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Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
S päter an diesem Tag saß Felix in Helenes Küche. Wie ganz normale Leute , dachte er. Bloß dass das, was zwischen uns läuft, nicht die Spur normal ist, und wir verdammt nochmal zu viel Kaffee trinken, oder ich zumindest. Sie nippt ja kaum daran. Vielleicht, weil sie – im Gegensatz zu mir – Schlaf noch für etwas Erholsames hält. Aber auch das könnte sich bald ändern.
Auf dem Weg hier her hatte er sich halbwegs erfolgreich eingeredet, er sei nur hergekommen, um ihr ein bisschen heile Welt vorzuspielen und sie über ihren Bruder zu befragen – unbeeinflusst von dem, was sich im Hintergrund zusammenbraute und unausweichlich auf ihn zurollte, angefangen von der Tatsache, dass sie ihn immer noch für einen Ermittler im Dienst hielt und vielleicht nicht einmal wusste, dass er verheiratet war – den Ring verstaute er im Dienst stets im Portemonnaie, so auch jetzt, obwohl er natürlich nicht im Dienst war. Er hatte bisher weder ihr noch Saskia gesagt, dass er beurlaubt war, und er hatte nicht vor, das jetzt nachzuholen, ganz davon abgesehen, dass ihr Bruder demnächst bei der Polizei als Hauptverdächtiger ganz oben auf der Liste stehen würde.
Und auf seiner Liste? Wie sah es da aus? Traute er Helenes Bruder zu, diese Taten begangen zu haben? Das musste er vermutlich, denn er kannte diesen Menschen nur aus zweiter Hand, hatte sich selbst überhaupt noch kein Bild von ihm machen können, doch als Polizist machte er sich da wenig Illusionen. Menschen waren zu sprichwörtlich allem fähig, wenn sich die entsprechenden Umstände ergaben.
Aber er glaubte Helene, verdammt, er vertraute ihr. Und wenn das, was sie ihm bisher erzählt hatte, auch nur halbwegs der Wahrheit entsprach, ergab ihr Bruder als Verdächtiger einfach keinen Sinn. Er mochte eine schwerwiegende psychische Störung haben und nur Gott allein mochte wissen, was ihm diese Stimmen einflüsterten, die er offenbar immer dann vernahm, wenn er keine Pillen dagegen nahm. Allein die Tatsache, dass er zu Beginn der Mordserie noch bei Helene gewohnt und demnach regelmäßig seine Medikamente genommen hatte, sprach jedoch deutlich gegen diese Theorie. Falls Helene die Wahrheit gesagt hatte, natürlich.
Und wenn nicht?
Dann bedeutete das, dass sie ihren Bruder deckte. Was vielleicht noch denkbar gewesen wäre, wenn es sich um ein Verbrechen wie Diebstahl oder vielleicht auch einen Totschlag im Affekt gehandelt hätte – aber dann hätte Ulrich wohl eher unter Kleptomanie oder einem aufbrausenden Temperament leiden müssen und nicht unter paranoider Schizophrenie.
A ngesichts der schieren Grausamkeit der Verbrechen schien es Felix undenkbar, dass ein zartes Wesen vom friedlichen Gemüt einer Helene Seeger damit auch nur das Geringste zu tun haben konnte, geschweige denn, die Polizei aktiv von dessen Aufklärung abhielt. Sie kam um vor Sorge um ihren Bruder und nicht, weil sie glaubte, er sei für die grausamen Morde verantwortlich, sondern weil inzwischen Einiges dafür sprach, dass er ein potenzielles Opfer war.
Andererseits waren da die Narben an ihren Handgelenken. Und wie sie ihn gekratzt hatte. War das ein Unfall gewesen? Stürmische Leidenschaft? Oder etwas ganz Anderes?
»Felix«, sagte Helene und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken.
»Ja?«
»Findest du, ich bin eine attraktive Frau?«
»Was?« Plötzlich musste Felix lächeln. Irgendwie hatte diese Frage so etwas Drolliges, beinahe wie ein kleines Mädchen, das sich zum ersten Mal schminkt und dann die Mama fragt, ob sie auch wirklich die hübscheste Prinzessin aller Zeiten ist. Was antwortet man bloß auf so was?
»Du bist eine schöne Frau, Helene«, antwortete Felix in neutralem Ton. »Und ich glaube, das weißt du.«
»Dann schlaf mit mir. Jetzt.« Sie sagte es nicht in einem verführerischen Ton, sah ihm dabei nicht tief in die Augen. Sie sagte es einfach nur, als ob sie über eine Tatsache wie das Wetter draußen vor dem Fenster spräche.
»Ich … ich kann nicht, Helene. Du bist wirklich sehr attraktiv und … also, daran liegt es nicht, es ist nur …«
»Es ist wegen deiner Frau, nicht wahr?«
»Ja.« Also hat sie es die ganze Zeit gewusst. Natürlich hat sie das. Sie ist schließlich keine Idiotin.
»Es ist nicht so etwas, Felix. Ich will euch nicht in die Quere kommen oder so. Ich möchte nur in deinen Armen gehalten werden, weil ich …« Sie seufzte und schlug den Blick nieder, dann flüsterte sie: »Weil ich glaube, dass ich sonst kaputt gehen muss.«
»Das ergibt nicht den geringsten Sinn, was du da erzählst«, sagte Felix. Er hatte es mit Bestimmtheit sagen wollen, aber jetzt kam es nur als ein heiseres Krächzen heraus. Sein Hals fühlte sich staubtrocken an.
»Bitte«, sagte sie ganz leise und stand auf.
Die Dunkelheit hatte inzwischen begonnen, von der kleinen Küche Besitz zu ergreifen. Das graue Regenwetter war unmerklich in die Abenddämmerung übergegangen. Ein sanftes Licht, ein trauriges Licht, das da die Konturen ihrer Schultern akzentuierte, als sie sich den Pullover über den Kopf zog. Sie hatte kleine, feste Brüste und trug keinen BH, genau wie bei ihrer ersten Begegnung. So stand sie nur wenige Zentimeter vor ihm. Ihr flacher Bauch bebte, wenn sie in kleinen Stößen ein– und ausatmete. Dann öffnete sie den Knopf ihrer Hose, raschelnd glitt der Stoff über ihre langen, glatten Beine, fiel auf dem Boden zu einem kleinen Häufchen zusammen, dann folgte ihr Slip, eine einfache, weiße Baumwollausführung. Dann war sie vollkommen nackt. Und er saß immer noch auf seinem Stuhl und schaute sich das alles an. Sie trug keinen Schmuck, keine Piercings, keine Tattoos, nur ihre milchige, blasse Haut – makellos im dämmrigen Grau, das jetzt die Küche erfüllte.
»Bitte«, sagte sie noch einmal.
Diesmal stand Felix auf, ergriff ihre Hand und ließ sich wortlos von ihr hinüber in das kleine Schlafzimmer ziehen.