Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
I
m Flur verharrte Felix.
Ein unbestimmtes Gefühl hatte ihn zurück zum Haus gezogen. Das Gefühl, dass er nur hier der Lösung des Falls näherkommen konnte. Hatte das vielleicht an Helene gelegen, war sie anders gewesen als sonst? Natürlich war sie das, spätestens, als er ihr gesagt hatte, dass er ihren Bruder für den Hauptverdächtigen im ›Verstümmler‹-Mordfall hielt. Wie hättest du wohl auf eine solche Nachricht reagiert?
, fragte die garstige Stimme.
Ja, aber da war noch etwas Anderes. Etwas, das mit diesem Kellerraum zusammenhing, in dem Ulrich lebte. Etwas war seltsam an diesem Raum gewesen, über das zu erwartende Maß seltsam.
Und wenn sie nun doch mit drinsteckt? Wenn sie schon längst weiß, was du bisher nur vermutet hast? Wenn sie es einfach nicht fertigbringt, ihren Bruder auszuliefern und ihn deshalb vor der Polizei versteckt?
Felix musste wieder an ihre Worte denken: ›Ulrich würde nie allein nach draußen gehen. Wenn wir Spaziergänge unternehmen, dann nur gemeinsam. Sonst hat er nämlich Angst, dass die Stimmen wiederkommen.‹
Aber sie war allein mit dem Auto fortgefahren. Vielleicht zu dem Ort, an dem sie ihn versteckt hielt. Immerhin eine denkbare Möglichkeit.
Vielleicht auch nur, um Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen, wer weiß das schon? Nein
, dachte Felix. Nicht an einem anderen Ort. Wenn sie ihn versteckt hält und er sich wirklich so sehr vor der Außenwelt fürchtet, wie sie sagt, dann muss er noch hier im Haus sein, in seiner gewohnten Umgebung. Abseits des Tageslichts. Im Keller.
Er mag lieber das Licht, das von den Lampen kommt,
hatte Helene gesagt. Er findet das beruhigend. Sonnenlicht erinnert ihn daran, dass es da draußen jede Menge Menschen gibt, für die er nichts als ein Gestörter ist.
Der Keller, das war es! Den sie vorhin ganz schnell wieder hatten verlassen müssen – angeblich, weil es sie so schmerzlich an die Tatsache erinnert hatte, dass ihr Bruder nicht hier war. Was, wenn aber genau das der springende Punkt war? Wenn sie ihn dort versteckte, wo man zu allerletzt nach ihm suchen würde? Wenn er das Haus in Wahrheit nie verlassen hat – außer freilich, um seine abscheulichen Verbrechen zu begehen?
Felix zog die Schuhe aus und schlich auf Strümpfen weiter bis zu der kleinen Tür im Absatz unter der Treppe, dann zog er sie langsam auf. Sie knarrte leise, und er verharrte in seiner Bewegung. Nichts. Dennoch wartete er ein paar Minuten, dann zog er sie vollends auf und schlich vorsichtig die Treppe nach unten.
Unten angekommen, lief er den kurzen Gang bis zur Kellertür und öffnete sie einen Spalt breit. Lugte hinein – nichts als Finsternis. Felix knipste das Licht an, wie es vorhin Helene getan hatte, und die Salzkristalllampen flammten erneut auf. Das Zimmer war leer. Soweit wenig überraschend.
Aber dennoch gibt es hier unten etwas, von dem sie nicht wollte, dass ich es sehe,
dachte Felix. Ich bin mir sicher, dass es so ist.
Er ging zum Schreibtisch, zog ein paar Schubfächer auf. Jedes einzelne war mit einem wilden Durcheinander von allerlei Krimskrams angefüllt: Malstifte, leere Streichholzschachteln (in einer davon eine vertrocknete Kakerlake), ein Stapel mit unleserlicher Schrift vollgekritzelten Papiers, ein Fotoalbum, das Ulrich, Helene und vermutlich ihre Eltern zeigten. Felix öffnete den Kleiderschrank, aber auch daraus sprang ihm kein Verrückter mit einer Axt entgegen. Alles, was er darin fand, waren Ulrichs Klamotten. Die von einem recht eigenen Geschmack zeugten – Ulrich schien Karohemden zu bevorzugen, wie sie in den Neunzigern in Mode gewesen waren –, aber davon abgesehen war auch hier alles genau so, wie man es erwartet hätte.
Felix stellte sich in die Mitte des Raumes und sah sich um, während er sich langsam um seine eigene Achse drehte und dabei jedes Detail des Raumes eingehend betrachtete, es förmlich in sich einsog. Nach der zweiten Umdrehung fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Die Batiktücher an den Wänden.
Zielstrebig ging er zum nächsten der hippiemäßig bunten Vorhänge und drückte dagegen. Seine Finger betasteten lediglich die Wand dahinter. Nichts als kalter Beton. Also machte er mit dem nächsten Wandbehang weiter, und dann mit dem nächsten. Er klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers jede Wand komplett ab. Überall erzeugte er damit das gleiche Geräusch, außer bei der letzten, der Eingangstür direkt gegenüberliegenden Wand. Diese klang nicht nach Ziegel, Mörtel und Stein, sondern metallisch.
Felix suchte und fand die Naht, welche die Tücher miteinander verband, folgte ihr mit dem Finger, bis er das Ende des Vorhangs gefunden hatte, dann riss er ihn einfach auseinander und schob ihn zur Seite. Zum Vorschein kam eine Tür aus massivem Stahl, von der jemand die Klinke an der Außenseite entfernt hatte.
Oh shit,
dachte Felix, und dann: Natürlich. Die Klinke hätte ja hervorgestanden und so auch einem flüchtigen Betrachter verraten, dass sich etwas hinter diesem Vorhang verbirgt.
Felix drückte gegen die Tür, obwohl er nicht erwartete, dass sie sich davon öffnen ließ. So würde er nicht weiterkommen.
Er zog sein Handy hervor und wählte die Nummer von Jan Lange. Die Verbindung kam zustande und er hörte das Tuten des Freizeichens – einmal, zweimal –, dann ging die Mailbox dran.
Verdammt.
Felix begann gerade, Jan seine Situation zu erläutern, als er hinter sich plötzlich das Geräusch hastig ausgestoßenen Atems vernahm. Felix fuhr herum, doch bevor er die Bewegung noch beenden konnte, versank die Welt um ihn herum in Schwärze. Das letzte, das er bewusst wahrnahm, war das Geräusch seines auf dem Teppich aufschlagenden Telefons. Dann nur noch Stille und Dunkelheit.