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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix und Saskia Hübler
» D u hast dich mal wieder benommen wie ein Arsch!«, fauchte Saskia ein paar Stunden später, als ihre Gäste, nun bereits in deutlich angetrunkenem Zustand, sich endlich ein Taxi gerufen und gegangen waren. »Nicht mal das scheiß Essen konntest du besorgen – was stimmt denn bloß nicht mit dir, Mensch?« Und damit entschwand seine Ehefrau Richtung Schlafzimmer.
Gute Frage , dachte Felix. Du meinst, außer, dass ich gelegentlich meine tote Schwester zwischen irgendwelchen Kühlregalen im Supermarkt stehen sehe? Nichts ist los, natürlich. Aber irgendwie hätte ich gerade nicht übel Lust, dir dieselbe Frage zu stellen, meine liebe Ehefrau. Doch er hielt die Klappe und blieb, wo er war. Schließlich hatte er im Laufe das Abends ebenfalls kräftig dem Wein zugesprochen und deutlich mehr intus, als in einer Situation wie dieser gut sein konnte. Das hier war schon hässlich genug, kein Grund, noch mehr irreparable Schäden in die Fassade ihrer Beziehung zu schlagen. Er würde morgen drüber nachdenken. In Ruhe. Wenn er nüchtern war, und dann mit Saskia reden.
Nicht jetzt, an diesem Abend, und welch ein absurder Abend das gewesen war. Sabine, die darauf bestand, dass man sie Bine – oder gern auch Binchen, gegen Flittchen hätte sie vermutlich auch nichts gehabt – nannte, hatte nach Kräften und vollkommen schamlos mit Felix geflirtet, und als sie beide ausreichend hinüber waren, hatte er sogar über einige ihrer flachen Scherze gelacht und Erwiderungen zum Besten gegeben, die er für einigermaßen schlagfertig und geistreich gehalten hatte.
Saskia hatte innerlich gekocht, das war ihr all zu deutlich anzusehen gewesen, und Tobias hatte ihr ständig besänftigende Blicke zugeworfen, was Felix noch rasender gemacht hatte. Lass die Kinder doch ein bisschen herumtollen, schienen die Blicke des Blödians zu sagen, die kommen schon wieder zur Vernunft. Was für ein dämlicher Fatzke.
Das war aber – erstaunlicherweise – noch nicht der Tiefpunkt des Abends gewesen. Der kam erst, als Saskia eine spitze Bemerkung machte, weil Nadines Kopf zum wiederholten Male scheinbar aus Versehen gegen Felix’ Brust gerutscht war und sie beim Versuch, sich wieder aufzurichten, immer wieder kichernd seinen Bizeps betastet hatte. Felix hatte ihn diesmal sogar angespannt, was Binchen ein wohliges Seufzen und Saskia die spitze Bemerkung entlockt hatte, ob sie es denn gleich hier auf dem Sofa treiben wollten, oder sie ihnen das Schlafzimmer schon mal zurechtmachen sollte.
Da hatte Felix irgendetwas von ausgleichender Gerechtigkeit gemurmelt und das hatte ungefähr den Effekt gehabt wie ein Funkenschlag in einem mit Knallgas gefüllten Raum. Saskia war aus dem Wohnzimmer gestürmt, die Schlafzimmertür hatte geknallt und nachdem sich alle reihum für ein paar Sekunden mit betretener Miene angeschaut hatten, war Tobias schließlich aufgestanden und hatte sich hastig verabschiedet. Er hatte seine mittlerweile kräftig lallende Freundin, die lauthals auf einem Abschiedskuss mit Felix bestand, wortlos zur Haustür geschleift und kurz darauf waren die Eheleute Hübler wieder allein gewesen – beziehungsweise jeder für sich, in getrennten Zimmern.
Und wenig später dann auch in getrennten Betten.
Die Schlafzimmertür öffnete sich einen Spalt, ein Kopfkissen und eine Bettdecke flogen in den Flur, dann schloss sich die Tür wieder, und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Kopfschüttelnd sammelte Felix das Bettzeug vom Teppich auf, wankte ins Wohnzimmer zurück, das nach abgestandener Luft und Alkohol stank, und warf sich auf die Couch. Eigentlich hätte er sofort einschlafen müssen, so hinüber fühlte er sich, doch dann kamen ihm wieder die Pillen in den Sinn, wie so oft in letzter Zeit, wenn er einzuschlafen versuchte. Die Pillen, und Tobias, der Verständnisvolle, der im Leben angekommene – sah man von seinen Beziehungen ab, die allesamt verdammt nach einer handfesten Midlifecrisis aussahen.
Das alles zog immer wieder vor Felix’ geistigem Auge vorüber wie ein böser Geist, der einfach keine Ruhe geben will. Tobias und die versteckten Pillen, und Binchen , die den Eindruck machte, es sei völlig normal, sich dem nächstbesten Kerl an den Hals zu schmeißen, während ihr Freund danebensitzt. Das Binchen , das derlei Dinge offenbar ausgesprochen locker sah. Aber vor allem waren es die Pillen, zu denen seine kreiselnden Gedanken immer wieder zurückkehrten.
Er und Saskia hatten sich Kinder gewünscht, schon immer, von Anfang an. Das hatte nie zur Debatte gestanden, auch wenn der Wunsch ursprünglich vielleicht tatsächlich ein bisschen mehr von Felix ausgegangen war. Erst heiraten wir , hatte Saskia gesagt, und dann Kinder. Ein Mädchen und ein Junge, am besten. Klar, hatte Felix gesagt, also hatten sie geheiratet und dann versucht, Kinder zu bekommen. Zumindest anfangs, die ersten ein, zwei Jahre, und alles war eitel Sonnenschein gewesen – verlängerte Flitterwochen , hatten sie oft gescherzt, und gar nicht genug voneinander bekommen können, obwohl man ja von allerlei Vorurteilen hörte, was den Sex nach der Eheschließung betraf. Nicht so bei ihnen, sie waren ständig wie zwei ausgehungerte Teenager übereinander hergefallen. Aber da war Felix noch Erster Hauptkommissar in Hamburg gewesen, und auf dem Weg nach ganz oben. Auf einer vielversprechenden mittleren Sprosse einer nach oben nahezu offenen Karriereleiter, doch dann …
Dann war alles zu Bruch gegangen.
Natürlich hatten sie auch nach ihrer Rückkehr nach Alteneck noch gelegentlich über Kinder geredet. Natürlich hatten sie da auch noch Sex gehabt. Hin und wieder, dann aber seltener, und weniger leidenschaftlich, und schließlich kaum noch ein Mal im Monat, manchmal auch gar nicht.
Weil Saskia sich nicht wohl fühlte.
Hatte sie gesagt.
Weil sie ihre Tage hatte. Kopfschmerzen. Abgespannt war, und müde. Migräne. Stress. Die viele Arbeit.
Und Felix, der immer öfter immer später nach Hause kam. Und sich dann eben andere Vergnügungen suchte, die meisten davon abgefüllt in bauchige Flaschen. Auch das hatte ganz allmählich angefangen, aber dann zunehmen Fahrt aufgenommen.
Wie eine Lawine, die anfang auch nur ein unscheinbarer Schneeball war.
Und dann hatte er die Pillen gefunden, unter ihrer Unterwäsche. Er hatte die Packung herausgeholt, ungläubig auf den Aufdruck gestarrt, und zuerst geglaubt, dass er sich verlesen haben musste. Dass es sich um Kopfschmerztabletten handelte.
Aber warum hätte sie die vor ihm verstecken sollen?
Es waren keine Kopfschmerztabletten gewesen. Was er in ihrer Schublade unter ihrer Wäsche gefunden hatte, waren Anti-Baby-Pillen gewesen.