Alteneck, Sandweg. Haus von Felix und Saskia Hübler
D
ie Antwort auf genau die Frage, wieso zur Hölle
Felix Hübler an diesem Morgen nicht an sein Telefon ging, hatte vor allem mit den Auswirkungen eines mächtigen Katers zu tun, unter dem Felix litt, seit er irgendwann gegen zehn Uhr erwacht war. Er hatte sich schleunigst ins Badezimmer begeben, um sich den gestrigen Abend noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen – während er auf Knien vor dem Klo lag und die Schüssel innig umarmte.
Zehn Minuten später fühlte er sich immer noch schwach und hatte mörderische Kopfschmerzen, aber er war aber im Großen und Ganzen der Meinung, dass es ihm – eingedenk der Umstände des Vorabends – schon wieder etwas besser ging.
Anschließend machte er sich eine große Kanne schwarzen Kaffees. An sein stummgeschaltetes Telefon verschwendete er dabei keinen einzigen Gedanken.
Gegen Elf hatte er den gesamten Kaffee sowie drei Tramadol intus, geduscht und sich die Zähne geputzt. Im Spiegel streckte sich selbst die Zunge heraus, nachdem er den ihm entgegenstarrenden Anblick mit einigem Erschrecken begutachtet hatte. Unter seinen blutunterlaufenen Augen hingen schwere Augenringe, seine Gesichtsfarbe blass zu nennen war die Untertreibung des Tages. Auch sein After Shave würde den Übelkeit erregenden Geruch von abgestandenem Alkohol vermutlich nicht ganz überdecken können, der seinem Mund bei jedem Atemzug entströmte. Er lief in den Flur und kramte dort vergeblich in den Schubladen nach einem Kaugummi, bevor er das schließlich aufgab und beschloss, einfach unterwegs eine Packung zu kaufen.
Bis zu diesem Moment hatte er erfolgreich jeden Gedanken an Saskia verdrängt, aber mit zunehmender Nüchternheit gelang ihm das immer schlechter. Für einen Moment spielt er mit dem Gedanken, sich im Supermarkt statt ein paar Kaugummis einfach die nächste Flasche Scotch zu kaufen, aber allein der Gedanke an den Whiskey ließ die Übelkeit erneut in seinem Magen aufflammen. Er würde sich dem Thema Saskia stellen müssen, so oder so. Ja,
dachte er. Das muss ich wohl. Aber nicht jetzt.
Mit diesem Gedanken verließ er die Wohnung, um – nach einem kleinen Abstecher in den Supermarkt – zu Helene Seeger zu fahren. Unterwegs holte er an einer Ampel sein Handy aus der Tasche und sah, dass Jan Lange mehrmals versucht hatte, ihn anzurufen. Achselzuckend drückte er die Notification weg. Er würde Jan später zurückrufen, vielleicht. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun.
»Hi«, sagte Helene, als er eine halbe Stunde später vor ihrer Haustür stand, und sie ihm öffnete. »Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen. Oder mehrere.«
Er nickte, dann trat er ein. Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, unsicher, wie sie sich verhalten sollten, dann stellte sich Helene auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Er erwiderte ihn, aber nur kurz – in der Hoffnung, dass sie den Alkohol in seinem Atem dann vielleicht nicht riechen würde, doch offenbar hatte er sich diese Sorgen ganz umsonst gemacht. Sie drängte sich an ihn, ihre Zungenspitze leckte über seine Lippen und ihr Kuss wurde leidenschaftlicher, fordernder, bis Felix sie an den Oberarmen packte und sanft von sich wegschob.
»Was ist?«, fragte Helene und sah aus ruhigen, großen Augen zu ihm hoch. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein«, beeilte sich Felix zu sagen. »Es ist nur, ich … lass es uns etwas langsamer angehen, okay?« Aber warum eigentlich?,
meldete sich eine hämische Stimme in seinem Kopf. Saskia ist doch schon fort, was hast du da jetzt noch zu verlieren?
Sie nickte. »Wie du willst«, sagte sie dann und gab sich keine Mühe, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen.
»Tut mir leid«, sagte Felix. »Aber ich bin gerade nicht so recht in Stimmung. Ach, verdammt, ich überlege die ganze Zeit, ob ich … Moment!« Das stumm geschaltete Telefon in seiner Tasche hatte zu vibrieren begonnen, er zog es hervor und sah, dass es wieder Jan war, der ihn zu erreichen versuchte. Ja, doch
, dachte er, sobald ich hier fertig bin. Gib mir wenigstens noch diese paar Minuten.
Dann drückte er den Anruf weg.
»Und warum bist du dann hier?«, wollte Helene wissen.
»Es geht noch mal um deinen Bruder, Helene«, sagte Felix. »Kann ich mir wohl mal sein Zimmer ansehen?«
Sie musterte ihn skeptisch. »Was? Wieso denn, was soll das plötzlich, Felix? Bist du wirklich nur hergekommen, um …?«
»Im Moment ja, Helene«, sagte Felix mit Bestimmtheit. »Ich möchte deinen Bruder genauso sehr finden wie du, und daher hat das jetzt erstmal oberste Priorität.«
Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Ich weiß nicht, was da plötzlich in dich gefahren ist, Felix. Aber bitte sehr, dann zeige ich dir jetzt sein Zimmer. Es ist unten.«
»Unten?«, fragte Felix erstaunt.
»Im Keller. Er mochte … er mag es da. Wenig Licht, weil der Raum nur ganz schmale Fenster hat, und die hat er alle abgedichtet. Er mag lieber das Licht, das von den Lampen kommt. Er findet das beruhigend. Sonnenlicht erinnert ihn daran, dass … ich weiß nicht genau.« Sie warf Felix einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht erinnert es ihn zu sehr daran, dass es da draußen jede Menge Menschen gibt, für die er nichts als ein Gestörter ist.«
Ja
, dachte Felix. Aber was ist, wenn diese Menschen tatsächlich Recht haben? Und falls dem so ist, wie viel weißt du davon, Helene? Wie viel verbirgst du vor mir? Was bist bereit zu tolerieren, weil Ulrich dein Bruder ist?
Inzwischen hatte Helene eine schmale Tür unter der Treppe im Flur geöffnet. Gemeinsam stiegen sie in das Kellergeschoss hinab, wo sie einem kurzen Gang bis zur Tür an dessen Ende folgten.
»Hier unten lebt Ulrich freiwillig
?«, fragte Felix ungläubig. »In diesem – Entschuldige, aber – in diesem Loch
?«
»Ja«, sagte Helene. »Er fühlt sich hier sicher. Er sagt, die Stimmen finden ihn hier unten nicht. Deswegen muss die Tür auch zu jeder Tages- und Nachtzeit verschlossen sein, siehst du? Er will das so.«
Helene klinkte an der verschlossenen Tür, um zu demonstrieren, was sie meinte, dann zog sie einen Schlüsselbund aus der Tasche. Mit einem der daran befindlichen Schlüssel schloss sie auf, dann öffnete sie die Tür und griff um die Ecke an die Wand des stockdunklen Zimmers, um die elektrische Beleuchtung anzuschalten. Daraufhin flammten unzählige Salzkristalllampen auf, die den Raum in ein beruhigendes, bernsteinfarbenes Licht tauchten.
»Wow«, sagte Felix.
Der Raum selbst war recht karg eingerichtet, das Mobiliar bestand im Wesentlichen aus einem Bett, einem großen Kleiderschrank (Felix fragte sich, wie sie den die schmale Treppe hinab hier reinbekommen hatten) und einem Schreibtisch. Davor stand ein Bürostuhl mit einem knallbunten Sitzbezug, der gut in ein Kinderzimmer gepasst hätte. Das einzige, was diesen Raum ansonsten von einer Gefängniszelle unterschied, waren das schummrige Licht der Salzkristalllampen und die Tatsache, dass jeder Quadratzentimeter der Wände mit bunt gebatikten Tüchern behängt war.
»Das sieht ja aus wie in einer Kifferbude, überall diese Vorhänge an den Wänden«, sagte Felix leise.
Helene schien seine Bemerkung nicht besonders geistreich zu finden. »Ulrich hat die überall aufgehängt, weil er glaubt, dass die Stimmen, die er hört, sonst durch die Wände zu ihm kommen könnten.«
»Scheiße«, keuchte Felix. »Das ist verdammt gruselig, wie du das so erzählst. Durch die Wände!«
»Ja«, sagte Helene. »Und jetzt stell dir mal vor, wie das für ihn
sein muss. Er weiß zwar, dass er sich die Stimmen nur einbildet, und wenn er seine Medikamente nimmt, ist er auch bereit, das zu akzeptieren. Seine Krankheit als solche zu begreifen und nicht als die Norm, als Alltag, als real
. Wenn er die Pillen aber nicht nimmt …«
Sie musste den Satz nicht beenden.
»Können wir wieder rauf, Felix?«, fragte sie nach ein paar Sekunden, in denen sich Felix schweigend umgesehen hatte. »Ich mag nicht hier unten sein, Felix. Nicht, während Ulrich irgendwo da draußen umherirrt. Allein.«
»Okay«, sagte Felix. »Fürs Erste genügt mir das auch. Mannomann. Lass uns wieder nach oben gehen. Und dann nehme ich vielleicht doch einen Kaffee.«