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Alteneck, Dünenforst
F elix stellte fest, dass es tatsächlich sehr einfach war, die von Möller bezeichnete Stelle in dem kleinen Nadelwäldchen zu finden, das den etwas irreführenden Namen Dünenforst trug – die nächste Düne befand sich in über fünf Kilometer Entfernung. Das zuckende Blaulicht des Einsatzwagens war schon von der Hauptstraße aus zu sehen und Felix musste nicht weit auf dem kleinen, von Tannenzapfen übersäten Waldweg fahren, um auf das erste Hindernis in Form eines Streifenpolizisten zu treffen, der ihn erst aufzuhalten versuchte, dann aber hastig durchwinkte, als er ihn erkannte. Felix konnte der blassgrünen Gesichtsfarbe des Kollegen all zu deutlich ansehen, dass dieser bereits am Auffindeort der Leiche gewesen und jetzt froh war, hier her versetzt worden zu sein. Möglichst weit weg von dem, was da gefunden worden war – und bei dem es sich nur um das neueste Werk des Verstümmlers handeln konnte.
Felix parkte seinen Wagen am Waldrand und stieg aus. Er bemerkte, dass Polizeirat Möller in einem Streifenwagen saß, wo er anscheinend irgendetwas enorm Wichtiges auf seinem Handy zu tippen hatte. Als er den Blick hob und Felix bemerkte, gab er ihm durch Gesten zu verstehen, sich schleunigst in Richtung Tatort zu bewegen. Der verkniffene Ausdruck im blassen Gesicht seines Chefs gab Felix einen weiteren Hinweis darauf, was er dort zu erwarten hatte. Er hob das im Wind flatternde Absperrband an und bückte sich darunter hindurch wie ein Boxer, der in den Ring steigt, und irgendwie passte der Vergleich ganz gut: Dieses war die vierte Runde und bis jetzt sah alles nach einem klaren Punktsieg für den Killer aus.
Die in weiße Schutzanzüge gehüllten Kriminaltechniker der Spurensicherung waren bereits vor Ort und damit beschäftigt, überall kleine bunte Fähnchen in den Boden zu rammen. Während Felix sich von einem Assistenten mit einem eigenen Schutzanzug, inklusive grüner Überzieher für seine Schuhe und blauen Latexhandschuhen ausstatten ließ, löste sich eine Gestalt aus der weiß vermummten Schar und kam auf ihn zu. Es war Jan, wie Felix erkannte, als dieser den Mundschutz für einen Augenblick abnahm, und ihn dann gleich wieder aufsetzte, um eine Verunreinigung des Tatorts mit seiner eigenen DNA zu verhindern. Auch Felix setzte eine solche Maske auf. Sie wünschten sich mit durch die Atemmasken gedämpften Stimmen einen guten Morgen.
»So schlimm?«, fragte Felix und deutete auf die emsigen Spurensicherer.
»Schlimmer«, antwortete Jan. »Ein Jogger hat am frühen Morgen ein weiteres Opfer gefunden.«
»Es sind immer die Jogger, die sie finden, wie?«, fragte Felix. »Oder die Pilzsammler.« Doch auch in seinen Ohren klang der Versuch, die angespannte Atmosphäre durch eine witzige Bemerkung aufzulockern, gekünstelt. Sie waren hier eben doch nicht in einer Fernsehserie, sondern an einem echten Schauplatz eines Tötungsverbrechens. Jan ignorierte Felix’ Bemerkung, während er voranging – auf einem Pfad, der offenbar schon von der Kriminaltechnik freigegeben worden war. Felix bemühte sich, peinlich genau in Jans Fußstapfen zu folgen.
Nach ein paar Minuten hatten sie eine kleine Lichtung erreicht, auf der ein einzelner Baum auf einer kleinen Anhöhe stand. Um diesen Baum waren die meisten Polizisten versammelt, wenn auch jeder einzelne von ihnen sich Mühe zu geben schien, nicht in Richtung des Baumes zu blicken, oder vielmehr auf das, was daran befestigt war. Felix vernahm ein würgendes Geräusch und bemerkte einen jüngeren Kollegen, der etwas abseits stand, den Mundschutz auf die Stirn geschoben und damit beschäftigt war, einen Plastikeimer in zyklischen Abständen mit den Resten seines Frühstücks zu befüllen. Prima , dachte Felix. Wenn der so weiter macht, fangen wir gleich alle an zu kotzen und dann hat es sich was mit einem sauberen Tatort. Wobei sauber irgendwie ganz und gar nicht der passende Begriff für diesen Tatort war.
Was an dem Baum hingen, waren die zerstörten Überreste eines Menschen. Tatsächlich war getötet ein völlig unzureichender Begriff für das, was man mit dem Mann gemacht hatte, was allein aus der Tatsache sprach, dass Felix mehrmals hinsehen musste, um die von inzwischen verkrustetem Blut bedeckte Leiche überhaupt als männlich identifizieren zu können. Er ging ein wenig näher heran, wobei er sehr genau in sich hineinlauschte, um im Falle, dass es ihm ähnlich erging wie dem jüngeren Kollegen, sich noch schnell nach einem eigenen Plastikeimer umsehen zu können. Daher war es vielleicht von Vorteil, dass sein heutiges Frühstück lediglich aus dem starken Kaffee bestanden hatte, den ihm Helene Seeger vorgesetzt hatte.
Anhand der verhältnismäßig breiten Schultern und der eindeutig männlichen Brust gelang es Felix dann doch, das Geschlecht der Leiche zu bestimmen. Anders war das auch gar nicht möglich, weil dort, wo sich dessen primären Geschlechtsteile hätten befinden sollen, ein gewaltiges rotes Loch klaffte, das vom Unterbauch bis zu den Schenkelansätzen reichte. Jemand hatte den Penis des Mannes regelrecht aus seiner Körpermitte herausgehackt .
Offenbar hatte das dem Täter jedoch noch nicht genügt, denn mit dem Gesicht der Leiche war Ähnliches veranstaltet worden. Anstatt der Augen starrten zwei tiefe Löcher blicklos ins Leere, die Nase war augenscheinlich zertrümmert worden und …
»Gott«, ächzte Felix. »Was ist denn mit seinem Mund passiert?«
Dort, wo der hätte sein müssen, hingen lediglich zwei blutige Hautlappen auf die Brust des Mannes, was den Eindruck eines unnatürlich weit aufgerissenen Mundes vermittelte, wobei aufgerissen hier wörtlich zu nehmen war.
»Sein Unterkiefer fehlt komplett«, antwortete Jan mit tonloser Stimme. »Der wurde inklusive Gelenk entfernt. Herausgerissen, sagen die Jungs von der Spurensicherung, vermutlich mit einer Zange oder einem ähnlich gearteten Grobwerkzeug, weil …«
Jan gab ein würgendes Geräusch von sich.
»Die Kraft reicht sonst nicht aus«, ergänzte Felix und Jan nickte. »Man kriegt sowas nicht mit bloßen Händen hin.«
Jan, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte, nickte. »Die obere Zahnreihe wurde komplett zerstört, alle Zähne ausgeschlagen, vermutlich mit dem selben Werkzeug, eine große Rohrzange oder so würde sich dazu vermutlich eignen. Die Spurensicherung hat Teile der zertrümmerten Zähne und des Oberkiefers gefunden, aber so, wie das aussieht, werden die eine ganze Weile damit beschäftigt sein, das soweit zusammen zu puzzeln, dass sich ein Teilabdruck seines Gebisses vergleichen lässt. Falls das überhaupt möglich ist, heißt das.«
»Scheiße«, brummte Felix unter dem Mundschutz hervor. Er hatte soeben entdeckt, dass die Leiche blonde, halblange Haare hatte. Allerdings war der Großteil davon derart mit Blut verklebt, dass sich das nur schwer erkennen ließ. Felix taumelte einen Schritt zur Seite.
»Geht’s wieder?«, fragte Jan und hielt ihn am Arm fest.
»Ja, schon gut«, sagte Felix. Nichts ist gut , dachte er. Das Alter kommt hin, der Körperbau vermutlich auch, und dann noch diese blonden Haare. Das hier ist Ulrich Seeger, verdammte Scheiße! Und wir haben diese Vermisstenmeldung auf Möllers Anweisung hin ignoriert. Haben die vorgeschriebenen vierundzwanzig Stunden ungenutzt vergehen lassen, die dieses Monster dazu genutzt hat, um ihm das hier anzutun.
Der Mann – beziehungsweise, was von dem Mann noch übrig war – hing splitternackt an dem Baum und war offenbar – davon zeugte das senkrecht herabgeströmte Blut – noch vor seinem Tod an dem Stamm befestigt worden, indem man ihn an einem Seil, das um seine Brust und die Achselhöhlen geschlungen war, hochgezogen hatte. Dieses Seil hatte man offenbar um einen Ast gewunden und diesen dann als eine Art Flaschenzug benutzt, und es anschließend an einem zweiten Baum verknotet. Ein zweites Seil war um den Bauch des Mannes und den Stamm des Baumes geschlungen – vermutlich, damit er für die folgende Folterung stillhielt. Also musste er da noch gelebt haben, was auch zu den Unmengen Blutes passte.
»Und niemand hat etwas gehört?«, fragte Felix. »Der Mann muss doch vor Schmerzen gebrüllt haben.«
»Die Spurensicherung hat in seinem Gaumen – also dem, was noch davon übrig ist – Reste eines Leinenstoffs gefunden. Vermutlich von einem Tuch, das ihm der Täter als Knebel in den Mund gestopft hat.«
Sie schwiegen beide für einen Moment. Das, was bisher keiner von beiden angesprochen hatte, war die vielleicht groteskeste Verstümmelung des Leichnams und diese war vermutlich diejenige, die den letzten Zweifel daran ausräumte, wer das hier nur getan haben konnte. Auch diese Verstümmelung würde, ebenso wie die entfernten Zähne, Geschlechtsteile und der zertrümmerte Oberkiefer, die Identifikation des Opfers erheblich erschweren – dem Mann fehlten beide Arme.