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Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Pkw Felix Hübler
N achdem er das Haus von Helene Seeger verlassen hatte, lief Felix zu seinem Wagen, den er direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatte. Dort, wo ihn Helene gut sehen konnte, für den Fall, dass sie seinen Abgang vom Küchenfenster aus verfolgte. Felix drehte sich nicht um. Er würdigte seine Umgebung keines Blicks, als er den Wagen öffnete, einstieg und den Motor anließ. Dann fuhr er davon.
Allerdings nur, um ein paar Häuser weiter in eine Nebenstraße einzubiegen und den Wagen dort zu parken. Dann stieg er aus und lief einen weiten Bogen, der ihn schließlich in ein kleines Wäldchen führte. Dort schlug er sich querfeldein durch das Unterholz, bis er kurze Zeit später das Grundstück erreichte, das Helenes Haus direkt gegenüberlag und vor dem er vorhin so demonstrativ seinen Wagen geparkt hatte. Die heruntergekommene Villa, zu der dieses Grundstück gehörte, stand seit einiger Zeit leer, die Rasenfläche war im Laufe der Zeit völlig verwildert und jetzt nahezu komplett zugewachsen.
Felix überwand einen morschen Holzzaun, um auf das Gelände zu kommen, dann schlich er geduckt zu einem Gebüsch in der Nähe der ausladenden Veranda der verfallenen Villa. Er lugte zwischen den Zweigen hervor und schaute zu Helenes riedgedecktem Häuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber.
So würde es funktionieren; er konnte Helenes Haus im Auge behalten, ohne selbst gesehen zu werden. Helenes Haus hatte natürlich auch eine Hintertür, aber die führte lediglich in den Garten, von wo aus man nur weiterkam, indem man eine schulterhohe Buchsbaumhecke überwand – für Helene gab es jedoch keinen Grund, das Grundstück auf diese Weise zu verlassen, da sie ja annehmen musste, Felix sei längst über alle Berge. Schließlich hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie er fortgefahren war.
Nachdem er ein paar Minuten so gesessen hatte, zog er einen Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts, den er vorhin im Handschuhfach des Autos gefunden und sich wohlweislich eingesteckt hatte. Nach einem Schluck spuckte er den Inhalt neben sich ins Gras und steckte den Flachmann wieder weg. Der Alkohol, irgendein billiger Cognac, schmeckte furchtbar, was vermutlich hauptsächlich auf sein gestriges Trinkergelage zurückzuführen war. Egal, er würde es notfalls später noch einmal probieren. In jedem Fall eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben.
Eine Stunde später saß er immer noch hinter der Veranda der baufälligen Villa und sah zum Haus von Helene Seeger hinüber. Inzwischen hatte er auf der Veranda einen Holzklotz entdeckt und diesen zu einem provisorischen Sitz umfunktioniert. Er bedauerte, dass er vergessen hatte, ein Kissen oder wenigstens eine Decke aus dem Auto mitzunehmen. Vermutlich würde er heute Abend überall am Hintern blaue Flecken haben und komplett durchgefroren sein, aber es war immerhin angenehmer, als im feuchten Gras zu hocken. Drüben in Helene Seegers Haus waren die Lichter in der Küche bisher ein Mal an- und ein paar Minuten später wieder ausgegangen, vermutlich hatte sie sich einen neuen Kaffee aufgesetzt. Dann war für eine weitere halbe Stunde absolut nichts passiert.
Jetzt leuchtete die Lampe im Flur auf – Felix konnte es durch den länglichen Fenstereinsatz in der Haustür sehen, kurz darauf öffnete sich die Haustür und Helene Seeger trat heraus ins Freie, ging dann zu ihrem Wagen, einem flaschengrünen VW Polo, stieg ein und fuhr aus der Einfahrt.
Genau das war es, worauf Felix insgeheim gehofft hatte – und der eigentlich Grund, warum er sich hier so erbärmlich den Arsch abfror – aber in jenem Moment wurde ihm klar, dass er einen Anfängerfehler gemacht hatte. Sie hätten mindestens zu zweit sein müssen. Einer, der sich im Haus umsah, während Helene fort war, und einer, der ihr folgte und den im Haus zurückgebliebenen notfalls warnen konnte, falls sie zurückkehrte.
Doch diesen Luxus besaß er jetzt nicht. Er war allein hier, und er hätte auch gar nicht gewusst, wenn er in dieser Lage um Unterstützung dabei hätte bitten sollen, ihn zu einem solchen Kamikazeunternehmen zu begleiten. Wenn Helene Seeger mitbekam, was er hier trieb, würde er im Revier endgültig seinen Hut nehmen können – falls Möllers Beurlaubung nicht ohnehin schon darauf hinauslief – und sich außerdem auf eine saftige Dienstaufsichtsbeschwerde gefasst machen können. Sie konnte ihn vermutlich sogar wegen Belästigung anzeigen, immerhin war er ein Beamter. Oder, schlimmer noch, er hatte sich unberechtigterweise als einer ausgegeben, obwohl er im Moment aller Amtsprivilegien enthoben war.
Aber ich muss mich einfach in diesem Haus umsehen , dachte Felix, ich muss noch einmal in diesen Keller, ohne dass Helene mir dabei bei jedem Schritt über die Schulter schaut. Wohin auch immer sie gerade gefahren ist, ich habe keine Ahnung, wann sie zurückkommen wird – und mit wem. Aber das hier ist meine einzige Chance.
Also richtete er sich auf, huschte durch den verwilderten Garten, den er mit einem weiteren Sprung über den niedrigen Holzzaun verließ. Dann tat er dasselbe mit dem hüfthohen Gartenzaun vor Helenes Haus, schlich bis zur Haustür und drückte sie auf. Das funktionierte, weil er, als er gegangen war, von Helene unbemerkt ein Stück Kaugummipapier aus der Tasche gezogen und damit den Schließriegel verklemmt hatte. Für den Fall, dass Helene ihre Haustür abgeschlossen hätte, wäre sein Plan nicht aufgegangen, aber er hatte offenbar Glück. Er schlüpfte ins Haus, entfernte das Kaugummipapier, knüllte es zusammen und steckte es wieder in seine Tasche. Dann war er im Haus, und allein. Zumindest vermutete er das.