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Polizeirevier Alteneck
D er Psychologe wirkte, als sei er gerade im vorletzten Semester seines Studiums und jemand hätte ihn für ein Praktikum eingeladen, damit er mal ein richtiges Polizeirevier von innen sehen konnte. Das war zumindest Felix’ erster Eindruck von dem Mann, während er mit einem Ohr den lobhudelnden Ausführungen seines Chefs über den sogenannten Profiler mit dem hochtrabenden Namen Doktor Bertram von Witten lauschte. Angeblich war der junge Mann, dessen Namen bei Felix unwillkürlich das Bild eines mittelalterlichen Minnesängers in Strumpfhosen heraufbeschwor, ein Polizist mit einem – selbstverständlich bereits abgeschlossenen – Psychologiestudium und enormer Praxiserfahrung, trotz seines jungenhaften Auftretens. Das hatte zumindest Möller behauptet, als er ihnen den Jüngling, der extra aus Hamburg eingeflogen worden war, voller Stolz präsentiert hatte. Von Witten war hauptsächlich an der Hamburger Uniklinik in der Abteilung für Forensische Psychologie tätig, unterstütze die Polizei jedoch gelegentlich in beratender Funktion. Ein Job, der dem wohl noch am nächsten kam, das landläufig unter der Bezeichnung Profiler bekannt war, dank einschlägiger US-amerikanischer Krimiserien. Dem Psychologen war allerdings zu gute zu halten, fand Felix, dass ihm diese Vorführsituation offenbar genauso peinlich war wie den meisten der anderen Anwesenden, ausgenommen natürlich Möller, der vor Stolz beinahe zu platzen schien. Und – auf jeden Fall ein weiterer enormer Vorteil angesichts der Umstände – er war dem Kerlchen während seiner Zeit in Hamburg nie begegnet. Mit etwas Glück hatte der auch noch nie von Felix Hübler, dem nach Alteneck Strafversetzten, gehört, aber da machte sich Felix wenig Hoffnung. Sein Beinahe-Rauswurf aus dem Polizeidienst war vermutlich immer noch der running gag unter den Kollegen in Hamburg und Umgebung.
»Also«, beendete Möller die langwierige Einführung und sah erwartungsvoll in von Wittens Richtung. »Was machen Sie sich aus dem Fall, lieber Kollege?«
»Ich würde ganz gern versuchen, die Fakten zusammenzufassen, die wir bisher vom Profil des Täters haben«, sagte der Psychologe. »Bitte hören Sie alle aufmerksam zu und ergänzen Sie am Ende meiner Ausführungen, wenn Sie der Meinung sind, dass ich etwas nicht erwähnt haben sollte.«
Immerhin scheint der junge Mann ja mal so etwas wie einen Plan zu haben , musste Felix im Stillen zugeben. Was ihn schon mal wohltuend von Möller abhebt, zum Beispiel.
Nachdem er in knappen und präzisen Worten die Fakten aufgezählt hatte, die nach den mittlerweile vier Leichenfunden zusammengekommen waren, machte sich der Psychologe an etwas, das er eine vorsichtige Interpretation der Fakten nannte, verbunden mit der Bitte an die anwesenden Ermittler, sich davon nicht all zu sehr im Fortgang der Untersuchungen beeinflussen zu lassen.
Der wird mir ja immer sympathischer , dachte Felix, während er mit einiger Genugtuung Möllers länger werdendes Gesicht beobachtete, der sich von dem Profiler vermutlich einen konkreteren Hinweis und damit eine rasche Aufklärung des Falls erwartet hatte, im Sinne von: ›Suchen Sie nach einem Mann, zweiundfünfzig Jahre alt, schwarze Haarfarbe und einer Vorliebe für kostspielige Weinsorten, wohnhaft in Lübeck, der als Kind öfter eingenässt hat. Und, ach ja, der Gesuchte ist auf jeden Fall Brillenträger und fährt höchstwahrscheinlich einen grünen Passat.«
Aber natürlich war das Unfug, und alles, was ein Profiler ermitteln konnte, bestenfalls eine den Fakten entsprechende Vermutung, wie diesem wohl bewusst war. Aber das ist immerhin besser als das große Nichts, was wir bisher zusammengetragen haben.
»Die steigende Brutalität der Taten zeugt vor allem davon, dass in dem Täter eine tiefe Wut schwelt«, sagte der Psychologe. »Und das schon seit geraumer Zeit. Eine alte Wut, die er bisher erfolgreich unterdrückt hat – möglicherweise mit Hilfe von Medikamenten oder Therapien, eventuell selbst verschrieben – und die nun in vollem Umfang zum Ausbruch kommt.«
»Also können wir davon ausgehen, dass er auch schon vorher solche Sachen gemacht hat?«, fragte Möller und blickte dann lobheischend in Richtung des Psychologen, von dem er sich offenbar eine volle Bestätigung seiner These erwartete.
Der tat ihm den Gefallen jedoch nicht und schüttelte stattdessen nachdenklich den Kopf. »Das ist natürlich nicht auszuschließen, aber aufgrund des engen Zeitrahmens und der starken Zunahme der Gewalt von Fall zu Fall glaube ich eher nicht, dass der Täter damit bereits früher aktenkundig geworden ist. Vielleicht hat er sich vorher an Tieren ausgetobt, oder alles immer wieder in seiner Fantasie durchgespielt, aber dies hier ist ziemlich sicher das erste Mal, dass er die Kontrolle so derart verloren hat. Aber er hat festgestellt, dass es ihm gefällt – viel zu sehr, als dass er damit aufhören könnte oder es sich um einen zeitlich begrenzten Schub handeln würde. Wenn er solche Episoden schon früher gehabt hätte, bezweifle ich, dass er damit durchgekommen wäre, um dann einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Und selbst wenn, hätten sich vergleichbare Fälle in der Datenbank finden müssen, was sie aber nicht getan haben, das habe ich bereits überprüft.«
Verdammt , dachte Felix, was der da erzählt, mag uns zwar nicht direkt zum Täter führen, aber es ergibt doch jede Menge Sinn, und außerdem macht der Typ offensichtlich wirklich seine Hausaufgaben. Warum haben wir den nicht schon von Anfang an dabei gehabt?
»Ja, und?«, fragte Möller, der seine Abfuhr offenbar nicht so recht überwunden hatte, in barschem Ton. »Was bringt uns das jetzt?«
»Gleich, Herr Kollege«, sagte von Witten mit einer Seelenruhe, die Möller die Zornesröte ins Gesicht trieb. Offenbar ist der junge Mann mit deutlich mehr Wassern gewaschen, als das seine optische Erscheinung auf den ersten Blick vermuten lässt , dachte Felix vergnügt. »Wir wissen weiterhin«, setzte von Witten seine Ausführungen fort, »dass sein Wahnsinn eine gewisse Methode hat. Seine Opfer sind mit Bedacht gewählt, sie entsprechen alle dem gleichen Beuteschema.«
»Aber das wissen wir doch überhaupt nicht!«, unterbrach Möller, doch von Witten ließ sich auch davon nicht aus dem Konzept bringen.
»Doch«, widersprach der junge Psychologe ungerührt. »Vorhin kamen die Befunde aus der Rechtsmedizin rein, das vorletzte Opfer betreffend. Der Mann, den der Täter in diesem Fahrradanhänger in die Dünen gekarrt hat. Doktor Zilonka, der zuständige Rechtsmediziner, hat festgestellt, dass man dem Opfer mit einem langen Bohrer in beide Gehörgänge gebohrt hat. Der Mann war allerdings bereits seit seiner Geburt gehörlos. Seine Ehefrau musste ihn unterstützen und in gewissem Sinne war er damit wohl auch eine Art Pflegefall.«
»Das ist mir aber neu!«, rief Möller zornig. »Wieso erfahre ich das erst jetzt?«
»Die Mail ging heute in den frühen Morgenstunden raus«, sagte von Witten. »Die Rechtsmedizin hat die Nacht durchgearbeitet, um uns die Erkenntnisse so schnell wie möglich präsentieren zu können.«
»Verstehe«, brummte Möller. Ja , dachte Felix, exakt die frühen Morgenstunden, in denen du dich noch einmal im Bett herumgedreht hast, Herr Polizeirat Möller, als ob die Welt da draußen dich einen Scheißdreck anginge.
»Da dem letzten Opfer beide Arme entfernt wurden, gehe ich davon aus, dass man auch in diesem Fall eine entsprechende Behinderung herausfinden wird«, fuhr von Witten fort. »Aber das ist, aus meiner Sicht, gar nicht der springende Punkt. Um ein Verständnis für den Täter und seine Taten aufzubauen, muss man sich ein ganz wesentliches Alleinstellungsmerkmal vor Augen halten: Den Wechsel zwischen minutiöser Planung und unkontrollierter Wut. Noch mal: Er wählt sich seine Opfer mit Bedacht aus, beschattet sie, vermutlich über mehrere Tage oder Wochen. Vielleicht hatte er sich in dieser Hinsicht schon längst festgelegt, bevor die Morde begannen. Um diesem Muster treu zu bleiben, nimmt er sogar längere Fahrten in Nachbarorte in Kauf, aber alle Opfer tauchen letztlich in Alteneck wieder auf, egal, woher sie stammen. Was darauf schließen lässt, dass auch dieser Ort für ihn eine wichtige Rolle spielt. Da geht er also überaus planvoll vor.«
»Aber die Verstümmelungen«, unterbrach Felix den Psychologen, was ihm auf der Stelle einen wütenden Blick von Möller einbrachte. »Daran sieht ja nun gar nichts planvoll aus.«
»Gut, dass Sie das sagen«, erwiderte von Witten. »Denn da wird es aus meiner Sicht wirklich interessant. Er wählt sich also ganz bewusst hilflose Opfer aus, bringt sie dann an einen abgelegenen Ort –– hierbei bitte ich zu beachten, dass dabei manchmal Tatort und Auffindeort der Leiche übereinstimmen, aber nicht immer, in dieser Hinsicht fühlt sich der Täter also offenbar nicht an ein bestimmtes Vorgehen gebunden – und beginnt dann, sein Opfer zu foltern, wobei er sich in einen regelrechten Blutrausch hineinsteigert. Wie ein – gestatten Sie mir den Vergleich – wie ein Berserker fällt er über seine Opfer her und das hat dann überhaupt nichts Geplantes mehr. Selbst die Entfernung der Körperteile – dabei sind es in jedem Fall auch immer die Geschlechtsteile, die fehlen, geschieht auf solch brutale Weise, dass man da kaum von planvollem Vorgehen sprechen kann. Laut rechtsmedizinischem Befund kommt dabei tatsächlich eine Mischung aus Hacken, Schneiden und schlichtem Herausreißen zum Einsatz.«
Würgende Geräusche der anwesenden Kollegen sorgten für eine kurze Unterbrechung der Ausführungen von Wittens, doch Felix lauschte ihm nun voller Aufmerksamkeit.
»Und dann, nachdem er sich auf diese Weise an seinem Opfer ausgetobt hat, geht er plötzlich wieder planvoll vor, sozusagen rational im Kosmos seines Wahnsinns, wenn Sie mir die etwas bildhafte Sprache verzeihen mögen.«
»Die entfernten Hände und Zähne«, warf Felix ein, mitgerissen von den Gedanken des jungen Psychologen.
»Genau«, sagte der. »Diese werden immer zum Schluss entfernt. Dabei geht der Täter zwar mit unverminderter Brutalität, aber weitaus sorgsamer als bei den vorangegangenen Verstümmelungen vor und außerdem ist das Opfer dann bereits tot. Ganz offensichtlich tut er das, um die Identifizierung des Opfers zu erschweren. Was – und ich gehe davon aus, dass ihm das klar ist – zwar auf Dauer nicht funktionieren wird, weil gerade diese hilfsbedürftigen Opfer früher oder später vermisst werden, immerhin sind sie ja in Betreuung.«
Wie zum Beispiel Ulrich Seeger , dachte Felix und ein flaues Gefühl begann sich in seiner Magengegend auszubreiten.
»… aber es erschwert uns prinzipiell die Arbeit, und ich glaube, auch das ist für den Täter ein wichtiger Aspekt. Er spielt mit uns, wie ein Katze, die ihre gefangenen Mäuse immer vor der gleichen Haustür ablegt. So bringt er seine Opfer immer nach Alteneck – als eine offene Herausforderung an uns, ihn zu schnappen – wenn wir können.«
Der Psychologe ließ das eine Weile bei den Anwesenden im Raum einsickern, bevor er weitersprach. »Eine letzte Sache noch, und hierbei, das muss ich offen zugeben, muss ich mich ausschließlich auf Quellen aus dem amerikanischen Sprachraum stützen, weil es bislang in Deutschland einfach an vergleichbaren Fällen mangelt – zum Glück, wie ich betonen möchte. Es geht um das Thema der Trophäen, sicher haben Sie schon davon gehört.«
»Serientäter, die eine Erinnerung an die Tat mitnehmen, um sich später …«, sagte Felix, dann unterbrach er sich mitten im Satz. »Um später die Erinnerung an die Tat wieder abrufen zu können.«
»Ganz genau, sie benutzen diese Stücke später als eine Art Ersatzbefriedigung, und schwelgen in Erinnerungen an den Akt der Tötung. Besonders häufig scheint dies bei sexuell motivierten Gewaltverbrechen zu sein, und da es sich bei den Opfern bisher ausschließlich um männliche handelt, denen sämtlichst auf brutale Weise die primären Geschlechtsteile entfernt wurden, würde ich mich mal ein wenig aus dem Fenster lehnen und versuchen, in eine ähnliche Richtung zu denken.«
»Sie glauben also, er nimmt sich die Pim … Geschlechtsorgane von den Tatorten mit, um sich später dran aufzugeilen«, sagte Möller und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch vollkommen krank!«
»Ja«, antwortete von Witten. »Das ist es. Ich glaube, das ist der Grund, aus dem wir bestimmte Körperteile nicht an den Tatorten gefunden haben. Ich glaube jedoch, dass er uns auch damit eine Botschaft senden, etwas zu verstehen geben will: Diese entfernten Körperteile sind die Insignien seiner Macht, die er über seine Opfer erlangt – und die er auch über uns zu haben glaubt.«
Das ließ alle Anwesenden im Raum verstummen und diesmal betraf das sogar Möller, der von Witten einfach nur entgeistert anstarrte, bevor er mit steifen Schritten hastig aus dem Raum stakste, vermutlich in Richtung Klo. Wahrscheinlich war erst in diesem Moment die ganze Tragweite dessen, womit sie es hier zu tun bekommen hatten, zu ihm durchgedrungen. Felix konnte ihm seine Reaktion – wenn diese auch reichlich spät erfolgt war, nicht verübeln.
Während die Anderen sich von ihren Stühlen erhoben und leise miteinander beratschlagten, was wohl als Nächstes zu unternehmen sei, blieb Felix sitzen und starrte ins Leere. Das, was der Psychologe ausgeführt hatte, ließ die Fakten in einem völlig neuen Licht erscheinen. Und dieses Licht sorgte dafür, dass der Verstümmelung des letzten Opfers – so makaber der Gedanke auch war – vielleicht wenigstens eine einigermaßen positive Seite in Hinsicht auf eine mögliche Identifizierung als der vermisste Ulrich Seeger abzugewinnen war.
Es gab einen Weg, wie Felix herausfinden konnte, ob er mit seiner Vermutung richtig lag. Doch dieser Weg würde kein leichter sein.