Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
»
I
ch war als Kind oft für mich allein, weißt du?«, sagte Helene. »Hat mich aber nie wirklich gestört. Das ist vielleicht einfach eine Art Nebeneffekt, wenn das Alter der Geschwister so weit auseinander liegt wie bei Ulrich und mir. Und dann passierte das mit Ulrich. Beziehungsweise war das da schon längst passiert, aber eine ganze Zeitlang haben meine Eltern darauf bestanden, dass er sich einfach nur gelegentlich Dinge einbildet, die nicht da sind. Wie das bei Kindern eben so ist, obwohl er da längst kein richtiges Kind mehr war, eher ein Jugendlicher, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, aber ich habe das damals kaum mitbekommen, ich war ja selbst noch klein. Und dann hat es manchmal plötzlich aufgehört. Für mehrere Wochen, manchmal zwei Monate gab es gar keine Vorfälle mehr, oder wenn, hatte er es soweit unter Kontrolle, dass er es vor uns verbergen konnte. Spätestens da muss ihm wohl schon selbst klar gewesen sein, dass etwas nicht stimmt mit ihm, aber er hat es unterdrückt, solange er konnte. Er hat sogar zu studieren begonnen, aber das war vermutlich keine so gute Idee, all die anderen Menschen … das hat ihm nicht gutgetan.«
Sie schaute Felix aus großen, traurigen Augen an, die jetzt von einem tiefen, sanften Graublau waren.
»Die Probleme begannen, als er mit dem Messer auf mich losgegangen ist.«
»Wie bitte?«, fragte Felix. Plötzlich fühlte sich sein Mund staubtrocken an. Die Narben, an ihren Handgelenken – konnten das Abwehrverletzungen sein? Aber so viele, über einen so langen Zeitraum?
Als hätte sie seine bestürzten Gedanken gelesen, schüttelte Helene den Kopf. »Es war nur dieses eine Mal, und … ich weiß nicht, da war etwas in seinen Augen, beinahe so, als sei da jemand Anderer in ihm drin, der ihn steuert, wie eine … Marionette, verstehst du? Mich schien er plötzlich nicht mehr zu erkennen, er hatte Angst, schreckliche Angst. Vor mir, seiner kleinen Schwester! ›Lass mich in Ruhe!‹, hat er die ganze Zeit geschrien, und : ›Geh weg von mir!‹. Ich glaube, er wollte sich mit dem Messer nur verteidigen, gegen etwas, das nur er sehen konnte und das er auf mich projiziert hat. Ich hatte ihn schon fast so weit, dass er das Messer weglegt, als Mama plötzlich ins Zimmer kam. Da muss er sich erschreckt haben und … Na ja, nach dieser Sache haben sie ihn weggesperrt und dann hat es nicht mehr lange gedauert, bis alles den Bach runter ging.«
»War das denn noch nicht schlimm genug?«, fragte Felix mit einem traurigen Lächeln. »Ich meine, dein eigener Bruder, der mit dem Messer auf dich zugeht?«
»Ja, ich weiß, es klingt seltsam, aber wir mochten uns immer sehr, Ulrich und ich. Zumindest dann, wenn er keinen seiner Anfälle hatte. Aber danach … nun, es hat Mama das Herz gebrochen, glaube ich, ihn so zu sehen, eingesperrt und vollgestopft mit Medikamenten, die aus ihm einen regelrechten Zombie gemacht haben. Ich habe viel geweint in dieser Zeit, aber es gelang mir einfach nicht, mich Mutter zu öffnen. Vater ging es wohl genauso, allerdings hat der den leichten Ausweg gewählt, was ich ihm nicht verübeln kann. Ich stand ja selbst oft genug kurz davor damals.«
»Er hat sich …?«, fragte Felix.
»Umgebracht? Nein. Aber er hat seine Sachen gepackt und ist abgehauen. Eines Abends, einfach so. Und am nächsten Morgen meinte Mama, wir seien jetzt zu zweit. Zu zweit
, verstehst du? So, als ob Ulrich für sie da bereits nicht mehr existiert hätte. Und ich glaube, das hat er auch nicht. Interessiert hat sie sich damals jedenfalls schon fast nur noch für ihren Fusel, mit dem sie so richtig anfing, nachdem Vater weg war. Irgendwie kann ich meinen Vater ja auch verstehen, wer hat da schon Bock drauf auf sowas zu Hause? Ein Kind in der Klapsmühle und die eigene Ehefrau liegt jeden Abend schnarchend auf der Couch vorm Fernseher und hält ihre Pulle im Arm wie ein Baby seine Nuckelflasche. Manchmal hat sie sich auch auf den Teppich übergeben und es dann einfach liegenlassen, weil sie nicht mehr in der Lage war, es aufzuwischen, oder sich einen Eimer zu suchen. Es war wirklich schlimm mit ihr die letzten Jahre.«
»Und du«, fragte Felix, »was hast du gemacht?«
»Mich um sie gekümmert, Felix. Das hab ich gemacht, immerhin war sie ja meine Mutter. Fünf Jahre hat es noch gedauert, bis sie gestorben ist. Krebs, aber der hat sie schnell erwischt. Nach der Diagnose hat es gerade mal eine Woche gedauert, weil sie sich trotz Schmerzen immer geweigert hat, zum Arzt zu gehen. Daher war die Krankheit da schon im Endstadium, und alles zu spät. Ich glaube, irgendwie war sie dafür sogar dankbar. Und ich … ich vielleicht auch.«
»Oh Gott«, ächzte Felix.
»Ja, und dann waren wir wirklich nur noch zu zweit. Danach gab es nur noch Ulrich und mich. Ulrich im Heim und ich zu Hause. Aus dieser Zeit stammen die Narben, ich war eben oft … na ja, ich war sehr oft allein, hatte auch keine Lust, mich mit Anderen zu treffen. Ich hatte überhaupt kein Interesse an irgendwas, bis – das klingt jetzt vielleicht blöd, aber es ist so – bis ich mit dem Töpfern angefangen habe. Ab dann wurde es besser, ich hatte sogar wieder Spaß daran, unter Leuten zu sein, wenn es auch nie für längere Bindungen oder sowas gereicht hat, aber das hat mich nie gestört. Und dann haben wir gekämpft, Ulrich und ich. Gegen seine Krankheit, weil ich ihn nicht einfach so verlieren konnte wie Mutter, das hätte ich nicht durchgestanden. Wir haben uns gemeinsam Kraft gegeben und plötzlich hatte ich wieder ein Ziel, ein richtiges Ziel im Leben: Meinen Bruder da raus zu holen, zu mir nach Hause, koste es, was es wolle. Klingt das verrückt?«
Felix schüttelte den Kopf. »Nein, klingt es nicht. Wenn irgendwas, dann muss man dich bewundern. Ich glaube, du bist ein sehr starker Mensch, Helene.«
Sie lachte. »Dankeschön, aber bevor du jetzt noch anfängst, mir in meiner eigenen Küche ein Denkmal zu bauen – was ist deine Geschichte? Ich meine, ich habe dir meine erzählt und ich finde, Fairness sollte sein, nicht?«
Felix nickte. »Ja, Fairness sollte sein.«
Also erzählte er, was er bisher nur einem kleinen Kreis enger Vertrauter erzählt hatte, Saskia zum Beispiel, und Jan – zumindest einen Teil davon. Erst stockend, und jedes seiner Worte sorgfältig abwiegend, dann immer fließender. Vielleicht lag das daran, dass er sich bei Helene verstanden fühlte wie nie zuvor in seinem Leben, und vielleicht lag es daran, dass diese Dinge schon so lange darauf gewartet hatten, aus ihm rauszukommen. Endlich Ohren zu finden, die verstehen konnten, was sie da hörten.
Weil sie selbst ganz Ähnliches durchgemacht hatten.