Ein Keller
A
ls der Mann erwachte, war er völlig desorientiert.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier war, wie lange er geschlafen hatte oder wo er sich befand. Als er die Augen aufschlug, brach die Erkenntnis, die er in den letzten Stunden – oder waren es Tage gewesen? – schon unzählige Male gehabt hatte, mit unverminderter Grausamkeit über ihn herein.
Er war wieder in dem Bett erwacht, an das er gefesselt war. Seine Handgelenke steckten in gepolsterten Ledermanschetten, die mit massive Stahlketten verbunden waren, die irgendwo unter dem Bett außerhalb seines Sichtbereichs verschwanden. Mit den Fußgelenken war es ebenso.
Der Mann begann, ohne sich dessen so recht bewusst zu werden, leise ein Lied zu summen. Das tat er immer, wenn er nervös wurde, und manchmal half das sogar. Auch, wenn er jetzt deutlich mehr als nur nervös war, sondern aufgeregt, und zwar sehr, und das Lied dagegen überhaupt nicht half, sang er es trotzdem leise weiter:
Schlaf, Kindlein, schlaf. Der Vater hüt’ die Schaf …
Tränen begannen, über seine Wangen zu laufen.
Er versuchte inzwischen nicht mehr, seine Fesseln zu lösen oder – wie er das die ersten paar Mal probiert hatte – sich durch schiere Kraftanstrengung loszureißen. Inzwischen hatte er eingesehen, dass das nichts brachte. Auch die Stimmen
hatten das wohl eingesehen – einige hatten sich höhnisch über sein Ungeschick lustig gemacht, andere schienen mit ihm zu leiden, andere brüllten und fluchten unablässig vor Wut. Die Stimmen jammerten, ächzten, stöhnten – alle gleichzeitig in seinem armen Kopf. Sie wurden dabei immer lauter und zahlreicher. Ihr vielstimmiges Gemurmel schien von unter dem Bett zu kommen, ihre wütenden, klagenden, irren Schreie hallten von den kargen Betonwänden wider – oder zumindest kam es ihm so vor. Er wusst, dass nichts davon wirklich war, dass niemand außer ihm diese Stimmen hören konnte – aber das änderte nichts, überhaupt nichts. Nicht für ihn.
Nicht, wenn er weiter ohne seine Pillen bleiben musste.
Bisweilen war er auch in einer sitzenden Position erwacht, an einen Stuhl gefesselt, dann mit Handschellen, ebenfalls aus Stahl, aber ohne Polster. Sie schnitten ihm in die Handgelenke, wenn er daran riss, also ließ er auch das schnell wieder bleiben.
Manchmal, wenn er erwachte, fand er eine geöffnete Wasserflasche neben seinem Bett oder etwas zu Essen. Dann trank er und aß, auch wenn einige der Stimmen auf ihn einbrüllten, er solle das lassen, weil das Zeug mit Sicherheit vergiftet war und weil er sich sonst wieder einmachen würde – er konnte ja schließlich nicht einfach aufstehen, wenn er zur Toilette musste. Das stimmte natürlich, aber er hatte trotzdem getrunken, weil er so durstig war. Später hatte er sich tatsächlich eingemacht, und dabei festgestellt, dass man ihm eine Windel verpasst hatte, wie einem Kleinkind.
Da hatte er geweint.
Immer, wenn er das nächste Mal erwachte, war die Windel gewechselt und durch eine frische ausgetauscht worden. Dennoch starb er jedes Mal beinahe vor Scham, und die Stimmen sagten ihm, dass genau das der Zweck der Übung war. Ihn zu demütigen und zu quälen, und dass das erst der Anfang sei. Das alles taten sie
, weil sie
, die ihn nun endlich geschnappt hatten, nachdem sie all die Jahre hinter ihm her gewesen waren, weil sie
ihn jetzt umbringen und sich vorher an seinen Qualen und an seiner Demütigung ergötzen wollten. Weil er sie
viel zu lange ausgetrickst hatte, und das mochten sie
nämlich überhaupt nicht.
Ihm war das inzwischen egal, er trank und aß und wartete darauf, dass die Schmerzen kommen würden. Heiße, pulsierende Schmerzen, die in seinem Magen beginnen würden und sich dann explosionsartig ausbreiteten, bis sie seinen gesamten Körper in Brand gesteckt hatten und er endlich sterben durfte. Aber die Schmerzen blieben aus, und er blieb am Leben. Kein Gift also, bisher.
Stattdessen wurde er nur manchmal sehr müde, wenn er gegessen hatte, und dann schlief er dankbar ein. Sie taten ihm etwas ins Essen, damit er schlafen konnte, vermutete er, aber wenigstens schliefen dann auch die Stimmen. Manchmal hatte er Träume, aber die waren meistens furchtbar, und wenn er erwachte, schnappte er nach Luft und hatte Mühe, sich zurechtzufinden und zu kapieren, dass er sich nicht mehr in seinem Traum befand, indem er von irgendeiner Klippe stürzte oder durch sein Haus lief und in jedes Zimmer schaute und nach Helene rief, aber die war nirgends zu finden. Sie war aus seinem Leben verschwunden, wie seine Pillen verschwunden waren, und dann die ganze Welt, so schien es. Nur die Stimmen gab es noch.
»Ulrich«, sagte die Stimme, und zunächst hielt er sie für eine von den eingebildeten. Doch dann stellte er fest, dass die dazugehörige Person wirklich vorhanden war – zumindest war er sich da beinahe
sicher. »Mach den Mund auf, Ulrich.«
Die Stimme war gedämpft, als würde sie durch einen dicken Vorhang dringen. Als er seinen Kopf drehte, um ihr ins Gesicht zu schauen, fuhr er zusammen. Diesmal hatte er sich die Stimme nicht eingebildet. Sie stammte von der maskierten Gestalt in dem schwarzen Regenponcho – die sie
ihm geschickt haben mussten, herunter in den Kerker, in dem sie
ihn jetzt hielten wie ein Tier, und zuschauten, aus tausenden Kameraaugen und sich an seinem Leid weideten. Es musste so sein.
Die maskierte Gestalt war ihr
Werkzeug, denn sie
würden sich an einem wie ihm niemals selbst die Hände schmutzig machen, und die Gestalt war ein ausgesprochen williges Werkzeug. Sie schien großen Spaß an dem zu haben, was sie ihm antat, sofern sich das von jemandem sagen ließ, dessen Gesicht komplett hinter einer Gummimaske verborgen war. Doch vielleicht war das gar keine Maske
, überlegte er. Vielleicht ist das ihr wirkliches Gesicht, das sie nur hier unten zeigen kann, in diesem Raum ohne Fenster, wo niemand ist außer uns beiden, und den Stimmen. Vielleicht sehen
sie einfach so aus. Wie Insekten auf zwei Beinen.
Oder: Vielleicht war das wahre Gesicht hinter der Maske viel schlimmer.
Es war nicht das erste Mal, dass ihm die Gestalt erschienen war, aber er erschrak sich jedes Mal wieder über die riesigen, emotionslosen Glasaugen und den kurzen Rüssel, der unter der Kapuze des Regenponchos hervorlugte. Die Büschel stumpfen, blonden Haars, die unter den breiten Gummiriemen der Maske hervorquollen. Er erinnerte sich, mal einen Film gesehen zu haben, in dem Soldaten solche Masken getragen hatten, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie das getan hatten oder worum es in dem Film gegangen war.
Die Gestalt kam näher und hatte etwas in der behandschuhten Rechten, das wie ein Wattestäbchen aussah. Solche, wie man sie zum Reinigen der Ohren benutzen muss,
dachte der Mann. Einmal in der Woche, immer donnerstags. Ist heute vielleicht Donnerstag?
Er konnte es nicht sagen.
»Mund auf!«, sagte die Gestalt noch einmal, und Ulrich beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Er hatte gelernt, dass das besser war, als zu versuchen, sich den Befehlen der Gestalt zu widersetzen. Auch das hatte er anfangs probiert, und mit zusätzlichen Schmerzen dafür bezahlt. Erst hatte die Gestalt ihn mit einem Messer geschnitten und später brennende Zigaretten auf der Haut seiner nackten Arme und Oberschenkel ausgedrückt. Er hatte so laut und anhaltend gebrüllt, dass sie ihm einen alten, schmutzigen Lappen in den Mund gestopft hatte, bevor sie weitermachte. Einige der Wunden auf seinen Armen nässten jetzt, bei anderen trat manchmal eine eitrige Flüssigkeit aus. Und sie schmerzten, die ganze Zeit, aber auch das fand momentan in einem weit entlegenen Teil seines Bewusstseins statt, in einer anderen Galaxie. Wenn die Gestalt im Raum war und die Stimmen tobten und brüllten, traten alle anderen Eindrücke zurück wie die Darsteller hinter den Vorhang einer Bühne.
Die Gestalt stieß das Wattestäbchen unsanft in seine Mundhöhle und tränkte das wattierte Ende mit seinem Speichel, den sie anschließend in ein kleines Fläschchen füllte. Nachdem sie mit dieser langwierigen Prozedur fertig war, ging die maskierte Gestalt in einen Winkel des fensterlosen Raumes, den er von seiner Liegestatt aus nicht einsehen konnte und kam dann mit einem Gürtel in der einen und einer Spritze in der anderen Hand zurück.
Der Mann wusste bereits, was nun kommen würde und krampfte sich furchtsam zusammen, während er versuchte, auf das Kopfende des Bettes zurückzuweichen, aber nach ein paar Zentimetern stoppten die Ketten seine Bewegungen. Er stieß ein ängstliches Keuchen aus, das der Gestalt ein Kichern entlockte.
»Keine Angst, mein Kleiner«, sagte die Stimme. »Gleich ist es vorbei.«
Dann schlang sie den Gürtel um seinen Unterarm und riss unsanft daran, bis er ganz fest und eng saß, und die Adern in seiner Armbeuge deutlich hervortraten. Dort war seine Haut mittlerweile von unzähligen Einstichen vernarbt. Jetzt stach die unbarmherzige Nadel erneut zu, wurde ihm ohne jede Spur von Mitgefühl einfach in den Arm gerammt. Er brüllte, doch das schien die Gestalt diesmal gar nicht zu bemerken. Langsam zog sie den Stöpsel aus der Spritze, die sich daraufhin mit seinem dunklem Blut füllte.
Unablässig liefen die Tränen nun über die Wangen des Mannes, doch er hatte aufgehört zu brüllen. Während er leise schluchzte, begann die Gestalt hinter der Maske, die Melodie eines Kinderlieds vor sich hin zu summen.
Schlaf, Kindlein, schlaf …