Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
E
ine knappe halbe Stunde später klingelte Felix Hübler erneut an der Tür von Helene Seegers Haus. Er hatte Jan gesagt, dass er nochmals zum Tatort des jüngsten Mordes gefahren sei – eine Ausrede, falls Möller wieder mal ein spontanes Meeting der Soko »Alte Ziegelei« anberaumen und nach ihm fragen würde.
Als Helene ihm öffnete, verkrampfte sich Felix’ Magen erneut. Sie sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an. Natürlich, du Idiot
, schalt er sich, was hast du denn erwartet, wenn du jetzt so unangekündigt bei ihr auftauchst? Natürlich muss sie jetzt denken, dass du ihr gute Nachrichten und am besten gleich ihren Bruder im Schlepptau bringst. Wenigstens vorher anrufen hättest du können.
»Äh, tut mir leid«, sagte er dann, und Helene schien ohne weitere Ausführungen zu verstehen, was er meinte.
»Sie haben Ulrich noch nicht gefunden«, sagte sie leise und der erwartungsvolle Ausdruck in ihrem Gesicht erstarb. »Oder … oder haben Sie?«
Na ja
, dachte Felix, um das herauszufinden, bin ich gewissermaßen hier. Ob das, was wir gefunden haben, Ulrich Seeger ist oder nicht.
Aber natürlich behielt er das für sich. Falls sich seine diesbezügliche Befürchtung später als korrekt herausstellte, würde ihm die Sache noch früh genug um die Ohren fliegen. Nach den Ausführungen des Psychologen glaubte er inzwischen nämlich nicht mehr unbedingt, dass der Tote am Baum tatsächlich Ulrich Seeger war, auch wenn die Haarfarbe hinkam. Man hatte dem Mann die Arme entfernt und soweit Felix wusste, war Ulrichs Behinderung rein psychischer Natur, mit seinen Armen war auch auf dem Foto alles in Ordnung gewesen. Auch Helene hatte nichts von einer körperlichen Behinderung erwähnt. Daher entschied er sich zunächst für die schonendere Herangehensweise.
»Nein«, sagte Felix und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich habe noch keine Neuigkeiten zu Ihrem Bruder.«
Helene trug jetzt ein ebenfalls langärmliges, aber eng anliegendes Sweatshirt mit Bündchen. Sie hatte eine Töpferschürze um, an der mehrere Schichten Modellierton klebten.
»Ich musste mich irgendwie ablenken«, sagte sie, als sie Felix’ fragenden Blick bemerkte. »Das Töpfern hilft mir dabei. Da vergesse ich die Welt um mich herum.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, bevor sie ihm erneut ihre Rechte reichte. Felix drückte sie – seltsam, hatten sie sich doch erst vor ein paar Stunden das letzte Mal gesehen – und bemerkte, dass ihre Handinnenflächen jetzt ganz rau waren von dem trockenen Ton. So hielt er ihre Hand vielleicht ein bisschen länger, als unbedingt nötig gewesen wäre. Der grazile Eindruck ihrer schlanken Finger konnte dabei nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie kräftige
Finger hatte. Vom Töpfern, vermutete Felix.
Mit einem irgendwie traurig wirkenden Lächeln wandte Helene sich um und führte ihn durch den Flur zu einem kleinen Wintergarten auf der Rückseite des Hauses, wo ein Schemel vor einer Töpferscheibe stand, darauf etwas, das vielleicht mal eine Vase oder ein Krug werden sollte. Hier gab es einen kleinen Gartentisch und zwei dazu passende Stühle im Biedermeierstil aus reichlich ornamentiertem Gussstahl, die man weiß angepinselt hatte. Gemütlich. Helene setzte sich auf einen der Stühle und Felix tat es ihr gleich.
»Also, warum sind Sie dann aber doch wieder hier?«, fragte Helene ohne Umschweife, und schickte dann ein kleines Lächeln hinterher. »Außer, um mir beim Töpfern zuzuschauen?« Diese Bemerkung fand Felix merkwürdig flapsig angesichts der Umstände, aber vielleicht war das auch nur ihre Art, damit umzugehen. Der Geist braucht ein Ventil,
wusste Felix, sonst wird man verrückt, unausweichlich. Und wenn sich kein Ventil findet, und zu viel Druck entsteht, dann ...
»Also, es geht schon um Ihren Bruder, Sie können mir da vielleicht doch in einer Sache weiterhelfen.«
»Klar, gern«, sagte sie. »Und welche Sache wäre das?«
»Könnten Sie mir eine genaue Liste der Medikamente machen, die er regelmäßig nehmen muss – und, soweit Sie das wissen, welche medizinische Wirkung jedes davon so in etwa hat?«
»Äh, ja. Klar, kann ich«, sagte sie und zog die Stirn kraus. Auf ihrem Nasenrücken bildeten sich dabei zwei kleine Fältchen, fiel Felix auf. Und dass sie da Sommersprossen hatte, auf dieser fein geschwungenen Nase, die er vorher noch gar nicht bemerkt hatte. Vielleicht, weil sie nun nicht mehr ganz so bleich war wie früher am Morgen. Vielleicht, weil das Licht, das durch die großen Scheiben des Wintergartens hereinfiel, ihrem Teint deutlich mehr schmeichelten als das kalte Schein der Küchenlampe. »Und deswegen sind Sie extra hergefahren? Ich hätte Ihnen die Liste doch auch am Telefon durchgeben können.«
»Ja, klar«, sagte Felix. »Aber ich war sowieso gerade in der Nähe und da dachte ich mir …« – Eine glatte Lüge, aber ihm fiel auf Anhieb nichts Besseres ein.
»Okay, wenn Sie ein paar Minuten warten können, mache ich Ihnen die Liste gleich fertig.«
»Das wäre spitze. Und, äh … in der Zwischenzeit, also, wäre es vielleicht möglich, dass ich mal Ihr Badezimmer aufsuche? Ich habe heute schon ein bisschen zu viel Kaffee in mich reingeschüttet, fürchte ich.«
»Natürlich«, sagte sie. »Den Flur runter, die zweite Tür rechts, kur vor der Haustür.«
»Ich danke Ihnen!«, sagte Felix und verließ die Küche, wobei er sich Mühe gab, einen etwas gehetzt wirkenden Eindruck zu vermitteln. Dann lief er den Flur hinunter bis zu der bezeichneten Tür und öffnete sie. In dem kleinen Badezimmer setzte er sich auf den Wannenrand und sah sich um.
Auf einem kleinen Regal über dem Waschbecken standen zwei Zahnputzbecher, jeweils eine Zahnbürste darin. Eine davon sah aus, als hätte man damit die Fliesen anstatt Zähne geschrubbt, so verbogen waren die Borsten. Glücklicherweise war das genau das, was Felix sich erhofft hatte – Bruder und Schwester Seeger benutzten beide das gleiche Badezimmer, und der Zustand der Zahnbürsten ließ kaum Zweifel daran, wem welche gehörte. Die Zahnbürste mitzunehmen, wäre allerdings zu riskant, also öffnete Felix den Spiegelschrank. Auch da fand er rasch das Gesuchte. Hier lag, auf der linken Seite, wo auch Helenes Zahnputzbecher stand, eine Haarbürste, in deren Borsten ein paar lange, blonde Haare verwickelt waren. Auf der rechten Seite ein billiger, grüner Plastikkamm, auch dieser mit ein paar Haaren darin, diese ebenfalls blond, aber kürzer.
Bingo!
Felix zog einen Plastikbeutel aus der Jackentasche, den er vorsorglich dort verstaut hatte, dann griff er sich den Kamm und verstaute ihn in der Tüte, knapste den luftdichten Ziplock-Verschluss zu und steckte sie wieder ein. Auf diese Weise würde der Kriminaltechniker Ulrichs DNA mit der des Opfers vergleichen können und herausfinden, ob es sich bei diesem tatsächlich um Ulrich Seeger handelte.
Nach einem weiteren prüfenden Blick betätigte Felix die Toilettenspülung, ohne das Klo überhauptbenutzt zu haben, dann ließ er den Wasserhahn ein bisschen laufen, wartete ein paar Sekunden und trat dann wieder in den Flur hinaus, wo ihm Helene entgegenkam, die ihm einen handbeschriebenen Zettel reichte. Felix warf einen Blick darauf und bedankte sich.
»Darf ich fragen, wozu das dienen soll?«, fragte Helene.
»Ist vielleicht nur eine schwache Spur, aber wenn jemand diese meldepflichtigen Medikamente in letzter Zeit in einer Apotheke abgeholt hat … na ja, es ist ein schwacher Trost, das gebe ich zu, aber ich wollte eben gründlich sein. Vielleicht bringt es was.«
Und auch das
, dachte er, war soeben eine fette Lüge. Glückwunsch zu deinen piekfeinen Methoden, Hübler. Fast ein bisschen wie damals in Hamburg, nicht?
»Okay, verstehe«, sagte sie. »Sie glauben also, dass er selbst vielleicht … oder jemand anders für ihn diese Medikamente besorgt?«
»Es ist ja eine eine nahezu einzigartige Kombination von Wirkstoffen und wir klammern uns eben auch mal gelegentlich an einen Strohhalm.«
»Danke«, sagte sie und sah Felix mit solch überraschender Offenheit an, dass dieser beinahe zurückgetaumelt wäre. Nein, das reinste Gewissen hast du momentan wohl wirklich nicht. Aber wann hat dich schon mal die Wahl des Mittels aufgehalten, wenn der Zweck es rechtfertigt, hm?
, meldete sich wieder die garstige innere Stimme zu Wort. Felix versuchte, sie auszublenden.
Dann reichte sie ihm wieder die Hand und diesmal, bemerkte Felix, war der Ärmel ihres Sweatshirts hochgeschoben, denn offenbar wollte sie gleich mit dem Töpfern weitermachen. Während er ihre Hand in der seinen drehte, bemerkte er die starken Sehnen, die sich auf der Haut ihrer Unterarme abzeichneten. Einem spontanen Impuls folgend, drehte er ihr Handgelenk, sodass er die Unterseiten ihrer Unterarme betrachten konnte. Sie ließ es geschehen, senkte jedoch den Blick zum Boden wie ein Kind, das man beim Griff in die Keksdose ertappt hat.
Dann flüsterte sie, beinahe unhörbar: »Bitte nicht.«
Felix ließ ihren Arm los und sie streifte hastig den Pullover wieder darüber. Die Unterseiten ihrer Arme waren von einem Narbenmuster bedeckt, die unzweifelhaft von Schnitten stammten. Unzähligen Schnitten und – wie Felix’ fachkundigem Auge nicht entgangen war – Schnitten, welche sich kreuz und quer über die älteren Narben zogen, immer und immer wieder. Immerhin schienen auch die jüngsten dieser Schnitte wenigstens ein paar Monate alt zu sein, wenn nicht sogar Jahre. Auch das war vielleicht ein Lichtblick.
»Das ist nicht schlimm«, sagte Felix und Helenes Kopf zuckte hoch. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie ihn ansah, als hätte er sie soeben geohrfeigt. »Ich meine ... also, diese Narben … es gehört zu Ihnen. Sie sollten sie nicht verstecken.«
»Wie bitte?«
»Wichtig sind nicht die Narben, Helene, sondern die Tatsache, dass Sie noch da sind. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
Statt auf seine Frage einzugehen, flüsterte sie nur: »Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen.«
Also ging er.