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F elix und seine Schwester Charlotte halten sich an den Händen und starren auf die tosende Brandung zu ihren Füßen. So, wie sie es früher oft getan hatten, als ihre Eltern noch lebten, in dem alten Bauernhaus hoch auf den Dünen, dem sie jetzt ihre Rücken zugedreht haben, während sie hinausblicken auf das Meer, das sich bis zum Horizont erstreckt, über den schwere Regenwolken treiben, die bald hier sein werden. Ein Sturm zieht auf.
»Gestern war mir wieder langweilig«, sagt sie, und diese scheinbar belanglose Bemerkung lässt ihn zusammenzucken. Wenn ihr langweilig ist, wird sie traurig und wenn sie traurig ist, stellt sie manchmal Dinge an. Einmal, als sie noch Kinder waren, hat er sie dabei ertappt, wie sie mit einer von Vaters Rasierklingen vor dem Badezimmerspiegel stand, die Rasierklinge tief in ihre Haut gedrückt, hatte sie auf ihren Arm gestarrt – fasziniert von dem kleinen, tiefroten Rinnsal, das sich dort gebildet hatte und rasch größer wurde.
Blut, das sich zu Tropfen sammelt, die in die Tiefe fallen und auf dem Porzellan des Waschbeckens zerplatzen – platsch! platsch! – wie rote Tränen. Aus aufgerissenen Augen sieht sie zu, ohne Angst, völlig entkoppelt von dem Teil in ihr, der noch Schmerz empfinden kann.
Langweilig, denkt er. Manchmal sagt sie solche Dinge auch nur, um eine Reaktion bei ihm zu provozieren, über die sie sich dann lustig macht. Zuneigung, zum Beispiel. Oder Liebe. Dafür hat sie nichts als Hohn übrig. Es hat sich viel verändert seit ihren Kindertagen. Zum Beispiel kommt er heutzutage kaum noch in das ehemals elterliche Haus, um sie zu besuchen. Er erträgt es nicht, aber das würde er ihr gegenüber nie zugeben. Seit ihre Eltern tot sind, hat Charlotte das Haus für sich allein, denn Felix ist in Hamburg zum Studieren und manchmal, viel zu oft, schiebt er den Stress auch bloß vor, um nicht nach Alteneck kommen zu müssen, wo ihn alles an seine Kindheit erinnert.
Wo ihm alles Schmerzen bereitet.
Ganz besonders Charlotte, seine Zwillingsschwester, die vielleicht sogar etwas wie hämisches Vergnügen dabei empfindet, ihn mit sich in den schwarzen Sumpf ihrer verwirrten Gefühle hinabzuziehen. Oder vielleicht ist sie inzwischen einfach nur unempfänglich geworden für das, was in ihrem Bruder vorgeht, ist abgestumpft.
Daran sind die Drogen schuld, da ist sich Felix sicher, und das ist ein weiterer Grund, warum er es mittlerweile vermeidet, das Haus seiner Eltern zu betreten.
Charlotte hat alle Fensterläden zugenagelt, das Licht ist ihr zu grell, sagt sie. Überall liegen schmutzige Decken herum. Manche der Sitzmöbel sind aufgeschlitzt, die Füllung aus weißem Schaumgummi quillt daraus hervor wie Eingeweide. Die Teppiche sind voller Brandspuren, überall stehen überquellende Aschenbecher und Pizzakartons. Und Flaschen, natürlich, Legionen von Rotwein– und Bierflaschen, Hinterlassenschaften von Charlottes neuen Freunden. Junkies, Süchtige, Abschaum – heruntergekommene Existenzen, die sie anpumpen und aussaugen, während sie gemeinsam versuchen, der Realität zu entfliehen.
Vermutlich hat sie mit den meisten von ihnen auch Sex, denkt Felix, und dabei ist ihr wohl egal, welchen Geschlechts ihr jeweiliger Partner – ob Einzahl oder Mehrzahl – ist. Sie sucht immer den nächsten Kick, denkt nie weiter als bis zum nächsten Moment, bis zum nächsten Schuss. Es ist nicht die Art von Sex, die Menschen miteinander haben, die sich lieben oder sich begehren. Es ist Sex, den Menschen miteinander haben, denen egal ist, was sie sich gegenseitig antun müssen, um ihre abgestumpften Nerven wenigstens für einen Augenblick zu reizen. Junkie-Sex.
Er hat ihr angeboten, den Aufenthalt in einer Entzugsklinik zu bezahlen. Hat ihr alles angeboten, wenn sie nur aufhört, sich die Adern mit diesem Scheißdreck vollzupumpen. Aber sie hat nur gelacht. Hat ihn ausgelacht und dann behauptet, es ginge ihr doch gut. Was er machen wolle, ihr etwa seine Kumpels von der Drogenpolizei auf den Hals jagen? Seine eigene Schwester ins Gefängnis bringen?
Sie weiß genau, dass er das nie könnte.
Auch damit verspottet sie ihn, während sie sich alle Mühe gibt, vor seinen Augen zugrunde zu gehen.
Manchmal versucht Felix, sich an ihre gemeinsame Kindheit zu erinnern. Versucht, herauszufinden, ob sie erst so geworden ist, nachdem ihre Eltern in einer stürmischen Gewitternacht von der Straße abgekommen sind, bevor der Famlienpassat die Leitplanke durchschlagen und sie eine dreißig Meter tiefe Klippe hinab in den Tod befördert hatte. Ins Meer, in die Tiefe.
Manchmal glaubt er aber, dass das, was in ihr zum Vorschein gekommen ist, schon immer dort geschlummert hat, tief in ihr. Vielleicht hat es nur auf einen günstigen Moment gewartet, um zum Vorschein zu kommen.
»Sag, dass du immer für mich da sein wirst«, fordert sie, mit seltsam tonloser Stimme, die nicht erkennen lässt, ob es sich dabei um eine sanfte Bitte oder eine unverblümte Forderung handelt. »Für immer und ewig.«
Er verspricht es, natürlich tut er das, denn schließlich sind sie ja Geschwister, und das werden sie immer sein. Da drückt sie seine Hand, ganz fest und wieder einmal glaubt er, dass sie vielleicht doch noch zu retten ist. Dass er – der strahlende Held – sie aus dem Sumpf ihrer benebelten Sinne ziehen kann – der ein Labyrinth ist, in dem sie selbst schon längst jede Orientierung verloren hat.
Er kann nicht wissen, dass sie später an diesem Tag, wenn er im Auto sitzt und auf dem Weg zurück nach Hamburg ist, sich den nächsten Schuss setzen und dabei nicht bemerken wird, dass eine Zigarettenkippe, die sie nicht ganz ausgedrückt hat, im Aschenbecher eine schwelende Glut verursacht. Diese wird dank eines zerknüllten Blatts Papier, das zufällig daneben liegt, zu einer kleinen Flamme auflodern. Erst viel später wird man herausfinden, dass dieses Flämmchen auf mehrere staubtrockene Pizzakartons überspringt, und kurz darauf wird es ganz und gar kein kleines Flämmchen mehr sein. Minuten später wird es auf das gesamte Haus überspringen, das es schließlich verschlingen und bis auf die Grundmauern niederbrennen wird, während seine Schwester zugedröhnt auf dem Sofa liegt und von alledem nicht das Geringste mitbekommt.
Erst viel später wird ihm klarwerden, dass er an diesem Tag sein Versprechen, für sie da zu sein, zum allerletzten Mal gebrochen hat. Und dass ihr Sumpf nun in ihm wohnt, in seinem Innersten. Wo einmal sein Herz war.