Alteneck. Stadtpark
K
opfschüttelnd nahm Jan auf der Parkbank Platz. Den Kopf schüttelte er vor allem über die Tatsache, dass er hier – mit einem Basecap auf dem Kopf und einer zum Wetter völlig unpassenden Sonnenbrille – in einer Verkleidung erschienen war, die verdächtig nahe an der scherzhaften Empfehlung lag, die er selbst Vogel mit auf den Weg gegeben hatte – und die vermutlich nicht halb so scherzhaft gemeint gewesen war, wie das Jan noch im Labor der Kriminaltechnik geglaubt hatte.
Geistesabwesend zog er sein Messer aus der Tasche seiner Jeans. Wenn er nervös war, spielte er immer damit herum, ohne das richtig mitzukriegen. Katrin hatte ihm das Ding aus Anlass seiner letzten Beförderung geschenkt. Es war ein echtes Schweizer Jagdmesser und ganz sicher nicht billig gewesen, weshalb es Jan in großen Ehren und die ausklappbare Klinge stets rasiermesserscharf hielt. Allerdings hatten sie sich beide die nächst Beförderung damals wohl in deutlich greifbarerer Nähe vorgestellt. Doch dann war vor allem eines dazwischengekommen: Jans Loyalität zu seinem Kollegen Felix Hübler, welche Möller offenbar als eine Art offene Kriegserklärung verstanden hatte, und das war eben seine Art, darauf zu reagieren.
Arschloch.
Jan ließ den Blick schweifen und kam sich dabei weiterhin ziemlich dämlich vor. Ein leichter Wind bewegte die Baumkronen der niedrigen Jungbäume hierhin und dorthin, fegte lustlos ein paar Blätter über das Gras. Die Sonne traute sich nicht recht hinter den Wolken hervor. Jan fror und fragte sich, warum sie sich nicht im Inneren irgendeiner Kneipe ›zufällig‹ über den Weg laufen konnten, aber die Antwort darauf war einfach: Weil das in einem winzigen Städtchen wie Alteneck garantiert irgendwem auffallen und kurze Zeit später seinem Chef Möller zu Ohren kommen würde.
Und wenn Möller dahinterkam, was er hier trieb, wäre er nicht nur seinen momentanen Posten als Ermittlungsleiter ganz schnell wieder los, sondern vielleicht auch gleich seinen Dienstausweis und die Uniform. Oder, noch schlimmer, Möller behielt sich vor, diesen ernsten Dienstverstoß zunächst unter Verschluss zu halten, um ihn dann in einem geeigneten Moment wieder auszukramen und ihn gegen Jan verwenden zu können, mehrmals natürlich, zu jeder passenden Gelegenheit. Auch von derlei Spielchen Möllers hatte Jan auf dem Revier schon unter der Hand erfahren und er traute sie seinem Chef durchaus zu.
Inzwischen war ihm ziemlich klar, dass es genau diese Art von ›Führungsqualitäten‹ der Grund waren, aus dem es Möller in Rekordzeit auf den Posten des Revierleiters geschafft hatte. Vermutlich hatte der Chef gegen jeden seiner Mitarbeiter irgendeine Akte mit kleinen schmutzigen Details in seinem Schreibtisch, und es war kaum anzunehmen, dass es damit endete. Vielleicht kannte er ja auch die geheimen sexuellen Vorlieben des Bürgermeisters, die jener unter allen Umständen unter den Teppich gekehrt wissen wollte. Allein an polizeilicher Kompetenz oder gar Ermittlerfleiß konnte man den Posten seines Chefs jedenfalls nicht festmachen – auch das eine unbestreitbare Tatsache, die allerdings niemand auf dem Revier je offen aussprach, der an einer Fortsetzung seines Dienstverhältnisses interessiert war.
Ob Felix auf ähnliche Machenschaften auf dem Revier in Hamburg gestoßen war? Was das betraf, hüllte sich Jans Freund in eisiges Schweigen – nicht mal seine Frau Saskia schien zu wissen, was genau da vorgefallen war, manche munkelten etwas von übertriebener Gewalt gegenüber einem Verdächtigen, aber Genaueres schien niemand zu wissen. Eins war jedoch gewiss: Es hatte mächtig Stunk gegeben, und dann hatte man Felix unverzüglich zurück nach Alteneck versetzt, wodurch er mit knapper Not einem kompletten Rausschmiss aus dem Polizeidienst entgangen war. Bis jetzt zumindest.
»Nicht schlecht«, raunte ihm eine Stimme zu und stieß ein leises Kichern aus. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.« Ein Mann setzte sich auf die Jan abgewandte Seite der Parkbank.
»Das ist das erste und das letzte Mal, dass ich sowas für dich riskiere, Felix!«, zischte Jan zwischen zusammengepressten Zähnen zurück, während er versuchte, möglichst unauffällig auf einen Punkt am Boden zwischen seinen Füßen zu starren – und sich unsagbar lächerlich dabei vorkam. »Ich mag meinen Job nämlich. Im Gegensatz zu dir, offenbar.«
»Das tue ich auch, wie du weißt. Und, Jan, du machst das hier nicht für mich, sondern, um die Ermittlungen voranzutreiben. Also ganz in deinem eigenen Interesse. Wie man so hört, bist du ja mächtig aufgestiegen. Glückwunsch – und das meine ich ganz ehrlich.«
»Ach, lass mich doch in Ruhe.«
Sie kicherten beide ein bisschen, so leise das eben möglich war.
»Also, was gibt’s Neues aus Möllers finsterem Reich?«, wollte Felix wissen.
»Zunächst mal schöne Grüße von Vogel«, flüsterte Jan. »Er sagt, du hast dich geirrt.«
»Hm«, machte Felix.
»Würdest du dich vielleicht bemüßigt fühlen, mir zu erklären, wobei
du dich geirrt hast, Vogels Meinung nach?«
»Es ging um DNA. Ich hatte ihm welche vorbeigebracht, und ihn gebeten, sie mit der des Opfers zu vergleichen, die am Tatort gefunden wurde. Ich hatte da so einen Verdacht, um wen es sich bei unserem Mann am Baum vielleicht handeln könnte.«
»Und damit lagst du demnach also falsch.«
»Genau. Und offengestanden bin ich darüber ziemlich glücklich, ich hätte diese
Nachricht nur sehr ungern überbringen mögen.«
»Und mir magst du nicht zufällig verraten, wen du da als unser Opfer auf dem Kieker hattest?«
»Leider nein«, sagte Felix mit ehrlichem Bedauern. »Wenn ich dir das sage, ziehe ich dich in Dinge rein … na ja, deiner Karriere wäre das jedenfalls nicht gerade förderlich.«
»Spannend, Felix. Und weißt du, was ich mich gerade frage? Ich frage mich, warum ich diesen ganzen Mist überhaupt mitmache.«
»Hab ich dir doch schon gesagt, Jan. Um bei den Ermittlungen voranzukommen.«
»Na dann vielen Dank, Sherlock Holmes, dass du mich an deinen überragenden Erkenntnissen teilhaben lässt.«
»Ist nicht weiter wichtig, Jan«, wandte Felix ein. »Es hat sich doch sowieso herausgestellt, dass ich mit meiner Vermutung falsch lag.«
»Das ist es ja. Vogel hat gesagt, du lagst mit der These falsch, dass die DNA, die du ihm gegeben hast, identisch mit der des Opfers ist.«
»Ja, und?«
»Aber die DNA war durchaus am Tatort.«
»Wie bitte?«, fragte Felix und Jan konnte ihm anhören, dass ihn diese Information ehrlich überraschte. »Was soll das heißen?«
»Ja, Vogel hat diese DNA gefunden, und pikanterweise an einer sehr … speziellen Stelle.«
»Jetzt spann mich nicht so auf die Folter, Jan!«
»Diese DNA war in den Wunden des Opfers, und er vermutet, dass die von Speichelresten stammt. Die Person, deren DNA du ihm da gegeben hast, hat offenbar die Wunden des Opfers ausgeleckt.«
Dazu schwieg Felix, und das konnte Jan ihm nicht verdenken.
»Was für eine kranke Scheiße läuft hier, Felix? Und wieso hast du DNA-Proben von … ich weiß nicht, wer könnte das denn gemacht haben? Ach ja, zum Beispiel der Täter? Wie wär’s damit?«
»Das wissen wir noch gar nicht«, zischte Felix. »Und du solltest nicht so herumbrüllen, sonst hört uns noch jemand.«
Am anderen Ende des Parks war eine ältere Dame aufgetaucht, die jetzt eine Papiertüte aus ihrer Handtasche zog und begann, Brotkrumen auf den Weg vor sich zu streuen, woraufhin eine Schar Spatzen und Tauben heranschossen, als hätten sie in ihren Verstecken nur auf diesen Moment gewartet.
»Was wir vor allem nicht wissen, ist, wen du hier deckst. Wie kann es sein, dass du im Besitz der DNA eines dringend Tatverdächtigen bist und mir nicht sagen willst, wer es ist? Was geht denn bloß in deinem Kopf vor, sag mal?«
»Ich muss erst darüber nachdenken, was das bedeutet, Jan.«
»Du musst mir auf der Stelle sagen, wessen verdammte DNA das ist. Das
musst du tun, Felix.«
»Tut mir leid, das geht nicht. Und wie willst du überhaupt eine lückenlose Beweiskette herstellen? Ich bin ja nicht zufällig über diese DNA gestolpert, weißt du? Und dazu bin ich nicht mal im Dienst, und du hast das ausdrückliche Verbot, mit mir zu sprechen.«
»Die werden dich wegen Beihilfe zum Mord anklagen, wenn das rauskommt, und wegen Unterschlagung von Beweismitteln, und was weiß ich, Mensch! Hier setzt du uns beide aber mal gehörig in die Nesseln.«
Felix schwieg einen Moment, schien nachzudenken. Dann bat er: »Gib mir einen Vorsprung, ja? Nur einen Tag. Offiziell wisst ihr doch noch gar nichts von dieser DNA. Ohne mich gäbe es gar kein Beweismittel. Wie soll ich es dann unterschlagen haben?«
»Mann, bist du eigentlich bescheuert? Vogel wird das im Protokoll vermerken – immerhin ist das eine Spur auf den Täter! Und sobald er dich in die Finger bekommt, wird er darauf bestehen, zu erfahren, wessen DNA das war.«
»Wird er nicht«, sagte Felix.
»Ah, und wieso nicht?«
»Weil er dann erklären müsste, was ihn überhaupt veranlasst hat, die DNA zu untersuchen. Und da wird es kaum ausreichen, dass er sagt, dass da urplötzlich ein unbeschrifteter Beutel mit einem Kamm drin in seinem Labor aufgetaucht ist, den er – aus reiner Neugierde natürlich – mal eben mit der DNA am Tatort abgeglichen hat.«
»So
willst du das durchziehen?«, schnappte Jan. »Echt jetzt?«
Er hatte Felix immer für einen zielstrebigen Menschen gehalten, wenn es um Ermittlungen ging, aber das ging nun doch zu weit. »Du würdest Vogel tatsächlich ans Messer liefern, weil er dir einen Gefallen getan hat? Wie abgefuckt bist du eigentlich?«
Wieder schwieg Felix, bevor er schließlich sagte: »Ich will nur ein paar Stunden, bitte. Danach kann ich euch den Täter liefern, oder zumindest einen wichtigen Zeugen, aber der wird nicht auspacken, wenn ihr jetzt mit einem Sonderkommando in seine Bude stürmt.«
»Da läuft ein Kerl draußen rum, der Leuten die Zunge rausreißt, oder die Augen oder der ihnen, verdammt nochmal, die Arme abhackt. Das ist dir schon bewusst, ja?«
Doch da hatte sich Felix bereits erhoben und schlenderte auf den Ausgang des Parks zu, während Jans ungläubige Blicke ihm folgten. Er sah aus wie ein ganz normaler Spaziergänger und vermittelte mit einer unfassbaren Glaubwürdigkeit den Eindruck, die Welt sei zumindest für ihn in allerbester Ordnung.
»Du bist doch krank, Hübler«, flüsterte Jan kopfschüttelnd. »Völlig krank.«