, doch da wurde ihm etwas zwischen die Zähne gepresst – ein Stofffetzen, der nach Staub schmeckte und nach altem Öl. Einen Augenblick später wurden ihm mehrere Streifen Klebeband auf den Mund geklebt, sodass er den Stoffknebel nicht mehr ausspucken konnte. Dann hatte die Gestalt ihm die Klinge an den Hals gesetzt und ihn ein bisschen geritzt, um die Schärfe der Waffe zu demonstrieren. Von da an war er jedem Befehl sofort nachgekommen. Ohne nachzudenken, hatte er einfach reagiert, wie ein Roboter.
»Stehenbleiben!«
Der Mann tat es und mit ruppigen Bewegungen wurde ihm das Klebeband vom Kopf gerissen, und ein paar Büschel seines Haares gleich mit. Dann zog ihm eine behandschuhte Hand mit einer blitzschnellen Bewegung den Stofffetzen aus dem Mund. Für einen Augenblick gab der Mann sich der Hoffnung hin, dass man ihn nun hier zurücklassen würde. Allein in diesem furchtbaren Wald, weit weg von der Sicherheit der mütterlichen Wohnung, aber immerhin am Leben.
Doch er wurde enttäuscht.
»Da lang«, vernahm er die Stimme hinter sich und dann wurde er nach rechts geschubst, wo er im Mondlicht einen kleinen Trampelpfad erkennen konnte. Dahinter kam nur noch die Finsternis zwischen den Bäumen und dem Mann wurde mit Entsetzen klar, dass dies der letzte Moment für einen normalen Menschen gewesen wäre, sich seinem Gegner zu stellen – mit geringen Erfolgsaussichten, natürlich, aber immerhin wäre es einen Versuch wert gewesen. Für einen normalen
Menschen. Nicht für ihn allerdings, denn er war seit seiner Kindheit verkrüppelt, das war seine
Normalität.
Seine Arme waren kaum mehr als nutzlose Stummel, die schlaff an seinen Schultern herabhingen, ein Resultat des Beruhigungsmittels Contergan
, das seine nichtsahnende Mutter während ihrer Schwangerschaft eingenommen hatte – wie tausende Andere. Er hatte sich längst mit seinem Aussehen abgefunden, sich an den Spott gewöhnt, er hatte Jahrzehnte Zeit dazu gehabt. An das Entsetzen, das ihm entgegenschlug, wenn er sich auf der Straße blicken ließ. An die Andersartigkeit, die er für die so genannten Normalen ausstrahlte. An die erschrockenen Blicke der Kinder, und – weit schlimmer – an das Lachen der Mädchen in seiner Jugend. An die ›Hey,
T-Rex!‹-
Rufe. Das alles traf ihn schon seit Jahren nicht mehr wirklich, an eines jedoch hatte er sich nie so recht gewöhnen können – an seine Abhängigkeit von Anderen. Er wohnte immer noch bei seiner Mutter, die für ihn sorgte und ihn drei Mal täglich füttern musste – sonst wäre er schlicht verhungert. Seinen Vater hatte er nie wirklich kennengelernt, der war auf Nimmerwiedersehen verschwunden, als er begriffen hatte, dass sein Kind nie
ein normales Kind sein würde, da war er schon etwas über ein Jahr alt gewesen. Auch seinem Vater machte er inzwischen keine Vorwürfe mehr. Der Mensch ist fähig, sich an fast alles zu gewöhnen.
Doch nun trieb ihn jemand mit einem gefährlich scharfen Bratenmesser zur Eile an – ein Unbekannter, der nichts Gutes im Schilde führte, so viel stand fest. Und dem genügte es offenbar nicht, zu spotten oder sich angewidert abzuwenden. Der hatte ganz andere Pläne mit ihm.
»Ich … ich brauche meine Medikamente«, stammelte der Mann, doch seine Stimme verhallte im Wind, als wäre gar niemand sonst da, sie zu hören. Wäre der stetige Druck des Messers gegen seine Nieren nicht gewesen, er hätte auch allein hier sein können, nachts im Wäldchen.
»Stehenbleiben«, raunte die Stimme schließlich, zur Unkenntlichkeit verzerrt durch den Filter der Maske. »Wir sind da.«
Sie waren an einer Eiche angekommen, zumindest glaubte der Mann, dass es eine Eiche war. Jedenfalls ein großer Baum.
»Ich brauche meine Medikamente«, versuchte er es noch einmal, jetzt im bewusst weinerlichen Ton. Wurde wieder zum Kind, hilflos, ungeschützt. Doch das schien sein Gegenüber nur noch mehr in Rage zu versetzen. Er kassierte einen kräftigen Tritt, taumelte und plumpste ungeschickt auf seinen Hintern. Ausdrucksloses Starren hinter den Gläsern der Maske war die Antwort auf seine Unbeholfenheit. Nein
, dachte er. Hier ist kein Mitleid zu erwarten. Und schon gar keine Gnade.
Die Gestalt mit der Maske schien seine Gedanken gelesen zu haben. Eisiger Stahl blitzte auf, und da bemerkte der Mann abwesend, dass sich der Vollmond darin spiegelte. Ein kalter, bleicher Vollmond, der seine matten Strahlen zur Erde sandte, auf die er genauso mitleidlos herabstarrte wie die Augen hinter der Maske. Der Mann schloss die Augen, Tränen rannen über seine Wangen.
Dann biss das Messer zu und der Mann begann zu schreien. Er würde noch oft und für eine lange Zeit schreien, bis ein finaler Stich ins Herz ihn endlich von dem Wahnsinn erlöste, der dann bereits von seiner Seele Besitz ergriffen haben würde, doch außer den Ohren hinter der Maske würde ihn niemand hören. Es war niemand ringsum im Wald. Keine Menschenseele.