21
Alteneck. Strand
» B itte, bitte, Mami, nur noch ein bisschen!«, rief der Junge.
Femke Petersen schüttelte den Kopf, während sie lächelnd zwischen ihrem kleinen Sohn Tommy und ihrem frierenden Ehemann Dieter hin– und herblickte. Letzterer zuckte die Schultern und versuchte offensichtlich, ein Zähneklappern zu unterdrücken. Der Strandspaziergang, den sie heute in den frühen Morgenstunden unternommen hatten, war sicher ungemein gesundheitsfördernd, aber im Moment befürchtete sie, dass dieser wohl eher damit enden würde, dass sie alle mit einer dicken Erkältung im Hotelbett lagen. Außer Tommy, natürlich – und diesen kleinen Wirbelwind mit vierzig Grad Fieber ertragen zu müssen, war keine besonders anheimelnde Aussicht.
Andererseits waren sie beide froh, dass Tommy sich hier so wohlfühlte – immerhin war es das erste Mal, dass er das Meer sah. Vom Strand war er gar nicht wieder wegzubekommen, und dabei spielte es für ihn offenbar überhaupt keine Rolle, ob die Sonne schien oder Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschten. Hauptsache im Sand herumtollen, in den glibberigen Überresten der Quallen herumstochern und jede Menge Muscheln und Steine in seinen Taschen herumschleppen. Kinder.
»Ach Schatz«, sagte Femke, während sie sich vor ihren Kleinen hockte. »Wir erfrieren hier allmählich, wollen wir nicht lieber reingehen und eine schöne heiße Schokolade trinken?«
»Ja, gleich«, sagte Tommy. »Nur noch ganz kurz. Dort hinten sind ein paar echt coole Muscheln. Ich bring dir auch eine mit, Mami, eine besonders schöne.«
»Ach, Tommy, die Muscheln liegen heute Nachmittag bestimmt immer noch, da können wir doch noch einen Spaziergang machen. Vielleicht scheint dann auch wieder die Sonne.«
»Nein!«, beharrte Tommy. »Die Muscheln werden doch weggespült, oder die Möwen kommen und fressen sie auf.«
»Möwen fressen keine Muscheln, Tommy, und sieh mal, der Papa ist schon ganz durchgefroren.«
Dieter nickte zustimmend. Er hatte die dicke Wollmütze bis über die Brauen gezogen und war sichtlich gerade dabei, sich in einen Eiszapfen zu verwandeln.
»Dann bring ich dem Papa eben auch eine schöne Muschel mit, ja?«
Kopfschüttelnd begann Dieter zu grinsen und hielt eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern hoch, die er anschließend hastig wieder in seine Jackentasche stopfte.
»Na gut«, sagte Femke und erhob sich. »Aber nur fünf Minuten, dann gehen wir zurück ins Hotel. Ich schau auf die Uhr!«
»Jaaaa!«, rief Tommy und schoss wieder in Richtung Ufer davon, wo flache Wellen den Sandstrand überspülten. Am Ufer las Tommy einen Stock auf und war Sekunden später schon wieder völlig vertieft darin, mit seinem Stöckchen in irgendwelchen Algen herumzuspießen, welche das Meer an den Strand gespült hatte.
»Der wird noch ein richtiger Schatzsucher«, sagte Dieter und Femke lächelte ihn an. »Und du hast dir auch eine schöne, heiße Schokolade verdient, mein Großer«, sagte sie halb im Scherz zu ihrem durchgefrorenen Ehemann, der sich aufzuwärmen versuchte, indem er ein bisschen auf der Stelle hüpfte, offenbar ohne großen Erfolg.
»Die kannst du behalten«, sagte dieser und schenkte ihr ein Grinsen. »Mir wäre eher danach, Tommy für eine Stunde oder so im Spieleparadies abzugeben und mich mit dir ein bisschen aufzuwärmen. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein«, sagte Femke und erwiderte das schelmische Grinsen. »Keine Ahnung, was du meinst. Erklär mal!«
Dieter nahm sie von hinten in die Arme und raunte ihr ins Ohr: »Also, ich stelle mir das so vor, dass wir gemeinsam unter die Bettdecke kriechen, weißt du? Weil darunter ist es schön warm und mir ist doch so furchtbar kalt. Und da spielen wir dann Fangen, und wenn ich dich schnappe, dann …«
»Aaaaah!« Vom Ufer erscholl ein spitzer, hoher Schrei und sofort ruckten die Köpfe der Eltern synchron herum, das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Das war Tommy, der jetzt mit weit aufgerissenen Augen in ihre Richtung starrte. Das Stöckchen war aus seinen kraftlosen Händen gefallen.
Beide Eltern setzten sich in Bewegung und begannen, zu Tommy zu rennen. Ihm selbst schien es gut zu gehen, aber er deutete jetzt auf etwas, das er offenbar zwischen den Algen gefunden hatte.
»Nicht anfassen!«, rief Dieter laut und zischte dann im Rennen seiner Frau zu: »Vielleicht ein toter Fisch, oder eine Möwe oder so.«
Femke nickte, dann rannten sie weiter, bis sie Tommy erreicht hatten. Femke schloss den Jungen in ihre Arme und trug ihn von den plätschernden Wellen weg in Richtung trockener Strand, in Richtung Sicherheit.
»Da ist was …«, stammelte Tommy. »Was Ekliges, zwischen den Algen.«
»Bestimmt nur ein Fisch«, sagte Femke und strich dem Jungen beruhigend über den Rücken. »Du brauchst keine Angst zu haben, der tut dir bestimmt nichts.«
»Bring ihn weg, Femke«, sagte Dieter, der die Stelle inzwischen erreicht hatte, mit matter Stimme und als sie ihn mit fragenden Augen ansah, bemerkte sie, dass er blass geworden war, jeder Ansatz von Humor war aus seinem Gesicht gewichen, als er sie jetzt ansah, die Augen groß und irgendwie ein bisschen entrückt. »Bring ihn weg, und dann ruf die Polizei.«
»Was?«, fragte Femke perplex.
»Mach es gleich, ich bleib hier stehen, um den Fundort zu markieren. Schnell jetzt, bevor es wieder ins Meer gespült wird.«
»Aber was liegt denn da?«, fragte Femke und spürte, wie sich etwas in ihrem Magen schmerzhaft zusammenzog. Dieter schüttelte nur den Kopf, während er in Richtung des Jungen blickte, der sich nun schluchzend an seine Mutter presste.