30
Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
» W as sollte das mit dem Zimmer eben, Felix?«, fragte Helene, nachdem sie ihm und sich selbst jeweils eine große Tasse voll dampfenden Kaffees hingestellt hatte. »Du bist doch wohl nicht extra hergefahren, um einen Blick in Ulrichs Zimmer werfen zu können?«
»Nein, Helene.«
»Also, weshalb dann?«
»Ich hatte dir doch von der letzten Leiche erzählt, die wir gefunden haben. Dem Mann ohne Arme, den wir an einem Baum …«
»Felix, bitte.«
»Entschuldige. Die Details sind ohnehin nicht wichtig. Aber als ich davon erfahren habe, glaubte ich, dass es vielleicht Ulrich sein könnte, weil wir das Opfer aufgrund der vielen Verletzungen nicht identifizieren konnten und Ulrich durch seinen … na ja, durch seinen geistigen Zustand mir prädestiniert schien, um in das Beuteschema das Mörders passen zu können.«
»Was?«, fragte Helene atemlos und starrte ihn aus entsetzen Augen an.
»Inzwischen wissen wir, dass der Tote am Baum nicht Ulrich ist.«
»Aber das ist gut, oder?«
»Kommt drauf an, Helene.«
»Wie meinst du das?« Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken.
»Zum einen«, sagte Felix und starrte dann wieder in die Kaffeetasse, während er die Stimme senkte. »wissen wir zwar, dass der Tote nicht dein Bruder ist, aber wer es ist, wissen wir bislang leider ebenso wenig. Und zum Anderen …«
»Moment, Felix«, unterbrach ihn Helene. »Woher wisst ihr das eigentlich so genau? Also, dass es sich nicht um Ulrich handelt. Du sagtest doch, dass die … die Verstümmelungen so schrecklich waren, dass man den Mann unmöglich identifizieren kann.«
»Als ich dich damals gebeten habe, mir die Liste von Ulrichs Medikation zusammenstellen, du erinnerst dich?«
»Ja, natürlich.«
»Da habe ich dich doch auch gebeten, die Toilette benutzen zu dürfen.«
»Aber das hast du nicht«, sagte sie mit matter Stimme und senkte den Kopf.
»Nein, tut mir leid, das war nur eine Ausrede. Stattdessen habe ich den Schrank über dem Waschbecken geöffnet und einen Kamm mitgenommen, an dem sich Haare von Ulrich befanden.«
»Wie bitte?«, fragte Helene fassungslos.
»Ich schwöre, ich habe das nur gemacht, um die DNA der Haare mit denen des Opfers abzugleichen. Ich wollte einfach auf schnellstem Wege herausfinden, ob es dein Bruder ist. Diese Ungewissheit, das konnte ich dir einfach nicht länger antun, verstehst du? Deshalb habe ich den Kamm mitgenommen.«
»Ich verstehe«, sagte Helene in eisigem Ton. »Und dann?«
Felix starrte in den Kaffee, als ob darin die Antwort auf Helenes Frage herumschwimmen würde. Schließlich hob er den Blick und sah Helene direkt in die Augen. »Sie haben Ulrichs DNA am Tatort gefunden, Helene. Aber es war nicht die DNA des Opfers.«
»Was willst du damit sagen, Felix?«
»Sie war in den Wunden des Opfers. Vermutlich stammt sie von seinem Speichel.«
Helene starrte Felix an, als sähe sie in ihm einen Geist. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, auf keinen Fall. Das ist unmöglich, völlig ausgeschlossen, dass Ulrich damit irgendwas zu tun hat. Das … das ist unmöglich! «
»Die DNA-Spuren besagen leider etwas Anderes, Helene«, sagte Felix vorsichtig.
»Nein!«, explodierte sie. »Ulrich ist das Opfer hier, irgendein Irrer hat ihn sich geschnappt, und ihr sitzt nur auf eurem Arsch herum und unternehmt gar nichts. Und dann kommst du her, und behauptest, er wäre … er würde … er hätte all diese Menschen … getötet!«
Sie brach zusammen.
Es war, als wäre sie eine Marionette, der man alle Schnüre durchgeschnitten hatte, die sie mit der Hand des Puppenspielers verbunden hatten – sie sackte einfach auf ihrem Stuhl zusammen. Felix stand hastig auf, ging um den Tisch herum, und versuchte, einen Arm um sie zu legen.
»Sie werden seinen Geisteszustand in Betracht ziehen, Helene«, versuchte Felix sie zu beruhigen. »Er ist krank und das wir dein milderndes Strafmaß …«
Sie stieß seine Hand fort, dann schlug sie nach ihm. Erwischte ihn am Oberarm, schlug noch einmal zu, mit voller Wucht, und ausgefahrenen Fingernägeln. Wie Krallen.
»Helene!«, rief Felix. »Beruhige dich doch! Du musst mir sagen, wo Ulrich ist, wenn du es weißt. Bevor er weitermachen kann – du hast doch selbst gesagt, dass er ohne seine Medikamente nicht weiß, was er tut und …«
»Raus!«, schrie Helene mit überschnappender Stimme. »Verschwinde auf der Stelle aus meinem Haus! Und komm bloß nicht wieder, du Arschlosch! Nie wieder!«
Also drehte Felix sich um und ging aus der Küche. Als er die Wohnungstür erreicht hatte, blieb er kurz stehen und drehte sich noch einmal um. Helene war ihm nicht in den Flur gefolgt. Gut , dachte Felix. Es ist besser so.