34
Ein Keller
S askia kam langsam zu sich. Als sie zum ersten Mal versuchte, die Augen zu öffnen, stach ihr das Licht unsagbar grell in die Augen, also presste sie die Lider hastig wieder aufeinander. Ein krächzendes Stöhnen drang über ihre Lippen: »Wasser!«
Ihre Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet.
Jemand führte den Hals einer Plastikflasche an ihre Lippen und sie begann zu trinken, ohne sich darum zu kümmern, was in der Flasche sein mochte. Es stellte sich als Wasser heraus, doch die Flasche wurde zu steil gehalten, sodass sie mehr in den Mund bekam, als sie schlucken konnte. Prustend begann sie das Wasser auszuhusten, die Flasche wurde zurückgezogen, Wasser lief ihr über das Kinn.
Dann versuchte sie nochmals, die Augen zu öffnen. Vorsichtiger diesmal, und daher gelang es besser. Sie blinzelte, dann öffnete sie sie weiter. Das Licht war tatsächlich gar nicht so grell, wie sie anfangs geglaubt hatte. Es war sogar angenehm, erinnerte ein bisschen an die gedimmte Beleuchtung eines noblen Restaurants. Das Licht tauchte den Raum in einen sanften, goldenen Schimmer und dann sah Saskia die beiden Salzkristalllampen auf dem Regal ihr gegenüber stehen, welche die einzige Lichtquelle in dem kleinen Raum zu sein schienen. Dieser war ansonsten karg eingerichtet und befand sich allem Anschein nach unter der Erde, da kein natürliches Licht in ihn drang. Da waren nur die beiden Lichtkreise der Salzlampen, die ein Regal beleuchteten, auf dem einige Einmachgläser, einige Kästchen in verschiedenen Größen und irgendwelche Papierstapel lagen. Die schmucklosen Betonwände waren weiß gekalkt, an vielen Stellen war die Farbe bereits wieder abgeblättert und lag in kleinen Häufchen auf dem Fußboden vor der Wand.
»Wo … wo bin ich?«, ächzte Saskia mit schwacher Stimme.
»Psssscht!«, sagte eine seltsam gedämpfte Stimme hinter ihr, eine Hand legte sich auf ihre spröden Lippen. Saskia versuchte, sich umzudrehen, um herauszufinden, zu wem diese Stimme gehörte, aber das ging nicht. Ihr Bewegungsradius war eingeschränkt, offenbar war sie an den Stuhl gefesselt, auf dem sie saß.
Mit unendlich müden Augen, die immer wieder drohten, zuzufallen, schaute sie an sich herab und stellte fest, dass ihre Unterarme, die Beine und ihr Oberkörper mit mehreren Streifen eines breiten Klebebands umschlungen waren, das sie fest mit ihrer Sitzgelegenheit verbanden, bei der es sich offenbar um einen Rollstuhl handelte. Ihre Füße waren an die ausklappbaren Fußstützen gefesselt.
»Du hast ihn verlassen, weißt du das nicht?«, sagte die gedämpfte Stimme hinter ihr, während Saskia die Augen für einen Moment schloss. Die Bewegungen hatten sie angestrengt. Viel mehr angestrengt, als sie das hätten tun sollen. Hat man mir ein Schlafmittel verabreicht? , dachte sie. Und wieso kann ich mich an nichts erinnern, seit … Ja, seit wann eigentlich? Sie war von der Arbeit heimgekommen, hatte sich mit dem Handy auf die Couch gesetzt, den Fernseher angeschaltet und mit Tobias zu texten begonnen. Wobei sich das ›Texten‹ seinerseits zwar mittlerweile hauptsächlich auf das Senden irgendwelcher Porno- und Penisbildchen beschränkte, die er mit so geistreichen Kommentaren wie: ›Du und ich am Samstag?‹ untermalte, aber geil war das ja trotzdem irgendwie und …
Sie zwang ihre Gedanken zurück zu dem, was unmittelbar danach passiert sein musste. Ein Lappen, der sich auf ihren Mund und ihre Nase gelegt hatte, ein scharfer, chemischer Gestank, den sie im Reflex ihres ersten Schreckens tief eingeatmet hatte und dann … nichts mehr.
Stille, Dunkelheit.
»Wen …«, presste Saskia hervor, »Wen soll ich verlassen haben?«
Hinter ihr ertönte ein kratzendes Geräusch, das sie zunächst nicht zuordnen konnte, doch dann begriff sie, dass da etwas abgeschraubt wurde. Danach war die Stimme nicht mehr so gedämpft und kaum verständlich wie zuvor, sie klang aber immer noch so, als spräche die Person durch einen Trichter oder eine Papprolle zu ihr.
»Du hast deinen Mann Felix verlassen, oder zumindest glaubt er das. Ich war so frei, ihm einen Zettel zu schreiben. Ich glaube, ich habe deine Handschrift überzeugend genug hinbekommen – und falls nicht, wird jeder verstehen, dass du in dieser Situation ein bisschen gezittert hast. Ich meine, die Aufregung und das alles. Immerhin hattest du gerade herausbekommen, dass er mit eine Anderen schläft. Eine, die ihm das gibt, was du ihm nie geben können wirst.«
»Was?«, fragte Saskia völlig perplex. Sie begriff überhaupt nichts. »Wer sind Sie? Welche Andere, was … wovon reden Sie?«
»Das spielt im Moment keine Rolle«, flüsterte die Stimme, die jetzt ganz nah an ihr Ohr herangekommen war. In dem, was sie sagte, schwang ein schnarrendes Geräusch mit, so, als sei irgendetwas mit ihren Stimmbändern nicht in Ordnung. Die Person schien sich jedoch prächtig über das zu amüsieren, was sie da erzählte. Bei diesem Flüstern war es Saskia unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Stimme zu einer weiblichen oder männlichen Person gehörte. Es klang, als hätte sie Mühe, ein Kichern zu unterdrücken, während sie leise weitersprach. »Aber das, was du getan hast, spielt sehr wohl eine Rolle. Herumgevögelt hast du hinter seinem Rücken – wie lange eigentlich schon? Wie lange brichst du schon dein Ehegelübde, du Nutte? Den Schwur, ihn zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod … na, du weißt ja selbst, wie das weitergeht.«
Jetzt schossen Saskia die Tränen in die Augen.
»Bitte«, bettelte sie. »Ich …«
»Ja, du. Du, du, du – das ist alles, was dich interessiert, nicht wahr? Du kommst immer an erster Stelle, der Rest ist zweitrangig. Ich nehme also an, du hattest deinen Spaß. Schön für dich, aber jetzt werde ich gleich meinen Spaß haben, und zwar mit dir.«
»Bitte, tun Sie mir nicht weh. Ich habe Geld, ich meine … ich kann welches auftreiben, ich …« Ihre Stimme war nicht mehr als ein verzweifeltes Schluchzen. »Ich tue alles, nur tun Sie mir nicht weh, bitte!«
»Das kann ich dir leider nicht versprechen«, wisperte die Stimme fröhlich in ihr Ohr. »Ich fürchte sogar, ich werde dir sehr wehtun müssen.«
Saskia wollte schreien, doch in diesem Moment wurde ihr ein Lappen in den Mund gestopft. Sie schmeckte den schmutzigen Stoff und etwas Öliges, wollte ihn instinktiv wieder ausspucken, doch eine starke Hand drückte ihren Unterkiefer nach oben, dann wurde ihr ein breiter Streifen Klebeband auf den Mund geklebt. Verzweifelt sog sie die Luft durch die Nase ein. Ihre Nasenscheidewand stand von Geburt an etwas schief, sodass es ihr schwerfiel, allein durch die Nase zu atmen. Panik stieg in ihr hoch, als sie die Luft in hastigen Zügen einsaugte. Würde sie so überhaupt genug Luft bekommen, um nicht zu ersticken?
»So«, wisperte die Stimme höhnisch. »Das ist besser, nicht wahr?«
Dann trat die Gestalt um den Rollstuhl herum. Saskia fuhr erschrocken zusammen, denn im ersten Moment glaubte sie, ein Monster vor sich zu haben – ein riesiges Insekt mit starr blickenden Augen in einem nachtschwarzen Gesicht, aus dessen Mitte ein Rüssel statt eines Mundes oder einer Nase entsprang – bis sie einen Moment später begriff, dass die Gestalt lediglich eine Gasmaske auf dem Kopf trug. Das,w as sie auf den ersten Blick für den Chitinpanzer der Kreatur gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Regenponcho aus schwarzem Gummi. An den Stellen zwischen den breiten Gummiriemen, welche die Maske am Platz hielten, sprießten ein Paar Büschel brüchigen, blonden Haares hervor, das in alle Richtungen abstand.
»Hab keine Angst, Saskia! Gleich, wenn ich mit dir fertig bin, komme ich zum letzten Baustein in meinem kleinen Puzzle. Dem Baustein, der alles vervollständigen wird und dann werden hoffentlich auch diese dämlichen Bullen begreifen, worum es hier schon die ganze Zeit in Wahrheit geht.«
Saskia starrte aus weit aufgerissenen Augen, aus denen nun ein steter Strom von Tränen rann, in die Maske, doch in den spiegelnden Augengläsern erkannte sie nichts als eine Reflexion ihrer eigenen Angst. Dann setzte die Gestalt die Kapuze des Regenponchos auf, sodass nun auch die riesigen, starren Augen in den Schatten versanken und nur noch der Rüssel hervorschaute.
»Du fragst dich vielleicht, was ich mit diesem Baustein meine«, sagte die Gestalt. »Und eigentlich hast du für deinen Verrat keine weiteren Antworten, sondern lediglich einen langsamen, qualvollen Tod verdient, aber aus irgendeinem Grund bin ich heute in Plauderlaune, glaube ich. Wie findest du das?«
Zur Antwort schniefte Saskia durch ihre verstopfte Nase. Die Luft, die sie bekam, schien immer weniger zu werden. Kann man ersticken, weil man zu wenig Luft beim Atmen durch die Nase bekommt?, dachte sie panisch.
»Der letzte Stein in meinem Dominospiel ist natürlich niemand Anderer als Felix, meine Liebe, aber das wirst du schon nicht mehr miterleben, fürchte ich. Er ist es, um den es sich die ganze Zeit alles gedreht hat. Aber ich verspreche dir, ich werde dafür sorgen, dass ihr beide in ein gemeinsames Grab kommt, wenn es vorbei ist. In ein Familiengrab, schließlich ist Familie das Wichtigste, das man auf dieser Welt besitzen kann, findest du nicht?«
Saskia, die kaum begreifen konnte, was sie da hörte, nickte eifrig. Von dem, was die Gestalt sagte, bekam sie nur noch Bruchstücke mit und deren Sinn entglitt ihr zusehends. Familie, irgendwas mit Familie, und einem Grab. Sie nickte noch einmal, während ihr Blick vor Tränen verschwamm.
»Ja«, sagte die Stimme hinter der Maske. »Familie und Kinder. Alles furchtbar wichtig. Vater, Mutter, Kind. Haus, Zweitwagen und ein Hund. Aber du … na ja, was man hört, hängt der Haussegen ja schon seit einiger Zeit ziemlich schief im Hause Hübler, nicht wahr?« Dann kicherte die Stimme, ein rauer, krächzender Laut ohne jede Spur von Humor. »Aber was hast du je für diese Familie getan, du Schlampe, hm? Außer ihn mit diesem Arschloch Tobias zu betrügen, du Flittchen?«
In Saskias Magen explodierte ein dumpfer Schmerz, als die maskierte Gestalt ihr ansatzlos in den Bauch boxte, und dann noch einmal. Da sie fest verschnürt auf dem Rollstuhl saß, gab es nichts, das sie dagegen unternehmen konnte – oder gegen das, das wurde ihr mit plötzlicher Panik klar, was die Gestalt ihr sonst noch antun wollte – sie war einfach völlig wehrlos. Der nächste Schlag traf sie mit voller Wucht am Brustbein und Saskia glaubte, einen Knochen knacken zu hören.
»Da ist es doch nicht verwunderlich«, sagte die Gestalt in einem so emotionslosen Ton, als zähle sie gerade die Hauptstädte der Bundesländer auf, »dass Felix sich auch woanders umschaut, wenn er so eine Nutte zur Ehefrau hat. Allerdings …«
Jetzt bekam die Stimme einen merkwürdigen Klang und eine der in dicken, schwarzen Gummihandschuhen steckenden Hände griff nach einer der blonden Haarsträhnen, die unter der Kapuze heraushingen und begann damit zu spielen, dann ließ sie das urplötzlich wieder bleiben, die Hand schoss vor und packte Saskia an der Gurgel. Begann, zuzudrücken.
Fester.
Saskia versuchte, nach Luft zu schnappen, aber natürlich ging das nicht. Da war weiterhin nur das bisschen Luft, das sie durch ihre Nase bekam. Ihr wurde schwindelig und sie sackte kraftlos in dem Rollstuhl zusammen.
»Allerdings«, setzte die Gestalt ihren Monolog fort, während sich ihr Griff um Saskias Kehle weiter verstärkte. »Allerdings ist es doch ziemlich auffällig, dass er einen ganz bestimmten Frauentyp zu haben scheint. Schlank, hübsch und vor allem mit langem, blonden Haar. So wie du und – wie du siehst – so wie auch ich. So wie übrigens auch seine Mutter. Das könnte einem zu denken geben, oder?«
Dann ließ sie Saskias Kehle urplötzlich wieder los. Diese stieß ein klägliches Röcheln aus, während die Luft wieder in ihre Lungen zu strömen begann.
»Ach, Männer«, sagte die maskierte Gestalt. »Die sind eben alle ein bisschen gestört, besonders, was die liebe Frau Mama betrifft. Das wusste schließlich auch schon Sigmund Freud, nicht wahr? Und wir Mädels dürfen es dann ausbaden, nicht?«
Sie stieß wieder ihr kränkliches Kichern aus, dann klopfte sie Saskia mit einer freundschaftlichen Geste auf die Schulter, ging wieder hinter den Rollstuhl und löste dann dessen Bremsen. Eine Frau , wurde Saskia am Rande ihres Bewusstseins klar, die Person hat sich gerade als Frau bezeichnet. Doch sie kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.
»Komm«, sagte die Gestalt im Regenponcho fröhlich, während sie den Rollstuhl zur Tür zu schieben begann, »Machen wir eine kleine Spritztour!«