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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix und Saskia Hübler
S päter würde sich Felix einreden, dass es ja eigentlich gar nichts zu erzählen gegeben hatte, als er an diesem Abend nach Hause kam, wo Saskia ihn bereits erwartete. Das in Helene Seegers Küche ist nur ein Beinahe-Ausrutscher gewesen , sagte er sich. Einfach die Entladung einer emotional aufgestauten Situation, mehr nicht, und wenigstens habe ich die Reißleine gezogen, bevor etwas passieren konnte. Und ganz bestimmt war das eine einmalige Angelegenheit. Helene wird mir wahrscheinlich nicht mal in die Augen schauen können, sollten wir uns jemals wieder begegnen. Nicht, dass ich das vorhätte.
Später würde er sich auch einreden, dass er Saskia nichts von seiner Beurlaubung erzählt hatte, weil sich an diesem Abend einfach nicht die Gelegenheit dazu ergeben hatte, und er die gute Stimmung nicht hatte verderben wollen, die heute ausnahmsweise einmal im Hause Hübler herrschte. Saskia hatte ihn mit einem Lächeln und einer Flasche ihres Lieblingsweins erwartet. Wortlos hielt sie ihm ein Glas hin, das eigene in der Linken.
»Ich finde, du hast lang genug auf der Couch geschlafen«, hatte sie gesagt, und dann waren sie ins Schlafzimmer gegangen und hatten sich geliebt, was Felix mechanisch und gekünstelt vorgekommen war, beinahe wie Schaufensterpuppen oder Marionetten, die ein Puppenspieler an unsichtbaren Fäden rhythmisch bewegte. Er hatte versucht, sich nichts davon anmerken zu lassen. Und vielleicht waren seine Gedanken dabei hin und wieder zu dem Beinahe-Abenteuer in Helene Seegers Küche abgeschweift. Schon möglich.
Danach hatte sie ihm versichert, es sei schön gewesen, und er hatte ihr dasselbe gesagt. Kein Wort der Entschuldigung für ihre übertriebene Reaktion am Abend des Besuchs von Tobias und Sabine, aber immerhin hielt sie ihm auch seine vermeintlichen Fehler nicht mehr vor. Offenbar wollte sie das Ganze einfach nur möglichst schnell hinter sich lassen, und dagegen hatte Felix absolut nichts einzuwenden. Felix vermutete, dass dies wohl ihre Auffassung von Versöhnungssex sein musste: Reset , Schwamm drüber, rutschen wir ein bisschen aufeinander herum und vergessen dabei einfach, was passiert ist. Felix kam es vor wie ein Karussell, das zum x-ten Mal gestartet wurde, obwohl allen Fahrgästen noch übel war von der letzten Fahrt. Und doch drehte es sich, immer und immer weiter und kam doch keinen Millimeter vom Fleck dabei.
Auf dem Weg nach Hause hatte er in einem Kleidungsgeschäft ein Oberhemd gekauft und die Wunde an seinem Nacken, auf der sich bereits ein Grind gebildet hatte, wieder aufgekratzt, während er das Hemd, an dem er eigentlich überhaupt kein Interesse hatte, anprobierte. Zurück im Auto, hatte er ein Pflaster aus dem Sanikasten auf die Wunde geklebt. Er hatte sich das alles zurechtgelegt: Saskia würde das Pflaster bemerken und er würde behaupten, sich die Wunde beim Anprobieren des Hemdes zugezogen zu haben, weil er vergessen hatte, eine der Nadeln, die dafür sorgen sollten, dass der Kragen seine Form behielt, herauszuziehen. Der kleine Blutfleck am Hemdkragen würde seine Geschichte hoffentlich ausreichend realistisch wirken lassen. Verdammter Bulle , dachte er, kannst es nicht lassen. Aber er wusste, dass es funktionieren würde.
Ironischerweise bemerkte Saskia allerdings weder das Pflaster in seinem Nacken – während sie miteinander geschlafen hatten, hatte sie ihre Hände locker auf seine Hüften gelegt – noch die Wunde. Erst, als Felix das neue Hemd in seinen Kleiderschrank hängte, schüttelte sie lächelnd den Kopf, nahm es wieder heraus, um es glatt zu streichen und den obersten Knopf zu schließen.
»Es rutscht doch sonst sofort wieder vom Bügel«, belehrte sie ihn, und Felix hatte stumm dazu genickt. Erst da hatte sie den Blutfleck bemerkt und so war Felix doch noch dazu gekommen, seine Lügengeschichte aufzutischen.
»Das kannst du gleich wieder zurückbringen, oder wegschmeißen«, hatte Saskia gesagt und die Augen verdreht, wobei sie aber immer noch gelächelt hatte. »Blut geht nicht raus. Ach, mein kleiner Tollpatsch.«
Mit diesen Worten hatte sie sich an ihn geschmiegt und das Hemd dann auf den Stapel mit der hellen Schmutzwäsche geworfen. »Na, ich werd mal sehen, was ich da machen kann«, hatte sie gesagt und damit die temporäre Eiszeit zwischen ihnen offiziell für beendet erklärt. Die Eiszeit, deren Beginn und Ende allein sie bestimmte, wie jedes Mal. Sie entschied, wann er genug gebüßt hatte, niemals umgekehrt. So war das schon immer gewesen.
Irgendwann später waren sie zu Bett gegangen, und sie war sofort eingeschlafen. Felix hatte noch lange wach gelegen und ihrem leisen Schnarchen gelauscht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Nasenscheidewand, hatte sie ihm mal erklärt, die war schief oder sowas. Früher hatte er dieses Schnarchen sogar süß gefunden. Jetzt überlegte er ernsthaft, freiwillig wieder auf die Couch umzuziehen, aber natürlich war das keine realistische Option. Das würde sie bewusst missverstehen und ihm nie verzeihen.
Seufzend drehte sich Felix auf die Seite und starrte die Wand an, an der die Schatten der Zweige des Baumes draußen vor dem Fenster im Mondlicht tanzten. Doch diese Monsterfinger konnten ihn längst nicht mehr schrecken. Nicht in einer Welt, die voller wirklicher Monster war.
Irgendwann musste er dann doch weggedöst sein, denn als er hochschreckte, glaubte er, sich an die letzten Fetzen eines nur zu altbekannten Traumes zu erinnern. Des Traumes, der gleichzeitig mit dem Auftauchen des Verstümmlers zurückgekommen war. Er und seine Schwester hatten wieder an der Steilküste gestanden, Hand in Hand, und auf das Meer und den Strand tief unter ihren Füßen hinabgeblickt, das Haus ihrer Eltern im Rücken wie ein gigantischer Felsblock, dessen schiere Ausstrahlung sie zu erdrücken drohte.
Als er sein Gesicht betastete, stellte er fest, dass seine Wangen feucht von Tränen waren. Da war er leise aufgestanden und in sein Arbeitszimmer hinübergeschlichen. Auf Zehenspitzen, wie ein Einbrecher. Wie jemand, der auf keinen Fall ertappt werden möchte.
Leise schloss er die Tür hinter sich, dann setzte er sich an den Schreibtisch und machte die Schreibtischlampe an. Ein klobiges Ding aus Bronze mit einem grünen Schirm, das ihm Saskia mal zum Geburtstag geschenkt hatte, weil sie – wie sie gesagt hatte – glaubte, dass ihm das ein bisschen was von Sherlock Holmes verlieh, immerhin sei er ja auch so eine Art Meisterdetektiv. Er hatte das Ding immer gehasst, weil es ihn unausweichlich an Hamburg erinnerte. Hamburg, wo er für kurze Zeit tatsächlich auf dem besten Weg zu einem richtig guten Polizisten gewesen war, einem Beinahe-Meisterdetektiv. Wie in diesem dämlichen Song. Hey, hey, hey, ich war der goldene Reiter, doch dann fiel ich ab . Und er war gefallen, und dieser Sturz vom hohen, güldenen Ross schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.
Geräuschlos schob er die Schublade seines Schreibtischs auf und hob einen Stapel Papiere an, dann zog er ein Foto hervor, dass er darunter versteckt hatte. Es war ein Bild seiner Schwester, Charlotte. Kaum blickte er ihr ins Gesicht, da begann sie auch schon zu lächeln und in seinem Kopf mit ihm zu reden, freundlich und liebevoll, wie sie das immer tat, wenn er dieses Bild betrachtete. Und es so selten getan hatte, als sie noch am Leben war.
Also hörte er zu, und lächelte versonnen dabei, bis er bemerkte, dass sich die Sonne draußen anschickte, aufzugehen. Felix legte das Foto zurück und holte eine Whiskyflasche aus einer anderen Schublade, entkorkte sei und schnupperte an der Öffnung des Halses. Der rauchige Duft traf ihn mit solch intensiver Wucht, dass er zurückzuckte. Missmutig starrte er die halb leere Flasche an und stellte sie dann zurück. Dann tappte er in die Küche hinüber, um Kaffee zu machen. Bald würde Saskia aufstehen.