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Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
A ls Felix seine Geschichte erzählt hatte, blickte er Helene an und bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, aber das schien sie gar nicht zu bemerken. Sie lächelte ihn an. »Danke, dass du so offen zu mir warst. Offenbar schleppen wir beide da so Einiges mit uns herum, hm?«
Felix nickte langsam. »Und bevor du fragst, ich schlafe erbärmlich nachts.«
Das entlockte ihr ein weiteres trauriges Lächeln, und Felix bemerkte, dass er sich seit langer – viel zu langer – Zeit jemandem gegenüber sah, der ihn verstand. Der wirklich verstand, was in ihm vorging. Was ihn jede Nacht beschäftigte, bevor er sich am Morgen ein weiteres Mal aus dem Bett quälte und seine Gedanken mit dem Tagesgeschehen auf dem Revier zu ersticken suchte. Helene brachte ihm ein Verständnis entgegen, das nur von jemandem kommen konnte, dessen Narben, auch wenn sie in Felix’ Fall nicht sichtbar waren, genauso tief waren, und die noch immer genauso schmerzten.
Es überraschte ihn kaum, als sie sich plötzlich zu ihm herüberbeugte und ihm einen Kuss auf die Lippen drückte. Es war keine Leidenschaft darin – das würde erst später kommen –, es war wie eine Bekräftigung des unausgesprochenen Schwurs zwischen ihnen. Sie hatten den Pakt geschlossen, sich einander ganz zu offenbaren, und in gewisser Hinsicht eine Schwelle der Intimität überschritten, die alles, das jetzt noch kommen würde, lediglich als dessen folgerichtige Fortsetzung erscheinen ließ. Natürlich, Felix war ein verheirateter Mann und er war – bis vor kurzem zumindest noch – der für die Bearbeitung des Falles zuständige Beamte. Ein Fall, in den möglicherweise auch die Familie Seeger verwickelt war. Aber all das spielte in diesem Moment keine Rolle.
Also streckte Felix die Hand aus, während sich nochmals küssten, berührte die sanfte Rundung ihres Halses, dann legte er seine Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich heran, während er ihr fest in die Augen blickte. Er bemerkte, dass ihre Wangen immer noch tränenfeucht und ihr Make-up verwischt war, aber auch das war jetzt nicht wichtig.
Sie nickte, wie um ihm ihr finales Einverständnis zu geben, dann küssten sie sich wieder. Diesmal lang und intensiv, und dann fielen ihre Lippen regelrecht übereinander her, während sie – für einen außenstehenden Betrachter fraglos ein grotesker Anblick – gleichzeitig aufstanden, um sich stehend weiter zu küssen. Felix zog Helenes schlanken Körper zu sich heran, und sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, während sie durch die Küche wankten wie zwei ineinander verkeilte Betrunkene. Die Spüle machte ihrem seltsamen Tanz ein Ende, als Helenes Pobacken dagegenstießen, doch ihre fordernden Bewegungen gaben Felix mehr als deutlich zu verstehen, dass sie mehr wollte. Viel mehr, gleich jetzt und hier, auf dem Spülbecken, wenn es sein musste.
»Ich brauch das …«, stöhnte sie in sein Ohr. »Ich brauch dich. Jetzt.«
Ihre Hände krallten sich an seinem Haaransatz in seinen Nacken, klammerten sich an ihn und dann …
»Autsch!« Felix zuckte zurück.
»Ich … entschuldige!«, sagte sie, die Hände jetzt sittsam an ihre Seiten gepresst. Hatte sie ihn gerade absichtlich gekratzt?
»Ich sollte gehen«, sagte Felix, auch wenn jede Faser seines entflammten Körpers anderer Meinung war. Er war ein verheirateter Mann, verdammt! Das, was hier gerade passiert war, hätte nie passieren dürfen.
Doch …
»Aber du kommst wieder?«, fragte sie, die Hände noch immer steif an die Seiten ihres Körpers gepresst wie ein schuldbewusstes kleines Mädchen. »Wenn es was Neues gibt, meine ich?«
Er versprach es, nickte bekräftigend, als könne damit das ausradieren, was soeben geschehen war. Als ob irgendetwas das könnte. Dann hastete er hinaus, zu seinem Auto. Als er endlich drinnen saß, machte er die Innenbeleuchtung an und betastete seinen Hals, besah sich seine Fingerspitzen. Etwas Blut klebte daran. Sie hatte ihm tatsächlich einen tiefen Kratzer verpasst, während sie sich …
Gott, was ist nur mit dir los, Hübler? , dachte er, wütend auf sich selbst, die Situation. Alles. Auch auf Helene? Ja, das vielleicht auch. Am meisten aber auf sich. Es ist echt erstaunlich, wie viel du an einem einzigen Tag verbocken kannst. Hut ab!
Dann startete er den Wagen und trat aufs Gas, den Blick starr geradeaus gerichtet, während er mit aller Kraft versuchte, diese andere Stimme in seinem Kopf zu ignorieren. Die Stimme seiner Schwester. Leise, eindringlich. Fordernd: Versprich mir, dass du immer für mich da sein wirst. Immer.
Doch er war schon wieder geflohen.